· 

Wie die Alten Rußlands über die Runden kommen

Fotos: Tamara Ragauskaite links mit Lena Kurmyschowa. der lutherischen Pastorin Bolschaja Poljana, Walentina Dobrinewskaja rechts

Aufnahmen von Yoder am 27. Juni 2021.

 

 

Die Rente als Gehaltszusatz

 

L a d u s c h k i n -- In Rußland ist das Rentnerleben selten sorgenfrei. Dort liegen die Renten im Augenblick zwischen etwa 8.000 und 20.000 Rubel pro Monat. Das sind monatlich zwischen 90 und 225 Euro. Die niedrigsten Renten findet man in der Provinz, die höchsten in den Metropolen Petersburg und Moskau. Das ist auch verständlich, weil die Lebenskosten in den Metropolen wesentlich höher liegen. Man könnte sagen, daß eine Durchschnittsrente gegenwärtig bei rund 13.000 Euro im Monat (146 Euro) liegt.

 

Lange lag das Rentenalter für Männer bei 60 Jahren, bei Frauen, 55 Jahren. Doch zum 01.01.2019 wurde das Rentenalter auf 65 für Männer und 63 für Frauen erhöht. Wer aber z.B. bereits mit 55 Jahren eine Rente bezog und heute erst 60 Jahre alt ist, braucht eine Stornierung der Rente nicht zu befürchten.

 

Mit Unverständnis reagierten Westler auf die starken Proteste gegen diese Erhöhung des Rentneralters, da ihnen eine Berentung mit 60 Jahren als stark verfrüht vorkommt. Doch verständlicher wird das, wenn man wahrnimmt, daß im heutigen, kapitalistischen Rußland die Rente nicht als Gehaltsersatz, sondern als Gehaltszusatz beabsichtigt ist. Die älteren Menschen Rußlands beklagen damit nicht den finanziellen Ruin, sondern das Ausbleiben eines wichtigen Gehaltszusatzes.

 

Üblich ist es in Rußland, daß ein aus dem Berufsleben Ausgeschiedener sich weiterhin bei körperlicher Unversehrtheit ein Zusatzbrot etwa als Wächter, Heizer, Taxifahrer oder Verkäufer(in) verdient. Dieses Zubrot könnte bis zu 20.000 Rubel pro Monat betragen. Wenn sich folglich ein westlicher Pastor bereits mit 66 Jahren von seinen Aufgaben verabschiedet bzw. in die Sonne nach Spanien auswandert, stößt er bei den russischen Protestanten auf Unverständnis. Schließlich ist für sie der Christ „immer im Dienst“. Damit hängt auch die häufige Hemmung unter betagten russischen Pastoren zusammen, ihre Leitungsaufgaben an Jüngere abzugeben.

 

Häufig täuscht der allgemeine Blick auf Rußland, denn in den letzten 20 Jahren haben sich viele Städte – einschließlich Kaliningrad und erst recht Moskau – mächtig herausgeputzt. Auf dem privaten Sektor entstehen auf grüner Wiese neue Wohnviertel aus imposanten, kreuz-und-quer-stehenden Einfamilienhäusern mit glänzenden Mercedes und BMW vor der Tür. Doch das ist nur die obere 20% der Gesellschaft.

 

Für die „breiten Massen“ in der russischen Provinz sieht es anders aus. Bei ihnen ist Bares rar; dafür gibt es Land in Hülle und Fülle. Land für den Gartenanbau ist sehr preiswert oder gar kostenlos zu haben. Die geistig- und körperlich-fitte Lutheranerin Walentina Dobrinewskaja ist eine 82-jährige Witwe im Dorf Bolschaja Poljana unweit von Snamensk (Wehlau) in der Mitte des Kaliningrader Gebiets. Sie betreibt gemeinsam mit ihren Kindern zwei Gärten. „Wir helfen uns gegenseitig,“ versicherte sie. „Wenn die Kinder aus Kaliningrad kommen, helfen sie mit im Garten und bekommen auch etwas vom Ertrag ab. Jetzt im Sommer stehe ich um vier Uhr morgens auf und begebe mich an die Arbeit.“ Diese Mühe ist verständlich, denn erstaunlicherweise liegen in den Läden die Lebensmitteilpreise oftmals auf Westniveau.

 

Improvisation ist gefragt. Gartenzäune bestehen in der Regel aus mehrfach verwendeten ungleichen Holzlatten. Meine verstorbene Schwiegermutter in Sibirien sorgte zeitlebens dafür, daß Nägel mindestens zweimal genutzt wurden. Sie erzählte wie viele andere von den sozialen Härten in den Kriegsjahren. In größeren Familien konnten nicht alle Kinder am selben Tag die  Schule besuchen – dafür reichte der Bestand an Kleidung und Schuhwerk nicht aus. Kein Kind durfte seine Schuhe alleine für sich beanspruchen. Heute ist das nicht mehr der Fall.

 

Große Sprünge können sich die allermeisten Rentner aber nicht leisten – sie müssen sich in großer Bescheidenheit üben. Bei ihnen kommt ein Badeurlaub in der Türkei oder in Ägypten nicht in Frage, oftmals nicht einmal das örtliche Mittelklassen-Restaurant. Ich erlebte einen Fall im Kaliningrader Gebiet, bei dem Kinder noch nie einen McDonalds von innen gesehen hatten.

