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Baptisten in Grosny/Tschetschenien

Zwei Fotos:

Die neue Baptistenkapelle in Grosny am 22. November 2020
Ruwim and Tatjana Woloschin in Grosny am 21. November 2020

 

Das Ausland im Inland

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Bericht über den Besuch einer Baptistengemeinde in Grosny/Tschetschenien

 

L a d u s c h k i n – Erst vom Hotel aus in Grosny las ich die Reiseempfehlung der US-Botschaft für das Gebiet. Dort hatte es am 6. August 2020 geheißen: “Reisen Sie nicht in den Nordkaukasus, einschließlich Tschetschenien und zum Berg Elbrus aufgrund von Terrorismus, Entführungen und der Gefahr ziviler Unruhen.“ 

 

Tatjana, die Gattin des Baptistenpastors Ruwim Woloschin, versicherte in Grosny am 21. November: „Ich bin vom Leben hier begeistert; ich bin so froh, daß wir hier leben dürfen! Die Leute sind liebenswürdig; ich liebe meine Arbeit. Wir sind so glücklich, daß Gott uns hierher geführt hat.“ Die neunköpfige Familie Woloschin schlägt in der Gegend Wurzeln. Vor sechs Jahren traf sie in Grosny ein; jetzt ist sie dabei, ein stattliches Haus für sich zu bauen.

 

Tschetschenien bleibt ein politischer Brennpunkt, doch ich mit meinem US-Paß wurde im wesentlichen durchgewunken. Die wenigen Fragen drehten sich um Covid-19. Die Einheimischen fragten mich wiederholt: „Wie gefällt Ihnen Rußland?“ Doch damit war erstaunlicherweise nicht Moskau gemeint, sondern Grosny. Es war ja gerade die Regierung Jelzin gewesen, die die Stadt dem Erdboden gleich gemacht hat. Im Jahre 2000 hielt man Grosny für die am schwersten zerstörte Stadt Europas seit dem II. Weltkrieg.

 

Im Jahre 1992 hatte die englischsprachige “Moscow News” beteuert, daß die Tschetschenen “ausnahmslos für die Selbständigkeit” einträten. Der separatistische Führer Dschochar Dudajew, der 1996 von russischen Streitkräften getötet wurde, hatte im September 1991 90% der Stimmen auf seine Person vereinigt. Doch heute sind alle Schilder in russischer Sprache und in den Schulen wird auf Russisch unterrichtet.

 

Die Zwangsumsiedlungen nach Kasachstan im Februar 1944 bleiben in schmerzvoller Erinnerung; der großen Mehrheit der Tschetschenen wurde erst 1957 gestattet, in die Heimat zurückzukehren. Am meisten verantwortlich für diese Maßnahmen war Josef Stalin, ein Kommunist aus dem Nachbargebiet Georgien. Die orthodoxen Georgier und die muslimischen Tschetschenien befehden sich seit Jahrhunderten; Tschetschenien wurde erst 1864 unfreiwillig ins russische Reich aufgenommen.

 

Seit mehr als 100 Jahren erlebt Tschetschenien Volksverschiebungen größeren Ausmaßes. Im Jahr 1939 bestand das Gebiet zu 58% aus Tschetschenen. Nach der Rückkehr aus der Verbannung war das Gebiet 1959 nur 40% tschetschenisch. Heute besteht Tschetschenien zu 97,4% aus Tschetschenen. Russen ergriffen die Flucht mit dem Ausbruch der Feindseligkeiten 1991. Gegenwärtig ist der russische Bevölkerungsanteil minimal: 16.382 Personen oder 0,9% der Bevölkerung. Noch 1989 hatten Russen fast 25% der Bevölkerung gestellt.

 

Das Verhältnis zu den Russen hat in den letzten anderthalb Jahrzehnten einen erstaunlichen Wandel erlebt. Russen, erst recht ihre technischen Spezialisten, gelten als höchst willkommen. Abbildungen des Führers Ramsan Kadyrow mit Wladimir Putin, manchmal noch mit Achmad, dem ermordeten Vater von Ramsan, sind überall zu sehen.

