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Beachtliche Erfolge der Mennoniten in Sibirien

Klein-Venedig ist nicht mehr

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Über die beachtlichen Erfolge in einer einst mennonitischen Gemeinde Westsibiriens

 

Reportage

 

L a d u s c h k i n -- Vor wenigen Jahren drehte der russische „Kanal Eins“ einen teils spaßigen Film über das Hochwasser im westsibirischen Dorf Apollonowka. Doch heute ist der schädliche Spaß in dieser flachen Gegend vorbei: Tüchtige Mennoniten und Baptisten haben die Kießstraßen aufgeschüttet, die Gräben vertieft und das überschüssige Wasser in ein Sumpfgebiet abgeleitet. Zweidrittel der anfallenden Kosten wurden von der wirtschaftlich erfolgreichen „Willock-Farm“ und einer Weizenmühle übernommen.

 

Im 2018 fertiggestellten Bethaus der unregistrierten Baptistengemeinde mit seinen fast 900 Plätzen begegnet man der Welt sowohl von gestern wie von morgen: Am 18. April 2021 konnte ich einen völlig maskenfreien Gottesdienst mit herrlicher, traditioneller Choralmusik erleben. Ein leitendes Mitglied erläuterte: „Vor einem Jahr erkrankten wir alle an Covid mit allen seinen Symptomen; es ist auch eine ältere Frau verstorben. Doch nach 10 Tagen waren alle wieder gesund und setzten den Alltag fort.“

 

Die Menschen in dieser Gemeinde – eigentlich handelt es sich um eine Mennoniten-Brüdergemeinde mit einer durchschnittlichen Besucherzahl von 300 – verstehen etwas von der Gastfreundschaft. Man wird von Haus-zu-Haus gereicht; ein Gast kann keineswegs damit rechnen, bei einer Mahlzeit Vorspeise und Nachtisch im selben Haushalt einnehmen zu können.

 

Vielleicht gibt es dabei auch mitunter ein Haar in der Suppe: Im Foyer des Gemeindehauses steht eine große Tafel, die die Zukunftslehre des Dispensationalismus erläutert. Der Kirchenhistoriker Peter Epp aus Issilkul, ein Sohn des Dorfes, ist kein Anhänger dieser Lehre. Er weist darauf hin, daß bereits ein Gründungsvater des russischen Baptismus, der deutschstämmige Johann Gottlieb Kargel (1849-1937), diese eschatologische Lehre vertrat.

 

Apollonowka (einst Waldheim) hat wahrlich ein ökonomisches Wunder erlebt. Die vor 16 Jahren gegründete Willock-Farm (siehe unsere Meldung vom 14. Juni 2018) bewirtschaftet weiterhin “nur” 6.000 Hektar Ackerland, doch sein industrieller Zweig kann sich auch ohne Reklame vor Aufträgen kaum retten. Bei manchen landwirtschaftlichen Gerätschaften besteht eine Wartezeit von mehr als sechs Monaten. In den letzten drei Jahren ist der Mitarbeiterstab von 40 auf 50 erhöht worden; weitere Werkshallen sind im Bau. Das ist kein bescheidener Erfolg für ein abgelegenes, 850-Seelen-Dorf in der tiefsten Provinz nahe der kasachischen Grenze.

 

Die Inhaber der Firma, Jakob Dirksen und David Epp, finden es überzeugend für den Kunden, daß ihre Produkte erst einmal auf dem firmeneigenen Acker geprüft werden. Dazu gehören die komplizierten Sämaschinen, die unter David Epps Ägide hergestellt werden.

 

Den Sanktionen gegenüber Rußland können die beiden Inhaber nur Positives abgewinnen; sie haben die Nachfrage nach im Binnenland hergestellten Erzeugnissen gesteigert. Sogar vom anlaufenden China-Geschäft kann sich die Firma eine Scheibe abschneiden. Dirksen berichtet, daß dabei eine Menge Vorschriften eingehalten werden müssen: Schon die Zusammensetzung der Gene beim Saatgut legen die chinesischen Abnehmer fest.

 

Interessant ist, daß der große Kreditgeber bei der Initialzündung, der Mennonit Walter Willms aus Britisch-Kolumbien, keineswegs mit offenen Armen empfangen wurde, als er 1997 erstmals die Gegend betrat. Wegen der charismatischen Tendenzen seiner Theologie gingen manche auf Distanz; viele Landwirte wollten auch lieber beim Alten bleiben und ein knappes Überleben dem Eingehen auf hohe finanzielle Risiken vorziehen. Es spricht sehr für Willms, daß er nicht gleich die Koffer packte und weiterhin darauf bestand, daß Einheimische den Neustart wagten.

 

Eine von Iwan Dirksen geleitete Weizenmühle im Dorf wurde ebenfalls von Walter Willms finanziert. Diese Firma verfügt über 4.000 Hektar, 15 Mitarbeiter und einen ebenfalls imponierenden Maschinenpark. In einem anderen Dorf betreibt sie eine Bäckerei. Iwan ist ein Vorsteher der Kirchengemeinde und Onkel von Jakob Dirksen.

 

Ein erfolgreiches Sägewerk mit 40 Mitarbeitern wird von einem Sohn des bekannten Hobbyfliegers Jakob Tews, Andrei, geführt.

