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Über einen Besuch in Minsk Ende Januar 2022

Das Schweigen überwinden

 

L a d u s c h k i n -- Die Menschen in Belarus stehen unter Druck: Die Inflation ist allgegenwärtig und die Preise für ausländische Waren wie Autoteile sind in die Höhe geschnellt. Teile der 9,4 Millionen Einwohner fliehen nicht nur westwärts, sondern auch stadtwärts. Ländliche Gebiete, vor allem im Osten des Landes, leeren sich. Leonid Michowitsch aus Minsk, Präsident des 12.000 Mitglieder zählenden Baptistenbundes und Rektor seines Seminars, beschrieb mir gegenüber die Auswanderungsrate in den politischen Westen als ein "starkes Rinnsal". Eine der führenden Baptistengemeinden der Stadt hat seit den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im August 2020 etwa 10 % ihrer 200 Mitglieder verloren.

 

Daheimgebliebene stellen fest, daß belarussische Migranten in den Nachbarländern noch lange nicht seßhaft geworden sind: Das Bemühen um Wohnraum und Arbeit bleibt ein täglicher Kampf. Nicht wenige von ihnen würden eine Rückkehr in ihr Heimatland in Erwägung ziehen, sobald ihnen die politischen Bedingungen günstiger erscheinen. Pastor Michowitsch berichtete, daß viele junge Menschen von den politischen Haltung der Kirchen des Landes enttäuscht sind. Jüngere Besucher hätten "ihre Hoffnung nicht auf Christus gesetzt, sondern darauf, daß wir politisch Stellung beziehen".

 

Ein breites Spektrum von Ansichten über die richtige Haltung der Kirchen bleibt. Ein anderer Beobachter berichtete von konservativen Baptisten, die sich auf 1. Samuel 15,23 berufen als Beweis dafür, daß Widerstand gegen die Staatsgewalt immer Sünde ist. Ein Brief von 49 protestantischen Pastoren vom August 2020 verweist jedoch auf 1. Könige 10,9 als Beleg dafür, daß Gottes Zustimmung zu einem Herrscher bedingt ist. Michowitsch räumt ein, daß sich einzelne Gläubige politisch engagieren dürfen. Aber die Kirche, die berufen sei, das ganze Volk zu vertreten, könne sich solche Freiheiten nicht herausnehmen.

 

Kirchliches Leben geht weiter

Trotz Covid, Emigration und Wirtschaft haben die belarussischen Kirchen als Kirchen unter den Unruhen im August 2020 keinen großen Schaden genommen. Neben Minsk bleiben auch die protestantischen Gruppen in den westlichen Grenzstädten Brest und Grodno innovativ und engagiert. Im Jahr 2021 fanden in Brest sehr öffentliche Veranstaltungen statt, darunter eine Bibelausstellung. (Der baptistische Bibelgürtel in Kobrin in der südwestlichen Ecke des Landes ist in seinem Stil und seiner Denkweise eher traditionell.) Es entstehen baptistische Jugendclubs, die gezielt darauf ausgerichtet sind, die Jugend zu erreichen.

 

Die historische Distanz zwischen Baptisten und Pfingstlern hat sich verringert. Michowitsch berichtete, daß die Leiter der evangelischen Denominationen in Minsk regelmäßig intensive und hilfreiche Zusammenkünfte erleben. "Wir nennen uns nicht 'Evangelische Allianz', aber das ist im Wesentlichen unsere Funktion."

 

Die römisch-katholische "Rote Kirche" an prominenter Stelle auf dem "Unabhängigkeitsplatz" der Stadt hatte während der Proteste von 2020 eine sehr sichtbare Rolle gespielt. Dennoch bleibt sie laut Michowitsch aktiv und weitgehend unbehelligt von den Behörden.

 

Finanzielle Zuwendungen für karitative Maßnahmen und Kinderlager sind weiterhin möglich. Michowitsch berichtete jedoch, daß die jüngste humanitäre Hilfe, die für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten an der polnischen Grenze bei Grodno bestimmt war, größtenteils über Vermittler wie das Rote Kreuz geleitet werden mußte.

