Propenvolle Stadtbusse und leere Kirchen
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Auseinandersetzungen im Gebiet Kaliningrad über das korrekte Verhalten in der Corona-Krise
Kommentar
L a d u s c h k i n -- In der September-Nummer des Blattes „Gemeinschaft evangelischer Ostpreußen“ ist zu erkennen, daß in den lutherischen Gemeinden des Kaliningrader Gebiets die Meinungen über das korrekte Verhalten in der Corona-Krise auseinandergehen. Propst Igor Ronge verbietet sämtliche Gottesdienste und empfängt in der Regel keine Gäste. Als Begründung beruft er sich darauf, daß ihm im August auf seine Anfrage hin die Gebietsregierung die Wiedereinführung von Gottesdiensten verwehrte.
Diese restriktive Praxis hat zu Auseinandersetzungen geführt. Gerade ältere Lutheranerinnen, die die Kirchenpolitik des sowjetischen Staates durchlitten haben, sehen keinen Grund, in einer Ära der Glaubensfreiheit ganz auf Gottesdienste zu verzichten.
„Wir treffen uns in Eigenverantwortung,“ erwiderte die Führungsperson einer lutherischen Gemeinde im Gebiet. „Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Zusammenkünfte von 10 oder 15 Personen sind keineswegs verboten; wir verstoßen also gegen keinerlei Gesetze. Wären wir mehr als 30 oder 50 Personen, wäre das ein anderer Fall.“ Doch wegen der Haftungsfrage bei negativen Vorfällen verzichtet diese Gemeinde gegenwärtig auf eine Arbeit unter Minderjährigen.
Gleichzeitig versammeln sich spätestens seit August alle anderen Denominationen im Gebiet – Orthodoxe, Katholiken, Baptisten, Pfingstler – zu Gottesdiensten, manchmal mit mehr als 100 Teilnehmern. Dabei wird auch das Abendmahl gereicht. Das Gleiche gilt für Rußland überhaupt. In Moskau versammeln sich alle vorhandenen Denominationen; auch lutherische Gemeinden treffen sich quer durch Russland. (Ende März waren alle Gottesdienste im Gebiet eingestellt worden.)
Was wird, wenn die Pandemie bis 2022 anhält? Wird es dann noch eine nennenswerte Propstei Kaliningrad im Bereich der „Evangelisch-Lutherischen Kirche Rußlands“ geben? Größere und lebendigere Kirchen im Gebiet stehen für die Aufnahme lutherischer Gemeindeglieder parat. Eine orthodoxe Frau, die sich am Leben einer lutherischen Gemeinde beteiligt, versicherte mir: „Wenn die Leute wegen der Pandemie aufhören zu kommen, dann bleiben sie auch hinterher weg.“ Es gibt auch andere lutherische Denominationen in Russland, die sich bemühen wollen, die gegenwärtige Lücke im gemeindlichen Leben des Gebietes Kaliningrad zu schließen.
Wahrscheinlich wird Propst Ronge sehr lange auf eine ausdrückliche Genehmigung lutherischer Gottesdienste durch die Gebietsregierung warten müssen. Wenn sich der Staat in der glücklichen Lage befindet, keine Mithaftung für eine Infizierung, die innerhalb kirchlicher Räume vorkommt, übernehmen zu müssen - warum sollte er freiwillig auf diesen Vorzug verzichten?
Positiv gesehen könnte man behaupten, der Kaliningrader Propst möchte aus Liebe zu den Gemeinden alle Zusammenkünfte verbieten. So sehr ist er – im Gegensatz zu fast allen anderen Geistlichen des Landes - um die Gesundheit seiner Glieder besorgt. Ich meine jedoch, wir sollten uns an der Praxis der übermächtigen Orthodoxie orientieren. Sie führt im Gebiet Kaliningrad größere Veranstaltungen - sogar mit der Beteiligung von Kindern - durch.
Dr. phil. William Yoder
Laduschkin, den 17. November 2020
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