Die Vielfalt ist angekommen
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Der Protestantismus im heutigen Rußland
L a d u s c h k i n -- Noch hat sich der biologische Hammer nicht voll durchgesetzt: In der Moskauer Zentralen Baptistengemeinde nur wenige Kilometer vom Kreml entfernt ist die alte evangelische Gemeindekultur der Sowjetära noch zu erleben. Männliche Prediger in Anzügen ermahnen zum rechtschaffenden Leben, es sind jedoch die Frauen, die das öffentliche Beten vereinnahmen. Die Reihen sind voll und der Chor bestens bestückt – sonst erlebt man diese sowjetische Restkultur vor allem in den Aussiedlergemeinden Deutschlands.
Szenenwechsel. Dank der Elektronik ist es in der Mehrheit der Gemeinden evangelischer Benennung in Rußland laut geworden. Die erste halbe Stunde des Gottesdienstes erlebt man im Stehen; Lieder, die vor allem die monarchistischen Eigenschaften Gottes besingen, erscheinen auf der Leinwand. Röcke tragen nur die Frauen jenseits von 50. Kopfbedeckung kommt auch bei männlichen Gästen vor, die nichts dabei empfinden, eine Baseballkappe im Gottesdienst zu tragen. Abgesehen von der Sprache, könnte man meinen, in München zu sein.
Vielfalt ist angesagt. Ähnlich wie der Staat Jugoslawien ist der russische Protestantismus nach 1990 in tausend Stücke geborsten. Unter dem Deckmantel des „All-Unionsrates der Evangeliumschristen-Baptisten“ hatten sich ab 1943 auch die Evangeliumschristen, Pfingstler, Reformierten, Mennoniten, sogar manche Adventisten und Lutheraner versammeln müssen. Nach der Wende gingen alle eigene Wege. Diese Auflösung war auch geografisch bedingt: Viele Gemeinden, die einst dem All-Unionsrat angehörten, befanden sich plötzlich in einem ausländischen Staat wie der Ukraine, Lettland, Kasachstan oder Armenien.
Heute verfügt Rußland über zwei große Pfingstbünde und mindestens drei multikonfessionelle Bünde. Letztere gelten als Schirm, um all jenen einen Rechtsstatus zu verleihen, die in keiner der etablierten Kirchen untergekommen sind. So kommt es vor, daß es methodistische Gemeinden verstreut über mehrere überkonfessionelle Bünde gibt. Auch Reformierte und Nazarener kommen in verschiedenen Bünden vor. Das ist bei reformierten und methodistischen Kreisen koreanischen Ursprungs nicht gerade verwunderlich. Selbst in Südkorea gibt es vier Evangelische Allianzen und über 120 selbständige Kirchen, die sich allesamt „Presbyterianische Kirche Koreas“ – mit noch Bindestrich und Zusatz - nennen. Nicht einmal die „Presbyterian Assembly“ Rußlands, die sich als Sammelbecken für alle Gemeinden presbyterianischer Benennung versteht, hat den Überblick. Es gibt in Rußland vier größere lutherische Kirchen plus winzige Ableger.
Nicht zu vernachlässigen sind die nichtregistrierten Baptisten. Z.T. wegen ihrer starken Neigung zur Auswanderung tragen sie heute den Namen: “Internationale Union der Kirchen der Evangeliumschristen-Baptisten”. Just am Tage des Mauerbaus, am 13 August 1961, hatte sich der All-Unionsrat in registrierte und nichtregistrierte Gemeinden aufgespalten. Im vergangenen Vierteljahrhundert haben sich nicht wenige mennonitische Gemeinden Westsibiriens diesem Kirchenbund angeschlossen. Das stattet sie mit zusätzlichen Kontakten und Ressourcen aus – nicht jedoch mit einem rechtlichen Status.
