Träume vom alten Finnland
Kommentar
L a d u s c h k i n -- Es gibt Kriege und Gerüchte über Kriege, auch hier in der Enklave Kaliningrad – in dieser weitläufigen, ländlich geprägten Version von West-Berlin im Kalten Krieg. Doch im Gegensatz zu mir bleiben die Russen weitgehend unbeeindruckt. Sie sind an Widrigkeiten gewöhnt und beharren darauf, auch unter den widrigsten Umständen ihren Geschäften nachzugehen. In einem großen, fast maskenlosen Baptistengottesdienst in Kaliningrad am 16. Januar fiel kein Wort über die Kriegsgerüchte. Aber mir gefielen die Gebete vom aus der Ukraine stammenden Pastor Alexander Krikun für den jungen Gouverneur Anton Alichanow, seine Ehefrau und ihre Kinder. Er schloss auch Wladimir Putin ein.
Die Russen bestehen darauf, positive Gedanken über ihre westlichen Nachbarn, auch jenseits des Atlantiks, zu bewahren. Ich stelle fest, daß selbst viele russische
Grenzpolizisten dieser Versuchung nicht widerstehen können. Ich habe keine wissenschaftliche Umfrage zu Hand, aber man kann wohl mit Sicherheit behaupten, daß 95 % der Russen eine friedliche
Lösung des ukrainischen Dilemmas wünschen. Dennoch gibt es manche Fotos von ukrainischen Baptisten und Pfingstlern, die in Tarnkleidung mit Waffen posieren. So etwas habe ich in Russland noch nie
gesehen. In der Ukraine ist sogar der Sicherheitschef, Oleksandr Turtschynow, Baptist. Berichten zufolge war er es, der im April 2014 die Panzer gen Osten losschickte in der Hoffnung, der Unruhen
Herr zu werden.
Ich bin traumatisiert, seit die Ukraine im Februar 2014 aus der ostslawischen Welt herausgebrochen worden ist. Dieser ukrainisch-russische Bruch ist vergleichbar mit der politischen Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland im Jahre 1949. Ja, die meisten Bürger der Westukraine, die häufig Anhänger des griechisch-katholischen Glaubens sind, sind eher westslawisch-polnisch als russisch einzustufen. Aber das gilt nicht für die östliche Hälfte oder das östliche Drittel des Landes.
Ich war schockiert über die Erklärung des Brüsseler Spezialisten Gilbert Doktorow am 8. Januar, daß die Diplomatie bereits ihren Lauf genommen habe. Die einzige Option, die Russland noch bleibe, sei eine militärische Antwort. Am 14. Januar beschrieb Russell Bentley, ein Texaner, der auf der pro-russischen Seite im Donbass lebt, detailliert einen bevorstehenden russischen Vorstoß in die Ostukraine. Er kann dies nicht mit dem Kreml abgestimmt haben - die offizielle Politik besagt, daß die russischen Streitkräfte an der Grenze nur als Antwort auf einen Angriff von ukrainischer Seite her eingreifen werden. Bentley schließt mit einem Wunsch: "Viel Glück allen guten Menschen für die kommenden schweren Tage. Möge Gott die Unschuldigen beschützen, und möge der Rest von uns das abbekommen, was wir reichlich verdient haben."
Nicht weniger besorgniserregend sind die Behauptungen Washingtons vom 14. Januar, daß Russland eine Operation unter falscher Flagge vorbereite. Da Washington selbst sehr versiert in solchen Vorgehensweisen ist, kann man sich des Gedankens nicht erwehren, daß dies genau das sein könnte, was Washington selbst vorhat.
Im Westen wird viel über die 80-100.00 Soldaten gesprochen, die auf der russischen Seite der Grenze zusammengezogen worden sind. (Zu Friedenszeiten lag deren Stärke bei 80.000.) Erstaunlicherweise erscheinen die etwa 125.000 Soldaten auf ukrainischer Seite nicht erwähnenswert.
Ich träume immer noch von der Finnlandisierung der Ukraine, oder zumindest von einer militärisch neutralen Osthälfte des Landes. Der Kreml steht solchen Bestrebungen offen gegenüber; die Ukraine würde wieder zu einer Brücke zwischen den Blöcken werden. Das würde Rußland einen bescheidenen Puffer vor der NATO bieten und die Wiederherstellung vieler Tausender familiärer und wirtschaftlicher Bindungen ermöglichen. Dies ist nicht annähernd der Abstand, den die USA von ihren Gegnern verlangen - siehe die Reaktion auf die nur halbwegs ernstgemeinte russische Drohung, militärische Einrichtungen in Kuba und Venezuela aufzubauen. Aber es könnte dazu beitragen, die Wogen zu glätten und den Verängstigten eine Rückkehr zum Alltag zu ermöglichen.
Jugoslawien wurde mit westlichem Segen in sieben (bald womöglich acht) Teile zerschlagen. Warum wäre es nicht hinnehmbar, wenn die Ukraine aus zwei oder drei Einheiten bestünde? Bekanntlich gehört auch die Tschechoslowakei der Vergangenheit an.
Dr.phil. William Yoder
Laduschkin, den 18. Januar 2022
Für diese journalistische Veröffentlichung ist allein der Verfasser verantwortlich. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, die offizielle Meinung einer Organisation zu vertreten. Diese Meldung darf gebührenfrei abgedruckt werden, wenn die Quelle angegeben wird. Meldung 22-01, 616 Wörter.