Je stärker der Druck, desto höher der Kirchturm
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Wie gehen Protestanten mit einem schwierigen Staat um?
Zwei Fotos, aufgenommen am 15.03.2020:
1. Auf dem Prospekt Mira: die neue orthodoxe Kirche vom Osten her.
2. Im Vordergrund die „Auferstehungskirche“, jenseits der Straße die orthodoxe Kirche.
L a d u s c h k i n -- Nach einem Besuch in Moskau Ende Februar wunderte sich ein deutsch-russischer Pastor und Journalist aus Rheinland-Pfalz über das Verhalten der russischen Baptisten in der gegenwärtig angespannten Lage. In einem Aufsatz vom 10. März, der auch von protestantischen Webseiten in Rußland übernommen worden ist, erwähnte Andreas Patz einen Geistlichen aus dem russischen Hinterland. Seine Schilderung von rund 40 Gerichtsverfahren, die gegen Ortsgemeinden geführt worden sind, rundete er mit der Schlußfolgerung ab: "Es gibt in unserem Land eine beispiellose Freiheit für das Evangelisieren.“ O-Ton Patz: „Das Interessanteste ist, daß die Aussage des Pastors völlig aufrichtig ist, es gibt darin kein Anzeichen von Sarkasmus.“
Nach Patz gaben sich Baptisten selber die Schuld, als ihr Moskauer Seminar am 27. Februar 2020 die Registrierung entzogen wurde. Diese Einrichtung ist immerhin das älteste und bekannteste evangelische Seminar des Landes. Ferner führen Baptisten fehlendes Gemeindewachstum auf die eigene mangelhafte geistliche Ausstrahlung zurück.
Strafmaßnahmen werden laut Patz verniedlicht. In einem Fall wurde einer Gemeinde am Schwarzen Meer nach 110 Jahren untersagt, Taufen im Meer vorzunehmen. Eine benachbarte Gemeinde wollte keinen Ärger mit den Behörden und schlug ihr einfach vor, ein gemietetes, aufpumpbares Schwimmbecken in einem Park aufzustellen.
Laut Patz freuten sich die Baptisten darüber, zu einer orthodoxen Konsultation über die jüngsten Änderungen in der Staatsverfassung eingeladen zu werden. Ihre Stellungnahme dazu sprach von „Zufriedenheit“, „Bestätigung“ und „Unterstützung“. Evangelische also freuen sich über den Schulterschluß in moralischen und sittlichen Fragen mit dem Peiniger. Man bedankt sich dafür, überhaupt beachtet zu werden. Und man freut sich über das begrenzte Maß an Freiheit, das den Freikirchen noch verblieben ist.
Ohne ihn namentlich zu erwähnen, deutet der Verfasser an, Peter Mitskewitsch, dem Präsidenten des Baptistenbundes, gehe übermäßig stark auf die Orthodoxie zu. Sogar innerhalb der Wände eines Seminars, dem die Lizenz entzogen worden war, wollte der Präsident nur über die Identität und das Selbstverständnis der russischen Baptisten reden. Gemeint war Mitskewitsch’ Auftritt beim Moskauer Seminar des Kirchenbundes von Sergei Rjachowski, der „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“ (ROSChWE), am 28. Februar.
Am Schluß seines Aufsatzes gebraucht Patz das Märchen von Dmitri Mamin-Sibirjak über die einst verletzte Ente, die bei der Genesung vergessen hatte, daß sie noch fliegen könnte. Auf dem Eis im Frühling zieht der gierige Fuchs immer engere Kreise. Und wenn die Eisschmelze nicht rechtzeitig eintrifft, wird der Fuchs eine leckere Mahlzeit vor sich haben. Fazit: Freiwillig erlegen sich die Kirchen todbringende Selbstbeschränkungen auf.
Andreas Patz, geboren 1966 in der UdSSR, ist 1989 nach Deutschland umgesiedelt. Er wohnt in Idar-Oberstein und ist Pastor einer Aussiedlergemeinde in Birkenfeld. Renommiert als Journalist in den baptistischen Kreisen Rußlands und der Ukraine, ist er jedoch in Deutschland kaum bekannt, denn er publiziert nahezu ausschließlich auf Russisch. Auch dieser Beitrag ist auf Russisch erschienen.
Kommentar
Wessis wie Pastor Patz begeben sich auf dünnes Eis, wenn sie aus sicherer Entfernung die Bürger Rußlands zum Widerstand auffordern. Das war ein häufiger Vorwurf zuzeiten der DDR. Die Leute, die im Trockenen sitzen, belehren die Menschen in der DDR, die handfesten Gefahren ausgesetzt sind.
