Heinrich Rathke auf Achse in Kasachstan
Am 6. Juni vergangenen Jahres befand sich Pfarrer Heinrich Rathke in Zentralasien, zu Fuß, beladen mit Geschenken, inmitten eines Schneesturms. Nach acht Stunden auf einem klapprigen Bus waren er und sein Begleiter auf offener Straße außerhalb der angepeilten Ortschaft ausgesetzt worden. Endlich erbarmte sich ihrer ein Motorradfahrer. Am Hause des Laienpastors standen sie jedoch vor verriegelten Türen und Fenstern. Nicht zum ersten Mal machte Rathke die Erfahrung, daß der erhoffte Gastgeber bereits in die Bundesrepublik umgesiedelt war. Um 19 Uhr wurde jedoch am entgegengelegten Ende des Ortes eine lutherische Hausgemeinschaft von zwölf Personen ausgemacht. Das sich dort anschließende Gespräch dauerte bis in die späten Nachtstunden hinein. "Dort gibt es kein Verständigungssystem mit Post und Telefon," erklärt Rathke. "Ich fahre irgendwohin, weil ich dort die Gemeinde weiß, oder vermute."
Pfarrer Rathkes aufregendste Nacht im ehemals sowjetischen Kasachstan – er lehnt die Bezeichnung "Altbischof" ab - verbrachte er in einem Zug umgeben von ihm völlig unbekannten Einheimischen und äußerst zweifelhaften hygienischen Verhältnissen. "Ja, ich hätte es vielleicht geschafft, mit einem Land Rover von Mercedes viel bequemer zu fahren, aber als Bischof habe ich auch nur mit einem Trabant oder Wartburg Landgemeinden besucht. Nur so bekomme ich dort die Nähe." Deshalb beschränkte er sich in Kasachstan auf die Verkehrsmittel, die auch den Einheimischen zur Verfügung stehen. "Ich habe gesagt, 'Brüder, begleitet mich von einem Ort zum anderen,' sonst hätte ich es lebend nicht überstanden." Bei dieser Fahrt machte Rathke einen Bogen um größere Städte und Hotels. Er wollte schlafen, wo die Evangelischen schlafen, sonst "wird es kaum möglich sein, den harten Alltag zu begreifen", den sie seit Jahrzehnten erleben.
Während seines zweimonatigen Aufenthaltes im vergangenen Jahr fuhr der ehemalige Bischof 5.500 Kilometer, besuchte 35 Ortschaften und hielt 55 Predigten sowie unzählige kürzere Andachten. Viele ältere Menschen hatten darauf bestanden, konfirmiert zu werden. Erstaunlicherweise hatte sich Rathke nur acht Monate zuvor aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig pensionieren lassen.
Bisher hat Rathke ohnehin niemals das Abenteuer gescheut. Im Jahre 1954 hatte er dem Westen den Rücken gekehrt und war mit seiner bayerischen Braut in die mecklenburgische Heimat zurückgekehrt. Dieser mutige Schritt ist ihm vortrefflich gelungen: 1971 wurde er zum Bischof von Mecklenburg gewählt. Dreizehn Jahre danach machte er einen zweiten höchst ungewöhnlichen Zug: Er verzichtete freiwillig auf die Schalthebel der Macht und kehrte als einfacher Stadtpfarrer in die Ortschaft Crivitz zurück
Rathke glaubt an die Anziehungskraft des Bescheidenen. "Ich halte das Prinzip, das mir auch in der DDR wichtig war," versichert er. "Zuerst möchte ich, daß die Gemeinden mit ihren eigenen Mitteln ihre Bedürfnisse decken. Wir dürfen nicht als reiche Spenderkirchen erscheinen. Wir wollen nicht große Sachen installieren, sondern zunächst den Gemeinden helfen, mit dem Geld, das sie selber aufbringen, arbeiten zu können. Wo es sich ergibt, können wir dann immer noch [finanziell] helfen."
Als "Bischöflicher Visitator" der kasachischen Lutheraner erwartete der pensionierte Pfarrer, daß die einheimischen Gemeinden für seine Kosten aufkamen. Hat diese Haltung den von Inflation gebeutelten Menschen vor den Kopf gestoßen? "Keineswegs!", entgegnet er. "Es ist ihnen eine Freude, einen Gast aufzunehmen. Sie fassen das eher als eine Beleidigung auf, wenn ich meine, meine DM seien hundertmal mehr Wert als ihre Rubel. Man will Bruder unter Brüdern bleiben, und nicht der reiche Onkel aus dem Westen werden". Bei seinem Abschied im vergangenen Juni wurden ihm noch 13.584 Rubel für die Mission und Hungerhilfe in Afrika überreicht.
Kasachstan verfügt über nahezu die Hälfte der rund 500 lutherischen Gemeinden in der ehemaligen Sowjetunion. Dieses Land hat sogar geringfügig mehr deutschstämmige Einwohner - 960.000 – als Rußland. Nichtsdestotrotz bleibt Kasachstan tiefste Diaspora. Rathke behauptet, manche Gemeinden, die er besuchte, hätten seit 60 Jahren keinen auswärtigen Besuch, nicht einmal von einer benachbarten Gemeinde, empfangen. Gegen Ende der dreißiger Jahre hatte Stalin dem Dienst der 250 ausgebildeten lutherischen Pfarrer in der gesamten Sowjetunion ein jähes Ende gesetzt: Nur einer der Überlebenden nahm danach den Predigtdienst - und zwar in Selinograd/Kasachstan - wieder auf.