 

Jakob Dirksen teilte mir mit, daß diese landwirtschaftlichen Betriebe relativ wenig Land besitzen – die russische Geschichte zeige, daß Ackerland ganz schnell vom Staat enteignet werden kann. Lieber mietet man Land von den Dorfbewohnern, die vor Jahrzehnten einen Teil des Kolchosbodens als Abfindung erhielten. Die Nachbarn freuen sich über den willkommenen Nebenverdienst und so profitiert das gesamte Dorf vom wirtschaftlichen Erfolg der jungen Unternehmen.

 

Mit ihren tollen Gerätschaften könnte die Willock-Farm für ordentliche Straßen sorgen und so der historischen Plage der russischen Provinz ein Ende setzen. Doch Dirksen vertritt die Auffassung, daß der Staat ein unzuverlässiger Auftraggeber sei. Der Staat könnte in einem Jahr für ordentliche Aufträge sorgen, doch schon im darauffolgenden Jahr seine Aufträge ganz anderswohin vergeben.

 

An den Ausläufern dieser einst deutschen Dörfer ist der wirtschaftlichen Erfolg deutlich zu erkennen. In Apollonowka gibt es in letzter Zeit mindestens 20 neugebaute Privathäuser. Bis auf ein Haus, das von einem plattdeutsch-sprechenden Russen gebaut worden ist, gehören alle Häuser den Deutschstämmigen. Ansässige Kasachen beteiligen sich aber auch am Häuserbau. Offensichtlich sind es vor allem die Deutschstämmigen, die weiterhin eine Vision für ein Leben auf dem Lande hegen. Solche Neubauten sieht man auch in Solntsewka, einem 30 km weiter südlich liegenden Dorf deutschen Ursprungs. Es ist offensichtlich, daß nicht alle Deutschstämmigen mit einer baldigen Ausreise rechnen. 

 

Peter Epp vertritt die Auffassung, daß die Baptisten- und Mennonitengemeinden dieser Gegend sehr viel größer sind als die lutherischen „weil die geistliche Erweckung, die nach dem II. Weltkrieg vom Zaun brach, an den lutherischen Gemeinden vorbeizog. So sind sie zu Gemeinden älterer Frauen geworden.“

 

Die Ausreise

Als ich in das Dorf Nieudatschino östlich von Omsk eintraf, stellte ich mit Entsetzen fest, daß schon vor fünf Jahren die riesige Kolchose von einem Investor abgewickelt worden ist. Alle Scheunen stehen leer. Eine Käserei, die mit dem Geld nordamerikanischer Mennoniten unterstützt worden war, liegt seit rund 10 Jahren brach. Arbeit ist vor allem nur noch bei der Eisenbahn und „Gasprom“ zu finden - so eben entsteht der Wunsch nach Ausreise.

 

Sogar Apollonowka büßte über die Hälfte seiner deutschstämmigen Bewohner ein – das Dorf ist nur noch zu einem Drittel deutschstämmig. Über das Thema Ausreise wird nach wie vor rege diskutiert; der Gemeindevorsteher Iwan Dirksen berichtet davon, daß er und seine Frau Anfang der 90er Jahre die Eltern nach Deutschland gebracht hätten. Doch anschließend kehrten sie nach Hause zurück. Für sie war es eine Gewissensfrage: „Wir erlebten gerade eine geistliche Erweckung und die Neubekehrten durfte man nicht im Stich lassen.“

 

Noch bis zum Ende der Sowjetunion wurde in Apollonowka auf Deutsch gepredigt. Doch seitdem läßt das Hochdeutsche stark nach. Nun geht es bei den Gottesdiensten Russisch zu; nur noch die Kindergeschichten werden von vorne auf Plattdeutsch vorgetragen. Das ist darauf zurückzuführen, daß viele Kleinkinder vorerst nur Plattdeutsch sprechen - das nennt man scherzhaft „po-plettski“. Da ich nur eines süddeutschen Dialekts mächtig bin, unterhielt man sich mit mir lieber auf Russisch. Rund die Hälfte der Gottesdienstbesucher in Apollonowka ist minderjährig.

 

Mir bleibt das politisch unkorrekte Abschiedswort eines Mennoniten aus Nieudatschino in Erinnerung: „Nach dem schweren Leiden unserer Großeltern und Eltern wäre es eine Frevel, undankbar zu sein angesichts des unermeßlichen Segens, der uns in den letzten 30 Jahren widerfahren ist.“

 

Obwohl man selbst früher nicht wenig gelitten hat, ist man traurig und entsetzt darüber, daß der Westen sich nun unentwegt auf den Landesvater in Moskau einschießt. Man fühlt sich vom Westen unrecht behandelt. Das Mißfallen hängt sicherlich damit zusammen, daß ein sich anbahnender kalter Krieg den bewährten Austausch mit der Verwandtschaft in Deutschland erschweren würde. Vorerst läuft der Reiseverkehr mit Deutschland wieder an; wer beide Pässe besitzt, darf hin-und-her reisen.

 

Dr. phil. William Yoder
Laduschkin, Gebiet Kaliningrad, den 2. Mai 2021

 

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