Sergei Rjachowski, leitender Bischof des größten, protestantischen Gemeindebundes Rußlands, der „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“ (ROSChWE), stammt ebenfalls aus einer nichtregistrierten Union von Pfingstlern. Doch sie existiert nicht mehr und die registrierte, höchst-öffentliche ROSChWE versteht sich als deren Nachfolgerin.
Als Überbleibsel des einstigen All-Unionsrats bleibt die „Russische Union der Evangeliumschristen-Baptisten“ (RUECB). Ein entscheidender Bruch erfolgte 2008, als der Moskauer Unternehmer und Publizist Alexander Semtschenko seinen Hut nahm. Aus diesem Baptisten wurde ein Evangeliumschrist; er gehört somit zu den Gründern der „All-Russischen Gemeinschaft der Evangeliumschristen“. Sie ist bekannt in Rußland unter der Abkürzung „WSECh“ und versteht sich als konfessionelle Partnerin des „Bundes Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland“ (FeG). Man könnte sagen, Evangeliumschristen - es gibt sie nicht nur bei WSECh – besetzen in Theologie und Stil den Zwischenraum zwischen Baptismus und Pfingstlertum. Die Evangeliumschristen sind in der Regel weniger anfällig für einen fundamentalistischen Calvinismus und offener für das Charismatische.
Die theologische Vielfalt besteht auch innerhalb von Benennungen. In der ROSChWE z.B. reicht die Spanne von nicht-charismatisch bis hin zu extrem-charismatisch. Zur letzten Kategorie gehört die in Riga/Lettland beheimatete „Nowoe Pokolenie“ (Neue Generation), die nur z.T. unter den Schirm der ROSChWE schlüpfen konnte. Die bekannteste Gemeinde der Neuen Generation befindet sich im fernöstlichen Blagoweschtschensk und wird von dem Armenier Michail Darbinjan angeführt.
Die neuen Gesichter
In vielen Baptisten- und Pfingstgemeinden ist im Gottesdienst eine Reihe ruhiger Männer ohne Anhang zu sehen. Das sind die Menschen aus den Reha-Zentren; diese beiden evangelischen Gemeinschaften haben in den letzten drei Jahrzehnten eine beachtenswerte Rehabilitierungsarbeit unter Alkohol- und Drogensüchtigen entwickelt. Was den freiwilligen Helfern an Fachausbildung fehlte, machten sie mit Fleiß und Zuwendung wett. Es ist sogar eine neue charismatische Kirche entstanden, die „Ischod“ (Exodus), die überwiegend aus ehemaligen Suchtkranken und deren Familien besteht.
Protestanten haben es sehr viel schwerer gehabt, die Intelligenz für die Sache des Evangeliums zu gewinnen. Verständlich, denn historisch gesehen stammen Baptisten und Pfingstler nur selten aus gebildeten Kreisen. Die wenigen Intellektuellen, die es unter ihnen gibt, kommen z.B. auf einer russischsprachigen Webseite aus Toronto, der „Christian Megapolis“, vor. Innerhalb Russlands selbst gibt es die Zeitschrift „Mirt“ (Myrte) aus St. Petersburg.
Viele charismatische Gemeinden bestehen fast ausschließlich aus Menschen, die erst seit 1990 den Weg zum Glauben gefunden haben. Die Pastoren sind auch gar nicht selten pensionierte Armeeoffiziere. Da versteht es sich von selbst, daß solche Gemeinden über wenig Zugang zu den kirchlichen Sitten und Gebräuchen der Sowjet-Ära verfügen. Das macht sie für kulturelle Importe aus dem Westen besonders offen. Die nichtregistrierten Baptisten entwickelten eine vehemente Abwehr gegenüber den kulturellen Einflüssen des Westens – auch gerade jene, die im Westen ihre Zelte aufgeschlagen haben.