 

Gleichzeitig ist das Registrieren von jungen, neugegründeten Kirchen in den letzten 10 Jahren mühsam geblieben. Leonid Michowitsch stellte fest, daß sich solche Gruppen „weiterhin illegal im formalen Sinne treffen, aber noch tastet niemand sie an".

 

Die 1.000 Mitglieder zählende charismatische "Neues Leben"-Gemeinde in Minsk wurde jedoch durchaus angetastet. Nach lautstarken politischen Stellungnahmen wurde ihr Gebäude - ursprünglich ein 2002 erworbener Kuhstall - im Februar 2021 geschlossen. (Siehe auch unsere Meldung vom 28. Juni 2011). Die meisten Gottesdienste, selbst jetzt im tiefsten Winter, finden auf dem Parkplatz neben der nie registrierten Kapelle statt. Kleinere Veranstaltungen werden an verschiedenen Orten in der Stadt abgehalten; "Telegram" hält die Mitglieder über die Entwicklungen und Treffpunkte auf dem Laufenden.

 

Eine Rückkehr zu den Zuständen vor 1990 ist undenkbar. Russischsprachige Gottesdienste werden aus der ganzen Welt übertragen, auch aus Minsk und Brest. Obwohl der private Reiseverkehr zwischen Belarus und der benachbarten Ukraine schwierig geworden ist, erreichen ukrainische Gottesdienste regelmäßig belarussische Haushalte. Es sind die Stärksten, die überleben; die liebgewonnenen, konfessionellen Monopole gibt es nicht mehr.

 

Obwohl keine ausländischen Missionare mehr in Belarus ansässig sind, bleibt das Land - wie schon seit 2014 - der am besten geeignete, visafreie Ort für die Begegnung von Kirchenvertretern aus Russland und der Ukraine. Derzeit sind mehrere Treffen zwischen drei oder mehr Ländern in Vorbereitung.

 

Bis Oktober 2021 konnten sogar US-Amerikaner über den Flughafen Minsk visafrei einreisen (wenn sie aus einem westlichen Land ankamen). Diese Regelung gilt noch immer für Gäste aus vielen westlichen Staaten, die mit dem Flugzeug einreisen. Obwohl die Zahl der ausländischen Besucher auf ein Rinnsal zurückgegangen ist, ist dieser Zustand nicht unbedingt auf die belarussische Politik in Bezug auf Touristenvisa zurückzuführen. Zumindest ein baptistisches Pastorenehepaar aus Belarus besuchte im Sommer 2021 die USA.

 

Präsident Michowitsch erklärte: "Unsere politischen Mauern dürfen nicht höher sein als unsere (christlichen) Mauern. Es ist inakzeptabel, wenn die politische Situation zwischen der Ukraine und Rußland die Beziehungen der Gläubigen zueinander beeinträchtigt." Pastoren werden nicht inhaftiert und er glaubt, daß die Kirchen nicht übermäßig unter Druck gesetzt werden. "Aber wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird."

 

Kommentar

Ein leitender Baptist in Minsk beschreibt die derzeitige Situation als eine Zeit der Stille ("moltschanie"). Diese Ruhe ist jedoch nicht nur auf die Angst vor staatlichen Repressionen zurückzuführen. Es braucht nun Zeit, um eine frische christliche Antwort zu formulieren, die der neuen Lage angemessen ist.

 

Mir kommt es so vor, daß westliche Medien die belarussische Opposition als eine Alles-oder-Nichts-Angelegenheit darstellen. Man sei entweder für Alexander Lukaschenko oder für die "Woke"-Leute um Hillary Clinton und Justin Trudeau. Doch zwischen den Extremen bestehen weitere Optionen. Den Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik war es gelungen, einen Mittelweg zwischen den Extremen zu formulieren: Sie wollten einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, einen Sozialismus weder ganz für noch ganz gegen die bestehende Ordnung.