Der neugegründete Staat Kasachstan verfügt über lediglich 14 Millionen Einwohner, rangiert jedoch hinter Indien als der siebtgrößte Flächenstaat der Welt. Trotz aller Einöde steht das Land vor Umweltsorgen der höchsten Alarmstufe: Nahe Semipalatinsk im Nordosten sind seit 1949 467 Atomversuche unternommen worden. Viele Gemeinden konnte auch deshalb nicht besucht worden, weil sie sich in den Sperrgebieten um das Testgelände befanden.
Im Mai soll die konstituierende Synode der "Evangelisch-Lutherische in Kasachstan" stattfinden. Sie wird eine selbständige Kirche bilden, die der z.Zt. noch in Riga ansässigen Kirchenföderation "Evangelisch-Lutherische Kirche in den Republiken des Ostens" angehören wird.
Die Schaffung dieser Kirche wird nicht nur Jubel auslösen: Das Priestertum aller Gläubigen gehört inzwischen zum Grunderbe der kasachischen Protestanten. Seit Jahrzehnten werden Taufen immer wieder von Omas und Tanten vorgenommen. Die Abgabe gemeindlicher Entscheidungsmacht an eine gebildete oder ausländische Pfarrerschaft verunsichert und macht ängstlich. "Die Zentralisierung ist etwas völlig Fremdes," räumt Rathke ein. "Für das Bildungsniveau eines Seminars sind in Kasachstan auch kaum Menschen vorhanden. Dort mußten die Leuten in Bergwerken und in der Landwirtschaft tätig sein. Das sagt aber über die geistliche Qualität dieser Menschen noch gar nichts aus."
Seit dem Niedergang der UdSSR ist der Wandel jedoch vorprogrammiert. Der Schrei nach Laienbildung ist unüberhörbar: Lutheraner werden um die Seelsorge in Krankenhäusern und Gefängnissen und den Bibelunterricht in Schulen gebeten. Das Arbeitspensum ist mitunter atemberaubend: In der Hauptstadt Alma-Ata hat ein Ältester innerhalb von drei Monaten 202 Personen im Alter zwischen 16 und 60 Jahren auf die Konfirmation vorbereitet.
Lutheraner stoßen auf neue ihnen ungewohnte Fragen: Dürfen Geschiedene wieder heiraten? Darf ein Selbstmörder kirchlich beerdigt werden? Wie kann einem zum Tode Verurteilten geistlichen Beistand geleistet werden? Darf eine Hosen tragende Frau, oder gar eine ohne Kopfbedeckung, in den Gottesdienst gelassen werden? Nach Rathke ist es niemals einfach, eine eiserne Tradition, die sich in langen Perioden der Verfolgung bewährt hat, zum alten Eisen zu legen. Doch muß eine Anpassung stattfinden, wenn die jüngere Generation für die Kirche gewonnen werden soll.
Der ehemalige Bischof resümiert: "In dem Augenblick, in dem man sich auf diese Menschen einläßt, gewinnt man sie lieb, bekommt man eine Nähe. Dann kann man sich vielleicht auch kritische Fragen erlauben, die nötig sind. Nachdem ich schon zwanzigmal dort war, bin ich wesentlich zurückhaltender in meinen Urteilen als nach der ersten oder der zweiten Reise. Dann weiß man alles viel besser."
Der politische und wirtschaftliche Chaos wirft der Kirche große Fragezeichen auf: Der Rubel, einst mit über drei DM bewertet, hat nur noch einen Wert von weniger als einem Pfennig. Für einen Flug quer über Kasachstan bezahlte Rathke umgerechnet nicht einmal fünf Mark, eine Fahrt mit dem Überlandbus kann dem Kasachen jedoch 100 Rubel abknöpfen. Das beträgt bis zu einem Drittel seines durchschnittlichen Monatsgehalts, was heißt, daß der Kasache gegenwärtig weniger als umgerechnet vier DM pro Monat verdient.
Anfang dieses Jahres hat Kasachisch Russisch als Amtssprache abgelöst. Deutschstämmige, die sich nur mühevoll des Russischen angeeignet haben, stehen nun ratlos einer dritten Sprache gegenüber. Obgleich die orthodoxe Kirche in Kasachstan kaum präsent ist, bilden neben ethnischen Querelen das Vordringen des islamischen Fundamentalismus und der christlichen Sekten ernsthafte Gefahren für den evangelischen Glauben.
Im April und Mai wird sich Rathke abermals in Kasachstan befinden. Deutschstämmigen Lutheranern in den benachbarten Staaten geht es noch schlechter, vor allem in dem krisengeschüttelten Tadschikistan. Bei dieser Reise hofft der wackere Bischöfliche Visitator, auch ihnen einen Besuch abzustatten.
Bill Yoder
Berlin, den 2. Februar 1993
Verfaßt für den „Evangelischen Pressedienst“ in Frankfurt/M., 1.198 Wörter
Anmerkung von Oktober 2020: Der inzwischen hochbetagte, 1928 in Mölln geborene Heinrich Rathke war von 1971 bis 1984 Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs.