Ein Abend mit Professor Johannes Reimer
L a d u s c h k i n -- „Putin wird von Zweidrittel der Länder der Welt geschätzt,“ stellte der Missiologe und Professor Johannes Reimer (Bergneustadt) bei einem Vortrag in der „Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Berlin-Lichtenberg“ am 9. Dezember fest. „Das ist weil er gerade derjenige ist, der dem Westen die Stirn geboten hat.“
In Rußland selbst sieht Reimer die Stimmung jedoch differenzierter. Nach seinem Eindruck wenden sich die Protestanten Rußlands gegen die orthodoxen Vorstellungen von Byzanz und einer ostslawischen „Russischen Welt“. Er persönlich ist ferner gegen orthodoxe Vorstellungen von einer „Symphonie“ zwischen Kirche und Staat. Obwohl der Pfingstbischof Sergei Rjachowski (Moskau) Mitglied der Öffentlichen Kammer seines Landes sei und die russische Außenpolitik unterstütze, vertritt er damit nach Meinung des Referenten nur eine kleine Minderheit von Protestanten. Reimer warf dem Kreml eine aggressive Außenpolitik vor und versicherte, russische Protestanten würden den gegenwärtigen Krieg nicht gutheißen: „Viele warten einfach ab.“
Dennoch äußerte der 1955 in der Sowjetunion geborene Aussiedler auch Verständnis für das Empfinden der Russen. „Der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) wurde die Wiege geklaut.“ Nach ihrer Lesart ist die russische Orthodoxie ursprünglich in Kiew entstanden.
Der Professor versteht das heutige Russland – sowie die Ukraine - als einen Vielvölkerstaat. Seit Februar 2022 sind etwa drei Millionen ukrainische Staatsbürger nach Russland geflohen; dagegen lebten in der Ukraine bis zum Maidan 2014 acht Millionen Menschen russischer Nationalität. In nicht wenigen, fernen Gefilden seien die ethnischen Russen eindeutig in der Minderheit. Reimer schwärmte von den jüngsten missionarischen Erfolgen unter der finno-ugrischen Ethnie der Chanten im Ölfördergebiet von Surgut, das er kürzlich besuchte. Allerdings wird über diese Entwicklungen im Westen nicht berichtet.
Er unterstrich ferner die humanitäre Hilfe, die Russen und nichtrussische „Russländer“ darbenden Ukrainern leisten. Ehemalige Muslime aus Tscherkesk (bei Pjatigorsk im Kaukasus) hätten aus lauter Liebe gegenüber ihren neuen Glaubensgenossen wiederholt humanitäre Hilfe nach Mariupol gebracht: „Sie beten um das Überleben der Ukrainer.“ Es seien auch immer wieder Russen in Russland gewesen, die schutzsuchenden Ukrainern zu einer Flucht gen Westen verholfen haben.
Die Ukrainer
Der Referent räumte dabei ein, daß eine humanitäre Hilfe in den russisch-kontrollierten Gebieten der Ukraine und der ehemaligen Ukraine von in Kiew beheimateten christlichen Instanzen nicht gewollt ist. Darum wird diese bescheidene Hilfe möglichst leise durchgeführt. Eine Kiewer Begründung lautet: „Ein Wiederaufbau lohnt sich nicht. Wir werden sowieso alles wieder zerbomben.“ Der Professor meinte hingegen: „Die russischen Protestanten verdienen unsere Dankbarkeit für das, was sie tun. Und sie tun es aus Liebe zu den Ukrainern.“
Reimer erwähnte, daß die weiterhin zahlreichen Missionare ukrainischer Herkunft in den Weiten Russland in der alten Heimat als Verräter gelten und mit Nichtbeachtung bestraft werden. Bei seiner jüngsten Fahrt nach Sibirien waren 13 der 16 protestantischen Bischöfe, denen der Referent begegnete, ukrainischer Herkunft.