 

Die belarussischen Evangelikalen verfügen bereits über einige der Zutaten, die für einen dritten Weg erforderlich sind. Westliche Regimewechsler, Neoliberale und Neokonservativen haben den Dissidenten in Belarus zugejubelt. Aber die "ostslawischen" Evangelikalen sind nicht ihre natürlichen ideologischen Verbündeten: Die belarussischen Evangelikalen wünschen sich eine eher theokratische, christlich-demokratische Ordnung, ähnlich der, die von Ungarns Viktor Orbán, Franklin Graham und der östlichen Orthodoxie vertreten wird. Ein Minsker Evangelikaler versicherte mir: "Wir bereiten uns auf die Zukunft vor. Christliche Werte könnten unsere Gesellschaft verändern." Eine Theokratie ist natürlich nicht das, was die liberale Weltordnung im Sinn hat.

 

Ich persönlich würde eine politische Front vorziehen, die viel breiter ist als eine christlich-demokratische. Wir sollten die aktuellen politischen Parameter so akzeptieren, wie sie sind, und versuchen, innerhalb der gegebenen Grenzen Gutes zu tun und Verbündete zu gewinnen. Wir könnten Koalitionspartner ausfindig machen, die für die bestehenden Behörden akzeptabel sind. Ein Minsker Dissident erklärte, daß 30 % immer noch Lukaschenko unterstützen. Es müßte viele unter ihnen geben, die über den eigenen Geldbeutel hinausblicken und an das Gemeinwohl denken können. Sie können nicht alle Unholde sein, und sie hätten Zugang zu den bestehenden Hallen der Macht, nicht nur zu den Straßen.

 

Es ist höchst unwahrscheinlich, daß die einst von Alexander Lukaschenko praktizierte Ost-West-Brückenfunktion in absehbarer Zeit zurückkehren wird. Die Belarussen könnten stattdessen die Gelegenheit beim Schopf ergreifen und Teil einer neu entstehenden, eurasischen Ordnung innerhalb einer multipolaren Welt werden. Es wäre eine echte Chance für einen belarussischen oder russischen Protestanten, an einer neuen Ordnung teilzunehmen, die sich von Brest im Westen bis zur Beringstraße und Hongkong im Osten erstreckt. Ihre Anwesenheit in diesem seltenen und einzigartigen Kontext würde nicht als Zufall gelten. Diese Protestanten könnten sich an einem Vorhaben beteiligen, die ihren westlichen Partnern weitgehend verschlossen ist. Gott hat einen Plan für sie in diesem einzigartigen Zusammenhang.

 

Es wäre töricht, vorschnell das Handtuch zu werfen und durch das offene Tor nach Vilnius zu flüchten oder einen weiteren Körper in das überfüllte Düsseldorf zu quetschen. Die Russen versichern mir immer wieder: "Schauen Sie, auch hier ist das Leben lebenswert!" Ich denke dann an die sehr erfolgreichen mennonitischen Landwirte und Unternehmer in Apollonowka westlich von Omsk. Sie produzieren bereits für den chinesischen Markt gleich nebenan. (Siehe unsere Meldung vom 2. Mai 2021.)

 

Ein Geschäftsmann aus Shanghai, Eric X. Li, versichert, daß "Demokratie", wie sie vom politischen Westen definiert wird, nicht der ultimative Maßstab für soziales Glück sein kann. Er führt an, daß das Eingehen eines Staates („responsiveness“) auf die Wünsche seiner Bürger ein genaueres Maß für qualitativ hochwertiges Reagieren darstellt. Wenn es um Gesundheitsfürsorge, Bildung, Wohnraum, lohngerechte Beschäftigung und öffentliche Verkehrsmittel geht, reagiert das US-Modell nur minimal auf die Wünsche seiner Bürger. Wir können es uns jetzt leisten, kreativ zu werden.

 

Dr.phil. William Yoder
Laduschkin, Gebiet Kaliningrad, den 7. Februar 2022


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Ein Wort in eigener Sache: Der Verfasser ist seit November 2021 neben den USA auch Staatsbürger der Russischen Föderation. Obwohl er von 2010 bis 2018 in Belarus wohnhaft war, war dies nun der erste Besuch in Belarus seit dem Wegzug.