 

Eine Miete in der üblichen Höhe – in Städten ab 10.000 Rubel für eine Einzimmerwohnung – übersteigt jedwede finanzielle Möglichkeit von Rentnern. Dafür besitzen nicht weniger als 90% der erwachsenen Russen Wohneigentum. Die Kultur von Mietverträgen ist dementsprechend stark unterentwickelt.

 

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR bekamen Millionen russischer Bürger die eigenen vier Wände vom Staat kostenlos übereignet. Das ging nicht selten über die sozialistische Arbeitsstelle. Frau Dobrinewskaja erzählte, daß sie und ihr Ehemann, ein Berufssoldat, schon vor 60 Jahren die jetzige Bleibe vom Staat überwiesen bekamen. Die eigenen vier Wände bilden also den finanziellen Grundstock für die allermeisten Rentner. Sie sind auch das, was sich nach Bedarf verkaufen oder tauschen läßt. In Großstädten ist auch das Weitervermieten der eigenen vier Wände ein Haupt- oder Nebenerwerb für Tausende von Rentnern.

 

Bezahlte Handwerker können sich diese Rentner nicht leisten. Frau Dobrinewskaja versicherte, daß nach dem Ableben ihres Mannes vor acht Jahren vieles liegen bleiben mußte. „Wir hatten große Pläne, das gesamte Haus zu sanieren,“ erzählte sie. „Doch heute helfen mir meine Kinder, so gut es eben geht.“ Legendär sind die privaten Häuslebauer und Autoschlosser Rußlands. Man versteht es, sich zu helfen ohne auf den Staat zu warten. Das ist auch bei den handwerklich begabten Aussiedlern in Deutschland festzustellen.

 

Versicherungen gibt es in der Regel nicht. Dafür ist für die Landesbürger die Krankenversorgung, sogar eine Chemotherapie, kostenlos. Doch als nichtzahlender Kunde muß man mit langen Wartezeiten auf dem Korridor und schlechteren Medikamenten rechnen. Wer privat für eine medizinische Behandlung bezahlen kann, hat eindeutig mehr Freizeit zur Verfügung. Für bedürftige Rentner besteht ein soziales Netz mit staatlichen Zuschüssen u.a. für Transport, Medikamente, Heizung und Strom. Richtig hungern tut keiner. In Deutschland kommt das öffentliche Betteln öfter vor. Das hat neben kulturellen wohl auch migrationspolitische Ursachen.

 

Mir sind neuentstandene protestantische Seniorenheime u.a. im Kaliningrader Gebiet, in Belarus und Kasachstan bekannt. Doch immer wieder werden Seniorenheime als Anzeichen wachsender sozialer Kälte gewertet. Es kommt zwar vor, daß Angehörige selbst die Renten der Altgewordenen einstreichen wollen. Positiv gesehen sehen aber auch viele es als ihre moralische Pflicht an, bettlägerig gewordene Familienangehörige zuhause zu pflegen. Rußland ist für sein Heer von hilfs- und opferbereiten Frauen bekannt; die große Mehrheit der Altgewordenen ist eben auch weiblich. Die wenigen, schon lange bestehenden staatlichen Altersheime sind für Senioren ohne Angehörige gedacht.

 

Das Wohlergehen der genannten Walentina Dobrinewskaja hängt mit dem Einsatz ihrer hilfsbereiten Nachkommen zusammen. Anders sieht es bei Tamara Ragauskaite, einer Nachbarin aus derselben Gemeinde, aus. Sie hat weniger Angehörige und beklagt sich darüber, daß ihr kleines Einfamilienhaus zunehmend verfällt. Das Fundament und die Wände sind nicht mehr trocken; die Wasserleitungen sind undicht. Die Witwe hat schon mehrmals an die Kommune appelliert, ihr neuen Wohnraum zu verschaffen. (Tamara hat einen litauischen Familiennamen - keine seltene Erscheinung im Kaliningrader Gebiet.)

 

Doch wichtiger für das Lebensglück als die Zahl der Angehörigen und die Höhe der Rente ist zweifellos die eigene Lebenseinstellung. Ob man vor allem Dankbarkeit oder Neid für die eigene Lebenslage empfindet; ob man Liebe sowohl empfangen wie weitergeben kann – sie bestimmen darüber, ob man die Kraft findet, die Aufbesserung der eigenen Lebenszusammenhänge in Angriff zu nehmen. Das ist eine Lebensmaxime, die sich gewiß nicht nur bei den Senioren auf russischem Boden bewahrheitet.

 

Dr. William Yoder

Laduschkin, den 29. Juli 2021

 

Für diese journalistische Veröffentlichung ist allein der Verfasser verantwortlich. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, die offizielle Meinung einer Organisation zu vertreten. Diese Meldung darf gebührenfrei abgedruckt werden, wenn die Quelle angegeben wird. Meldung 21-14. Verfaßt für ein Blatt des Diakoniewerkes Weltersbach, 1.123 Wörter.