 

Ruwim Woloschin hält Beslan in der angrenzenden Republik von Nordossetien für ein führendes Beispiel mißratener Versöhnung. Nach seiner Überzeugung erhält ein dortiges Mahnmal völlig unbeabsichtigt das Erbe von Haß am Leben. Im September 2004 waren ca. 331 Personen, die meisten davon Kinder, bei einem Terroranschlag auf eine teils christliche Schule ums Leben gekommen. Beslan liegt nur 15 km nördlich der Baptistenhochburg von Wladikawkas.

 

Tschetschenien hat einen anderen Weg eingeschlagen: Russisches Kapital und tschetschenische Muskeln haben alle Narben des Krieges beseitigt. Es wird angenommen, daß die Beseitigung sichtbarer Narben und die atemberaubenden, futuristischen Gebäude den Versöhnungsprozess beschleunigen. Woloschin fügt hinzu: „Wir haben jetzt Asphaltstraßen auf dem Land, wo es früher nur sandige Wege gab.“ Grosny ist - wie in den USA – zu einer autofreundlichen Stadt geworden.

 

Das kirchliche Klima

In Grosny kann man die „Achmad Kadyrow Moschee“ von 2008 bewundern. Wenn man sich jedoch um die eigene Achse um 180 Grad dreht, taucht ein Kreuz auf der orthodoxen Kirche in etwa 500 Metern Entfernung auf. Das ist die "Kirche des Erzengels Michail" von 1892.

 

Ruwim Woloschin glaubt, daß die Religiosität in Tschetschenien viel tiefer verinnerlicht ist als in einer relativ liberalen muslimischen Republik wie Tatarstan. „Hier ist die Religion nicht oberflächlich; es wird nicht nur für den Schein so getan. Es ist die Familie, die für die Glaubensrechtschaffenheit ihre Mitglieder sorgt - dafür ist der Staat nicht erforderlich." Wenig Rauchen und kein öffentliches Trinken zählen dazu. Der Baptistenpastor gibt zu, daß der moralische Verhaltenskodex unter diesen Muslimen nicht niedriger ausfällt als unter den Baptisten. Ich frage mich, ob diese religiöse Leidenschaft typisch für den Neuling ist. Tschetschenen wurden erst zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert muslimisch.

 

Viele Tschetschenen gehen mit dem Geld äußerst gewissenhaft um. In einem Fall bestand mein Taxifahrer darauf, mir das Wechselgeld  von 17 Rubeln bei einer Gebühr von 183 Rubeln (1,65 Euro) zu erstatten.

 

Dank der historisch großen, nicht-tschetschenischen Bevölkerung hatte Grosny seit 1885 eine Baptistenkirche mit bis zu 300 Mitgliedern. Während der letzten Kriege sank die Besucherzahl jedoch auf 11. Es handelte sich ausschließlich um ältere Frauen, die heute nicht mehr leben bzw. nicht mehr in Grosny leben. Woloschin gibt an, daß - bis auf ein paar Fensterscheiben - die Kirche während des Krieges nicht beschädigt wurde. Selbst in diesem Fall entschuldigte sich ein russischer Soldat später dafür, ein Haus Gottes beschädigt zu haben.

 

Das Gebäude war jedoch instabil geworden, stand nicht mehr senkrecht und mußte abgerissen werden. Nach einer Bauzeit von nur einem Jahr wurde dann Ende 2019 auf demselben Grundstück eine neue Kapelle fertiggestellt. Das neue Haus bietet Platz für 150 Personen; die gegenwärtige Besucherzahl beträgt rund 25. Nebenan befindet sich ein neues Gästehaus.