Doch wahrscheinlich hinkt diese Darstellung: Würden jene im Trockenen „trocken“ bleiben, wenn sie Partei ergreifen würden für die darbenden Völker (Iran, Venezuela, Nordkorea u.a.), die gerade jetzt lebenzerstörenden Sanktionen der westlichen Supermacht ausgesetzt sind? Dann wäre ihr „goldener Käfig“ sicherlich weniger trocken. Doch für einen Wessi, der sich für die Ferne engagiert, sich jedoch passiv gegenüber der Politik des eigenen Landes verhält, trifft der obige Vorwurf zu. Ob das persönlich auch für Patz zutrifft – das weiß ich nicht.
In Anlehnung an den Moskauer Religionswissenschaftler Roman Lunkin verwendet Patz den Begriff eines „orthodoxen Protestantismus“. Nach Patz seien die Protestanten „viel staatstreuer als ihre orthodoxen Landsleute“. Schon wegen der verschiedenen Größenordnungen ist diese These gewagt. Darf man Elefanten mit Mäusen vergleichen? Und kann man angesichts der gewaltigen Unterschiede innerhalb der Orthodoxie überhaupt von einer „orthodoxen Meinung“ in politischen Fragen reden? Schon innerhalb der orthodoxen Hierarchie gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Und wäre es verwerflich, wenn Baptisten „orthodoxer“ werden würden? Nicht von vornherein – der Terminus müßte genau definiert werden.
Es wird behauptet, daß etwa in Russisch-Fernost die Maus präsenter sei als der sogenannte Elefant. Und im Weltmaßstab sind die Protestanten der Orthodoxie mehr als nur ebenbürtig. Doch wenn es sich um die öffentliche Beachtung und politische Schlagkraft innerhalb Rußlands handelt, dann stellen die Protestanten eine Maus dar. Und das gilt erst recht seit der gewaltigen Ausreisewelle der letzten 45 Jahre. („Maus“ klingt unappetitlich – „Streifenhörnchen“ oder „Ziege“ wäre besser. Mir geht es doch nur um die Größenverhältnisse.)
Auf dem Prospekt Mira in Kaliningrad gibt es die schöne, 1999 fertiggestellte ev.-lutherische „Auferstehungskirche“. Nun entsteht ganz dicht auf der
gegenüberliegenden Straßenseite eine alles überragende orthodoxe Kirche. Aus einer Entfernung von einem Kilometer sind nur goldene Zwiebeltürme zu sehen (siehe Fotos). Der Anblick wirkt auf mich
fast wie eine Bedrohung, denn die treue-aber-kleine Schar der Evangelischen nebenan bedroht niemanden. Hätte dieses Häuflein einen derartigen Aufwand seitens der Orthodoxie verdient? Zugegeben:
Den bereits in die Jahre gekommenen evangelischen Bau selbst könnte man nicht als „bescheiden“ beschreiben. Der Neubau trägt den Namen „Kirche der großen
Märtyrerin Katharina“. Sie hat vermutlich im 4. Jahrhundert gelebt.
Es handelt sich eben um eine häufig vorgenommene Defensivmaßnahme der russischen Nation: Wo Protestanten einen schönen Bau in die Welt setzen, antworten Orthodoxe zumindest mit einer kleinen Kapelle in unmittelbarer Nähe. Ähnlich groß ist der „Gegenbau“ weiter ostwärts in der Stadt Gussew/Gumbinnen geraten, wo Lutheraner über die kleine-aber-feine „Salzburger Kirche“ verfügen. Die Denkweise ist nicht neu: Schon im Baltikum des 14. Jahrhunderts nutzten die angereisten Kreuzzügler ihre stattlichen Bauten, um gegenüber den einheimischen Völkern ein Zeichen zu setzten.
Mein Fazit: Je näher die Bedrohung, desto höher der Kirchturm. Die drei baltischen Kleinstaaten fühlen sich vom übergroßen Rußland bedroht. Rußland fühlt sich aber genauso von der NATO bedroht. Es fühlen sich eben alle bedroht.
Wir müssen den größeren Zusammenhang sehen. Nur äußerst selten betritt ein drohendes Ungeheuer aus dem Nichts und völlig unerwartet die öffentliche Bühne. Gegenwehr ist kein Zufall; sie hat ihre Ursachen. Politik besteht im wesentlichen aus einer ununterbrochenen Kette von Reaktionen – man könnte auch von einem Netz von Reaktionen sprechen. Es gibt verständliche Gründe, warum sich die Nordkoreaner über sechs Jahrzehnte hinweg daneben benommen haben. Und seit Anfang des 19. Jahrhunderts hat Westeuropa Rußland mehrmals überfallen.