Professor Reimer will unterscheiden. Unten den westukrainischen Flüchtlingen der ersten Stunde waren nicht wenige Wirtschaftsflüchtlinge (es waren aber auch Wehrpflichtige dabei – Red.). Es kamen erst später die schwertraumatisierten Überlebenden aus den Schlachten in der Ostukraine hinzu.
Der Vortragende beklagte die Widersprüche, die unter ukrainischen Flüchtlingen anzutreffen sind. Es gibt auch „große Nationalisten“, die nach Kalifornien oder Deutschland auswandert sind. Nach seiner Überzeugung ist in der kriegsgeschüttelten Ukraine die Korruption nicht überwunden. Kriegsgewinnlertum ist auch dort zu vernehmen.
Nach Johannes Reimer war es verheerend, in einem Vielvölkerland einen zentralistischen Einheitsstaat durchzudrücken. Die Praxis, Ukrainisch als einzige Landessprache zu erlauben, ließ das Empfinden der Rumänen, Tataren, Ungarn (und Russen) außen vor.
Protestanten machten bei dieser zentralistischen Politik mit. Die Mitarbeit rechtschaffender Protestanten war überall gewollt. Dafür wurde die traditionelle Staatsferne aufgegeben; man politisierte sich und entschied sich, fremden Sirenen zu folgen. Nach Reimer greift man zu kurz, wenn man die anhaltende Schweigsamkeit der russischen Protestanten auf Angst und Feigheit zurückführt: „Sie haben ein anderes Verständnis vom Evangelium.“ Sie orten die gesellschaftliche Transformationskraft im Evangelium, und nicht in der Politik.
Was ist im Westen zu tun?
Reimer ist überzeugt, daß der Protestantismus die Kirchen in der nichtwestlichen Zweidrittelwelt stärker beachten muß. Es gibt auch deshalb Bemühungen, kirchliche Büros und Filialen in Länder der Zweidrittel-Welt zu verlegen.
Christliche Organisationen im Westen sind bestebt, etwa über den Kaukasus humanitäre Fahrten in russisch-kontrollierte Gebiete zu entsenden – doch noch warten sie auf eine Genehmigung durch die russischen Behörden.
Der Professor ist davon überzeugt, daß Christen viel vehementer für den Frieden eintreten müssen. „Rote Linien“ – gemeint sind die Staatsgrenzen – sollten nicht anerkannt werden. Die Grenzen Zentralasiens u.a. sind von den Kolonialmächten willkürlich gezogen worden. In ihnen steckt deshalb eine Büchse der Pandora. Wer die historische Brille aufsetze, könnte die Krim der Türkei zusprechen.
Die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand hält Reimer für unerläßlich. Mit Rußland müsse gesprochen werden. „Es gibt keinen Frieden ohne die Russen,“ versicherte Gottfried Hain, Leiter einer EFG-Gemeinde in Guben/Neiße. „Es gibt keine schlechten Nationen,“ fügte eine russische Teilnehmerin hinzu. „Wo sind die christlichen Versöhnungszentren?“ fragte der Referent. Gefragt seien auch Zentren für die Behandlung von Trauma. „Und wo gibt es kirchliche Aufmärsche für den Frieden?“
Nicht zuletzt muß Kontakt mit den Menschen in Russland gepflegt werden. Da geht der Theologe mit gutem Beispiel voran. Obwohl er im ersten Jahr nach Ausweitung des Krieges kein Visum erhielt, hat er seitdem Russland mehrmals besucht. Reimer, der u.a. als Professor an der „Universität von Südafrika“ in Pretoria fungiert, verfügt lediglich über die deutsche Staatsbürgerschaft. Der Theologe, der nach Verfolgungen 1976 aus der UdSSR auswanderte, berichtete von einem gegenwärtig recht freundlichen Willkommen seitens der Russen, gelegentlich auch seitens der russischen Behörden.
Dieser Abend wurde vom „Landesverband Berlin-Brandenburg im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland“ im Auftrage seiner „AG Mittel- und Osteuropa“ durchgeführt.
Dr.phil. William Yoder
Laduschkin, Kaliningrader Gebiet, 16. Dezember 2023
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