 

Die Baptisten Rußlands mögen wenig Gold haben, aber sie haben goldene Hände. Grosny hat die Phantasie der Baptisten in ganz Rußland geweckt. Sie wollen wiederherstellen, was einmal war. Der Pastor erzählt, daß eine Arbeiterbrigade aus Brjansk im Westen das Fundament vollendete; moldawische Brigaden zogen die Wände und das Dach hoch. Die Gemeinde Wladikawkas hat gemalert; andere, darunter Krasnodar und Maikop, sorgten für Strom, die Heizung und den Fußboden.

 

Die derzeitige Gemeinde besteht mindestens aus Russen, Moldawiern, Armeniern und Ukrainern. Eine wichtige Rolle spielen Roma, von denen einige vor der Armut in Moldawien geflohen sind. Einer von ihnen erklärte: „Wir können überall leben, wo Gott ist.“ Der Pastor ist sehr offen für Gespräche und Gebete mit jedermann - die Nationalität muß nicht im Voraus geklärt werden. Er verachtet die Provinzialitäten der letzten Jahre und bezeichnet sich selbst als "sowjetischen Christen". Woloschin wurde in Moldawien als Sohn einer russischen Mutter und eines ukrainischen Vaters geboren und versichert, daß solche Konstellationen bis vor drei Jahrzehnten nie als ethnische Mischung angesehen worden sind.

 

Ruwim Woloschin begann seine kirchliche Arbeit als Missionar in der fernöstlichen Stadt Tschita und zog 1996 nach Moskau um. Dort war er 18 Jahre lang in der Missionsabteilung der Union der russischen Baptisten tätig, bis er 2014 nach Grosny wechselte. Mehrere neue Mitglieder der Gemeinde sind aus Nowosibirsk hergezogen.

 

In christlicher Hinsicht gehört Grosny eindeutig zur Diaspora. Die einzige registrierte protestantische Gemeinde ist diese hier. Der Pastor beschreibt die Beziehungen zum orthodoxen Priester Amwrosji (Martschenko) als herzlich. Mindestens drei Mitglieder der Baptistenversammlung sind Schullehrer. In einem Fall erhielt eine baptistische Lehrerin Gelegenheit, mit ihren Schülern zu beten. Es wurde nur erwartet, daß sie nach muslimischer Weise mit den Handflächen nach oben gerichtet betet. Nicht jeder Tschetschene kann als Muslim betrachtet werden; eine kommunistische Partei existiert noch. Ihr Anführer, Duma-Abgeordneter Muhmad Aschabow, wurde im August 2017 überfallen und getötet. Grosny hat keine römisch-katholische Gemeinde, aber Juden hoffen, eine Synagoge bauen zu können.

 

Nach einem grünen Licht aus Moskau wurde die Baptistengemeinde registriert. Diese Baptistengemeinde wird zweifellos weiterhin langsam wachsen, denn sie bleibt eine Option für junge Gläubige, die Herausforderungen und Abenteuer suchen, ohne die Grenzen ihres Landes überschreiten zu müssen.

 

Woloschin spricht sich gegen Aktionen aus, die als provokant empfunden werden könnten. Dazu zählen ein öffentliches Beten gemeinsam mit Muslimen, gemeinsame Prozessionen oder offene Missionsbemühungen. Er meint, daß man ohne Grund keine interreligiösen Spannungen schüren darf.

 

Der Baptistenpastor ist sehr zögerlich, eine globale, moralische Bewertung der Person Ramsan Kadyrows von sich zu geben. Dieser Führer hat übrigens eine Reihe protestantischer Bekannter, darunter den Moskauer Baptist Witali Wlasenko sowie den US-Boxer Mike Tyson. (Siehe unsere Meldung vom 7. April 2009 unter “Interkonfessionell”.) Dasselbe gilt für die Arbeit von Anna Politkowskaja, einer Menschenrechtsaktivistin während der Tschetschenienkriege, die 2006 in Moskau ermordet wurde. "Wer sich mit Menschenrechten beschäftigt, braucht eine juristische Ausbildung", betont Woloschin. "Ich habe kein Mandat für alles. Meine Aufgabe ist es, diejenigen zu unterweisen, die von Christus hören wollen."

