Dieser Beitrag bezieht sich auf den langen Aufsatz vom 17. September 2018 unter der Rubrik Ukraine/Moldawien.
Die Menschen werden sich umstellen müssen
L a d u s c h k i n -- Seit Beginn der russischen „Operation“ in der Ukraine am 24. Februar 2022 überwältigen mich Sorge und Trauer. Eine Lawine des Hasses rollt auf jene zu, die den westlichen Standpunkt in diesem Konflikt nicht vertreten. Die Spaltung zwischen „pro-russischen“ und „pro-ukrainischen“ Christen wird tief und dauerhaft sein. Der Ausgang dieser Krise ist nur Gott bekannt.
Die moralischen Fragen türmen sich auf: Wer hat wie viel Schuld? Der Westen versichert, der Krieg habe am 24. Februar 2022 angefangen. Die russische Seite erwidert, er habe bereits 2014 begonnen. Deshalb wolle man heute keinen Bruderkrieg starten, sondern ihn beenden. Dabei tut sich das Problem der Begriffsklärung auf: Was ist eigentlich „Krieg“? Es gibt ja den „Info-Krieg“, den die russische Seite längst verloren hat. Dabei denke ich an mein Gespräch mit dem Pfingstpastor Peter Dudnik in Slawiansk/Ostukraine am 1. April 2015: „Wenn du den Schmerz der Leute siehst, dann ist die Frage nach dem Schuldigen nicht mehr so wichtig. Dann gilt nur noch die Frage: Wie kann ich dieses Leiden abstellen?“
Irpen (oder Irpin), das ukrainische Wuppertal und ein Vorort von Kiew, liegt in Schutt und Asche. Die Stadt konnte 13 protestantische Gemeinden aufweisen und hatte eine große Schar an westlichen Missionsgesellschaften angelockt. Die Ukraine bot ihnen ideale Arbeitsbedingungen - weit weg von den russischen Kommunalbürokraten bei einem völlig freien Zugang zu westlichen Sponsoren. Wer von ihnen hätte die Ukraine nicht lieben können?
Die Kehrseite: Durch diese Positionierung hatten sich Missionen freiwillig auf missionarische Salven hinüber ins Feindesland reduziert. Man beschränkte sich zunehmend auf das, was sich in der UdSSR bewährt hatte: Literatur, elektronische Sendungen, Besuche.
Auf humanitärem Gebiet tun diese Missionen im Augenblick viel Gutes. Sergei Rachubas (oder Rakhuba) „Mission Eurasia“ versorgt Flüchtlinge in Lwow und im angrenzenden Ausland. Aber das hinterläßt auch ein Gefühl von „zu wenig zu spät“. Diese Missionen hatten sich dagegen entschieden, in die Speichen des in den Krieg rasenden Rads – siehe Bonhoeffer – zu greifen. Jedenfalls ist mir keine Äußerung bekannt, in der die evangelischen Kirchen der Ukraine zu Gesprächen auf der Basis des Minsker II.-Abkommens aufgerufen hätten. Darauf hat Russland sieben Jahre lang gewartet.
Namen aus dem ursprünglichen Aufsatz
Die gegenwärtigen russischen Forderungen nach einer militärischen Neutralisierung und Entnazifizierung erscheinen mir keineswegs verwerflich. Hilfreiche Gegenvorschläge aus der ukrainischen Ecke sind mir bis dato nicht bekannt. Michail Tscherenkow von der „Mission Eurasia“ hält sich seit 2018 in den USA auf. In den letzten Monaten hatte er sich bei Facebook auf hilfreiche, geistliche Beiträge spezialisiert. Doch am 26. Februar 2022 gab es einen Beitrag von seiner 16-jährigen Tochter. Darin heißt es u.a.: „Meine Soldaten sind meine Helden. Sie haben keine Angst davor, für das zu sterben, das uns gehört. Der Präsident meines Landes (Ukraine) kämpft gemeinsam mit uns. Gott kämpft gemeinsam mit uns.“ Das klingt nicht danach, als ob ein baldiges Einstellen der Feindseligkeiten eine erste Priorität der ukrainischen Protestanten wäre.
Seit vielen Wochen erscheint der baptistische Politiker Oleksandr Turtschynow nicht mehr in der Öffentlichkeit. In voller Kriegsmontur verwies der rechtsextreme Spitzenpolitiker Andrij Parubij am 9. März 2022 auf Facebook auf den guten Kampf seines Großvaters gemeinsam mit den Deutschen gegen die UdSSR im Zweiten Weltkrieg.
Der Pfingstpastor Gennadi Mochnenko befindet sich am 9. März weiterhin in seiner umkämpften Heimatstadt Mariupol und bemüht sich u.a. um die Versorgung bedürftiger Zivilisten. Spätestens seit Beginn der Kampfhandlungen ist offensichtlich geworden, daß diese Frontstadt eine befestigte Hochburg des faschistischen Asow-Bataillons darstellt.
Um den 1. März 2022 herum erschien in Russland ein Brief protestantischer Pastoren, der gegen den gegenwärtigen Krieg protestiert. Der Brief hatte damals nur 81 Unterschriften, rund 10% von ihnen stammen von außerhalb Russlands. Zu den Unterzeichnern gehörte der Moskauer Pensionär und Baptist Juri Sipko. Keine evangelischen Unionsleitungen sind vertreten.
Nach 28 Jahren in Nischni Nowgorod kehrte der 80-jährige Slawist und kirchliche Mitarbeiter Harley Wagler im September 2021 in die Heimat nach Kansas/USA zurück.
Fazit
Auf dem Globus tun sich neue politische Konstellationen auf. Das ist nicht ohne Präzedenz – man denke an China 1949 nach dem Sieg der Rotarmisten. Ab 1952 waren kaum noch fünf ausländische Missionare im Lande. Für die Bedürfnisse der Menschen in Russland war Irpin der breite, bequeme Weg – der Weg, der ins Verderben führte. Es waren jene, die sich vor Ort in Russland um eine Verständigung mit den Mächtigen bemühten, die sich auf dem engen, verheißungsvollen Pfad befanden.
Im neuen euroasiatischen Koloß müssen die Kirchen mit dabei sein. Darauf sollten wir uns einstellen. Es gab ein paar Visionäre wie den kanadischen Geistlichen James Endicott (1898-1993), der sich nach 1949 um eine Verständigung mit den Maoisten bemühte. Die Geschichte hat ihm recht gegeben.
„Russen sind böse und Amerikaner sind gut.“ Es sind aber nicht die Russen, die seit 1960 zahlreiche Kriege mit Millionen von Toten losgetreten haben. Dieser Tatbestand ist ein Teil der Verletzung, die die Bürger Russlands verspüren. Dominus det nobis pacem!
Dr.phil. William Yoder
Laduschkin, Gebiet Kaliningrad, den 10. März 2022
Für diese journalistische Veröffentlichung ist allein der Verfasser verantwortlich. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, die offizielle Meinung einer Organisation zu vertreten.
Meldung 22-08, 793 Wörter.