Also nehmen wir den Russen die Angst. Mit vertrauensbildenden Maßnahmen – gekoppelt mit Ehrlichkeit - können wir (nach Bonhoeffer) dem destruktiven Gang der Dinge in die Speichen fallen. Das wird nicht leicht sein: In Rußland ist der Ruf der Protestanten belastet. Wir haben recht unheimliche Freunde. Der US-Außenminister und Presbyterianer Mike Pompeo tritt auch während der Corona-Krise für Sanktionen gegen Iran, Venezuela und Kuba ein. Und jenseits der Graben in der Groß-Ukraine machen sich nicht wenige Protestanten für die militärische Rückeroberung der Kleinstaaten von Donetsk und Lugansk stark. Zu ihnen zählt der mächtige, baptistische Sicherheitschef Oleksandr Turtschynow. Da kommt man in Rußland nur voran, wenn man sich von derartigen Ansichten distanziert.
Gewiß: Gewöhnlich befinden sich die Konfessionen auf beiden Seiten der Barrikaden. Es waren Orthodoxe (Kiewer Patriarchat) und dem Vatikan unterworfene Griechische-Katholiken, die buchstäblich Munition für den Krieg in der Ost-Ukraine gespendet haben (siehe unsere Meldung vom 31. Dezember 2014). Doch im staatskirchlichen, russischen Kontext können sich die Elefanten mehr erlauben als die Mäuse.
Man kann behaupten, auch in der Kirchenpolitik bestünde eine gelungene Politik aus der richtigen Dosierung von Zuckerbrot und Peitsche – erforderlich sei beides. Doch den Mäusen bleibt nur noch das Zuckerbrot übrig, wenn einem östlichen Staat das Empfinden der westlichen Nachbarn richtig schnuppe ist. Das war die Lage in China um das Jahr 1950: Nur durch Vereinbarungen im Inland, nur durch kirchliches Entgegenkommen gegenüber den Vorstellungen des neuen, revolutionären Staats, war ein öffentliches Wirken der Kirchen überhaupt denkbar. Der Westen hatte abgewirtschaftet; die Kirche konnte nur noch auf die Gnade Gottes und des Staates hoffen. Damals in China verfügte die Maus über keinerlei Peitsche.
Gott sei dank ist es noch nicht so weit in Russland: Streckenweise bleibt Rußland die Meinung der westlichen Staaten wichtig. Das stattet die Protestanten Rußlands mit zusätzlichem Gewicht aus.
Laßt uns für eine bessere Großwetterlage sorgen. Laßt die russische Öffentlichkeit wissen, daß wir Protestanten Menschen des Friedens und des Ausgleichs sind. Machen wir uns überall – sogar auf der Straße - für Rüstungsvereinbarungen am Verhandlungstisch stark. Das wird im Osten einen guten Eindruck hinterlassen. Und das machen wir nicht aus Kalkül, sondern weil Gott eben Verhandlungen, Frieden und Verständigung will.
Pastor Patz hat nicht überall Unrecht: Es ist einerseits bedenklich, wenn sich eine Gemeinde übereilig mit einem Gummibecken im Park abfindet. Doch andererseits ist es auch in Ordnung, wenn sich die Maus über eine Einladung vom Elefanten freut. Das darf die Maus, damit wird Anerkennung ihr gegenüber ausgedrückt. Es gibt unzählige Beispiele dafür, daß sich auch umgekehrt der Elefant über die Besuche von Mäusen gefreut hat. Lernen wir uns besser kennen, Vertrauen schaffen – das hat Verheißung.
Dr.phil. William Yoder
Laduschkin, Kaliningrader Gebiet, den 12. April 2020
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Kommentar einer Pfarrerin und ehemaligen DDR-Bürgerin, die diesen Text gelesen hat. Sie hat die DDR und die Wirrungen, die danach kamen, hautnah miterlebt. „Ganz egal ob berechtigt oder unberechtigt - das Urteil der Menschen ist sehr wandelbar. Darum sollen wir ja auch überhaupt nicht richten, sondern das Urteil Gott überlassen. Und am besten ist, man bleibt sich selber treu und den anderen gegenüber ehrlich. Dazu gehört aber Mut.“