 

Nur sehr wenige Dinge sind schlimmer als der Krieg und Woloschin räumt ein, daß das aus Ramsan Kadyrow und Wladimir Putin bestehende Duo dem Krieg und der Anarchie weit überlegen ist. Sie haben keine Utopie geschaffen, doch immerhin den Frieden gebracht. "Schau dir heute Libyen an", fügt der Baptist hinzu. "Das Leben mit Gaddafi war viel besser als das aktuelle Chaos". Mein Fazit: In Anbetracht der Hölle, die Tschetschenien vor 20 Jahren war, stellt Grosny in der Tat eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte dar.

 

Aber auch in Tschetschenien sind die Hoffnungen auf ein besseres Leben anderswo auf der Welt nicht tot. Ein junger Muslim beschrieb mir seine Träume, nach Manhattan zu ziehen. Ich versuchte, ihm möglichst sanft die Nachricht zu übermitteln, daß große Teile von New York City viel schlimmer aussehen als die ruinenfreie Stadt Grosny.

 

Ruwim Woloschin befürchtet, daß einige ukrainische Gläubige im Raum seiner ursprünglichen Heimat geistig unreif sein mögen: "Der geistlich reife Mensch kämpft für das Reich Gottes - und das ist keine territoriale Angelegenheit. Der I. Johannesbrief 1 erlaubt keine Feindschaft zwischen christlichen Brüdern." Doch er versteht den Schmerz der Ukrainer, die durch ihren Krieg gelitten haben, und meint: „Die Ukrainer werden in sich die wahren Tiefen des christlichen Glaubens wiederentdecken und anderen vergeben können."

 

Kommentar: Der westliche Liberalismus

Tschetschenien ist zwar eine Art Erfolgsgeschichte - aber sicherlich nicht in gleichem Maße für jeden. Feminismus und Geschlechtsumwandlungen sind nicht gerade willkommen und Homosexuelle wären gut beraten, schnurstracks auszuwandern. Das Land hat weder Punks noch Graffiti; einheimische Frauen sind in der Regel in Schwarz verhüllt. Doch immerhin stellen die relativen Errungenschaften dieses Modells Grundthesen des säkularen, westlichen Liberalismus in Frage. (Der ist ja auch der aktuelle Ausdruck des historischen, westlichen Imperialismus.) Und der muslimische "Terrorismus", wie wir ihn kennen, hat in dieser Gegend eine bedeutende Niederlage erlitten.

 

Pastor Woloschin meint, die Geschichte verweise auf eine lange Liste angesehener und erfolgreicher, autoritärer Führer. Rußlands Peter der Große und Katharina die Große würden dazu zählen. Nach Woloschin kann auch Kadyrow manche ihrer guten und schlechten Eigenschaften vorweisen. "Diejenigen von uns, die hier leben, finden Kadyrows Führung im wesentlichen positiv. Wenn Gott ihn ins Amt gesetzt hat, dann ist es unsere Pflicht, so gut wie möglich damit klarzukommen."

 

Ich persönlich werde an Eric Li, den Geschäftsmann und politischen Kommentator aus Schanghai erinnert: "Jede Nation kann nur den ihr eigenen Weg zum Glück und Erfolg finden - kein einziges politisches Maß paßt für alle."

 

Am 23. November landete ich wieder auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo. Als ich die Ankunftshalle betrat, stieß ich beinahe mit einem jungen Paar zusammen, das sich mit leidenschaftlichen Formen der Begrüßung befaßte. Ich war wieder im kulturellen Westen angekommen.

 

Dr. phil. William Yoder
Laduschkin/Kaliningrader Gebiet, den 05. Dezember 2020

 

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