Das Hauptproblem ist unser fehlender Eifer
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Peter Epp über die Mennoniten Sibiriens
N o w o s i b i r s k -- Der 1960 in Apollonowka geborene Peter Epp war das Älteste von neun Kindern einer mennonitischen Familie. Neben den Eltern wohnen drei der Geschwister heute in Deutschland. Sein jüngster Bruder, David, kehrte nach vier Jahren in Deutschland nach Sibirien zurück und ist heute ein landwirtschaftlicher Unternehmer in Apollonowka.
Peter Epp brachte 2007 eine sehr umfangreiche Dokumentation über die „Omsker Brüderschaft“ heraus; vier Jahre später erfolgte ein Werk über sein Heimatdorf Apollonowka. Diese zwei Bücher weisen diesen Laienhistoriker als Experten in diesem Fachbereich aus.
In seinem 2019 erschienenen Werk „Im sibirischen Palästina“ beschreibt der Omsker Kirchenhistoriker Constantine Prokhorov (bzw. Konstantin Prochorow) die evangelischen Entwicklungen im westsibirischen Raum in den Jahren 1890-1941. Alle drei Bücher sind in russischer Sprache im deutschen „Samenkorn-Verlag“ erschienen.
Das auf Hochdeutsch geführte Gespräch fand am 19. April 2021 in Issilkul/Westsibirien statt.
Sie sind nicht nur Historiker. Was ist Ihr Beruf? Sind Sie auch Pastor?
Ich bin Hilfsprediger. In meiner Jugend gab es wenig Auswahl, also bin ich Schlosser geworden. Jetzt besitze ich eine kleine, metallverarbeitende Firma mit einigen Angestellten.
Warum ist Ihnen die Kirchengeschichte wichtig?
Geschichte hat mich immer interessiert. Meine Oma hatte immer viele Geschichten erzählt - sie lebte in der Zeit, als es noch keine Kolchosen gab. Wie war das früher? Wer sind die Plattdeutschen?
Wo kommen sie her? Diese Fragen haben mich immer herausgefordert.
Meine Oma sagte, wir seien aus Holland. Als ich dann 14 Jahre alt war und einen Ausweis bekommen sollte, gab ich „holländisch“ als meine Nationalität an. Doch das kam nicht durch - In Rußland nennen wir uns alle Deutsche.
Als ich dann zur Gemeinde kam, kam noch die Frage hinzu: Von woher kommt die Kirche? In den 70er und 80er Jahren hatten wir dazu noch keine Materialien. Wir wußten nichts. Dann fand ich Aufsätze aus den 60er Jahren in den Heften der „Bratski Westnik“ des (registrierten) Baptistenbundes. Da habe ich alles zusammengesucht und abgeschrieben. Das war meine erste Kirchengeschichte überhaupt - von der Apostelzeit bis heute. Als wir dann die ersten Bibelkurse machten, waren diese Hefte unsere Kirchengeschichte.
Dann habe ich Nikolai Dikman, unseren damals leitenden Bruder aus Marjanowka gefragt, ob er Informationen über die Mennoniten hätte. Da hat er mir ein sehr seltenes Buch aus Kanada von meinem Verwandten, Peter Rahn, geschenkt. Er hatte 1975 ein Buch in deutscher Sprache herausgegeben: „Mennoniten in der Umgebung von Omsk“. Er beschrieb aber auch, wie die Mennoniten überhaupt nach Sibirien kamen.
Dieses Buch war der Anfang meiner eigenen Untersuchungen über unsere Geschichte. Im Jahre 1996 gab es ein größeres Jubiläum; da kam die Idee auf, selbst ein Buch zu verfassen. Es ist dann 2007 erschienen.
Die Omsker Brüderschaft, zu der Ihre Gemeinde und Apollonowka gehören, ist 1957 entstanden. Ist dieser Zusammenschluß von 30 Gemeinden beim Staat registriert? Sie sind ja nicht die „Sowjet Tserkwei“ („Union der Kirchen“, der nichtregistrierte Bund der Evangeliumschristen-Baptisten).
Mit einem Wort: Nein. Die Frage der Registrierung war sehr aktuell in den 60er Jahren – damals gab es große Spannungen zwischen der Sowjet Tserkwei und dem registrierten Baptistenbund (dem Allunions-Rat). Damals hätten wir vielen staatlichen Forderungen nachkommen müssen: Es ging um die Erziehung von Kindern und deren Anwesenheit im Gottesdienst. Das war uns sehr wichtig, und deshalb haben die Brüder damals gesagt: Wir machen das nicht.
Doch danach war die Registrierung möglich.
Ja, während der Perestroika wurde das dann möglich. Doch die Sowjet Tserkwei blieb bei ihrer Haltung: Beliebiges Registrieren ist Sünde. Das war das Verständnis auch bei vielen in unseren Gemeinden. Doch schon damals durften wir sowieso alles machen. Es gab aber auch Spaltungen innerhalb der Gemeinschaft, und wir wollten die Einheit nicht noch weiter belasten mit dem Antasten dieser Frage. Ohne Einigkeit wollen wir die Sache so belassen, wie sie jetzt ist.
Wie ist die Beziehung der Brüderschaft heute zur Sowjet Tserkwei und zum offiziellen Baptistenbund?
Die Beziehungen bis in die 80er Jahre hinein zur Sowjet Tserkwei waren sehr gut. Wir haben uns oft besucht und ihre (illegale) Druckerei benutzt. Auch finanziell haben wir sie unterstützt.
In den 90ern jedoch nahmen die Differenzen zu, z.B. in der theologischen Frage der Reinigung. Mit deren Methoden waren unsere Ältesten nicht einverstanden; uns kamen das wie katholische oder orthodoxe Praktiken vor. Daraus entstanden Kontroversen und ein Ergebnis war, daß sich etwa 1993 die Gemeinde in Miroljubowka spaltete. Eine Abkühlung der Beziehungen folgte, die bis heute noch teilweise besteht. Später kam es noch zur Spaltung der Gemeinde in Marjanowka.
Könnte man sagen, heute befinde sich die Omsker Brüderschaft zwischen der Sowjet Tserkwei und den registrierten Baptisten?
Ja, so kann man das sagen. In den 60er Jahren waren die Beziehungen zum registrierten Bund kalt – oft schickten sie Leute in unsere Gemeinden, um uns von der Registrierung zu überzeugen. Das Thema war bei uns tabu.
Doch heute ist das nicht mehr die Frage. In den 90er Jahren ergriff eine liberale Welle die registrierten Gemeinden. Es gab charismatische Ansätze, neue Musikarten und Kleidung. Damit war die Brüderschaft nicht einverstanden. Doch zu den registrierten Baptistengemeinden im benachbarten Nord-Kasachstan sind die Beziehungen recht herzlich. Sie wurden nicht im gleichen Maße von den Entwicklungen in Rußland mitgerissen.
Ich weiß, daß ihr Leiter, Franz Tissen, die Frauenordination ablehnt und deshalb u.a. nimmt der kasachische Bund Abstand zur „Europäische Baptistischen Föderation“ (EBF).
Tissen distanziert sich von dem, was sich in Rußland abspielt. Heute geht es bei uns Baptisten nicht um die Frage, ob man registriert ist oder nicht. Es geht viel mehr um Fragen der Liberalität.
Erwartet man eine neue Lage durch die anhaltenden, politischen Spannungen zwischen Ost und West?
Besondere Änderungen spüren wir noch nicht, doch haben die Jarowaja-Gesetze unsere missionarischen Bemühungen eingeschränkt. Besuche aus dem Ausland sind nicht mehr im gleichen Umfang möglich.
Sie können auch als Kirche niemanden einladen, weil Sie nicht registriert sind.
Ja, aber die persönliche Mission ist nicht verboten. Für das Evangelisieren haben wir genügend Möglichkeiten. Es gibt uns im Radio und wir bringen Zeitungen unter die Leute. Wir beraten gerade, ob wir wieder Missionstage durchführen wollen. Wir nutzen noch lange nicht alles aus, was wir haben. Wir leben heute in einer neuen Zeit mit neuen Leuten – das sehe ich auch bei der Sowjet Tserkwei. Unser Missionseifer hat nachgelassen. Für uns sind staatliche Einschränkungen nicht das eigentliche Problem.
Ich sage, daß das grenzenlose Rußland eigentlich aus mehreren Regierungen besteht. Sibirien ist eben nicht das europäische Rußland.
Nicht nur Moskau ist weit – die Jarowaja-Gesetze von 2016 wohl auch. Wie steht es mit den Immobilien; wer besitzt Ihre Gemeindehäuser?
Sie befinden sich weiterhin im Besitz von Privatpersonen. Meistens sind das offiziell Privathäuser.
Darüber gibt es gerade viel Ärger mit staatlichen Stellen in Tula und Rjasan (nahe Moskau).
Und damit hat die Sowjet Tserkwei gerade Probleme oben in Archangelsk. Aber man sollte die Obrigkeit nicht unnötig aufreizen. Wir sollten klug sein und nicht einfach behaupten: „Wir sind von Gott; wir respektieren euch nicht.“ Es könnte noch Probleme geben, doch Gottseidank ist das noch nicht der Fall.
Hier westlich von Omsk kennt jeder jeden. Gab es nach der Perestroika ein Nachgespräch mit den Menschen, die Euch verfolgt hatten? Gab es eine Aussöhnung?
Es gab Gespräche. Wir haben in Apollonowka Männer gehabt, die eifrig verfolgt hatten. Nachher gaben sie zu, dumm gewesen zu sein und anderen Schlechtes angetan zu haben. Der Dorfvorsitzende kam hinterher mehrmals zum Gottesdienst. Eine atheistische Lehrerin im Dorf bekehrte sich und wurde Gemeindeglied. Wir haben uns sehr gefreut, wenn Leute ihre Vergehen bereut haben.
Hinterher gab es keine Ursachen mehr für Spannungen. Wir Gläubige verstanden, daß die Menschen nur kleine Rädchen in einem großen System waren, und hinter diesem System stand der Satan.
Man dachte also nicht: Jetzt sollten die bestraft werden, jetzt sollten die ins Gefängnis?
(Er lacht.) Ich habe von keinem Fall gehört, in dem sich einer so etwas vorgestellt hätte.
Ben Goossen aus Kansas hat in den letzten Jahren über die Beziehungen der Mennoniten in der Ukraine zum Faschismus geforscht. Für die Nazis war das Verhalten der deutschen Mennoniten in der Diaspora vorbildlich – problematisch war nur deren Pazifismus. (Siehe die Meldung vom 29. Juli 2017 auf unserer Webseite.) Mennoniten halfen mit beim Bau des KZ Stutthof bei Danzig.
Hier ist das kein Thema. Ich kenne diese Geschichte nicht.
Es war ein wichtiges Thema 2015 bei der „Mennonitischen Weltkonferenz“ in Harrisburg/Pennsylvania.
Ich bin zweimal in Paraguay gewesen. Dort erfuhr ich, daß das in Paraguay früher eine Streitfrage gewesen war. Doch hier bei uns kam diese Frage nicht auf. Es wäre auch sehr gefährlich gewesen, in der KGB-Zeit diese Frage aufzuwerfen! Das war doch gemeingefährlich. Die Leute, die früher für Hitler gewesen waren, blieben stumm. Sie würden nie etwas dazu sagen, denn sie hatten bereits einen langen Leidensweg hinter sich.
Wir hatten einen Bruder in der Gemeinde mit der SS-Tätowierung. Sie waren damals Jungs, die (zumeist aus der Ukraine) nach Deutschland verschleppt worden waren. Sie wurden dann gleich an die Front geschickt und kamen so zur SS. Sie hatten keine große Wahl.
Dr. phil. William Yoder
Laduschkin, Gebiet Kaliningrad, den 1. Mai 2021
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