Zahlreiche neue Gesichter unter den Baptisten Russlands haben mit dem Calvinismus zu tun. Dabei dreht es sich um eine sehr spezifische Form des Calvinismus, die von dem kalifornischen Prediger John F. MacArthur und seinem „Master’s Seminary“ propagiert wird. Traditionalistische Baptisten finden die Bibelbezogenheit und anticharismatische Ausrichtung dieser Lehre verlockend. MacArthur denkt schwarz-weiß: Die römische Kirche und deren Papst hat er bereits als „satanisch“ gegeißelt. Weitere Elemente sind noch Kreationismus, der Vorrang des Mannes und die Ablehnung einer homosexuellen Orientierung. Doch schwerverdaulich für die historisch arminianischen Baptisten sind die Merkmale dieser calvinistischen Lehre: die Auserwählung, die begrenzte Versöhnung, die „unwiderstehliche Gnade“ und die „Beharrlichkeit der Heiligen“ (eine unumkehrbare Erlösung). Ein Baptistenpastor fragte vor einem Jahrzehnt: „Wie kann ich für gutes Benehmen in der Gemeinde sorgen, wenn ich die Lehre von Einmal-für-immer-gerettet vertreten müßte?“ Die neuen Gemeinden dieser Calvinisten werden in der Regel „Biblelgemeinden“ genannt – nicht „baptistisch“.
Trotz aller staatlichen Einschränkungen bleibt die im Jahre 2000 in Samara/Wolga gegründete Bibelschule MacArthurs recht aktiv. Sie arbeitet parallel zum üblichen Lehrbetrieb der RUECB und rekrutiert ihre Schüler fast ausschließlich aus baptistischen Kreisen. Doch Praktiken wie das Grasen auf fremden Wiesen wollte der große ukrainische Baptistenbund nicht mehr hinnehmen. Anfang März 2019 kappte er seine institutionellen Verbindungen zu MacArthur und gab dessen Dozenten auf dem Seminar in Irpen bei Kiew den Laufpaß. Den meisten Evangeliumschristen Rußlands ist die Lehre MacArthurs zu konservativ; den nichtregistrierten Baptisten ist sie zu liberal bzw. einfach zu ungewöhnlich.
In Deutschland hat die Arbeit MacArthurs unter den Aussiedlern punkten können; eine von Johann Friesen gegründete Gemeinde in Berlin-Hellersdorf beherbergt eine Niederlassung des „Europäischen Bibel Trainings Centrums“ (sic). Das Zentrum wird aus Kalifornien stark unterstützt.
Der Exodus aus Rußland
Die neuen Gesichter in den Gemeinden Rußlands haben auch damit zu tun, daß die alten Gesichter fehlen. Es wird sogar die Auffassung vertreten, seit 1990 habe die Mehrheit der im Baptismus erzogenen Menschen jüngeren Alters Rußland verlassen. Eine Folge davon ist, daß die nachgerückten, neuen Baptisten die Gemeindekultur der Sowjet-Ära nicht mehr kennen.
Bis zu 95% der Mennoniten haben Rußland verlassen; bei den Lutheranern liegen die Zahlen ein wenig niedriger. Inzwischen sind in manchen Dörfern und Kleinstädten ganze Gemeinden ausgestorben. Die lutherische Gemeinde in der fernöstlichen Großstadt Chabarowsk hat nur noch etwa acht Mitglieder; die Baptisten hingegen haben acht Gemeinden in der Stadt, allesamt mit eigenem Gemeindehaus.
Völlig anders als zu Sowjetzeiten hat heute wohl jeder Protestant Verwandtschaft und Bezugspersonen im westlichen Ausland. Das Gute bei diesem Niedergang ist, daß die Ausgereisten zum finanziellen Überleben der zurückgelassenen Gemeinden beitragen. Musikpädagogen und Theologen aus Rußland, die etwa im Bundesstaat Washington, Kalifornien oder Florida Vorlesungen abhalten, verdanken einen nicht unerheblichen Prozentsatz ihres Einkommens diesen russischsprachigen Auslandsgemeinden.
Die Gemeinden der Ausgereisten entwickeln sich in entgegengesetzte Richtungen. In Nordamerika wird sich in absehbarer Zeit die Mehrheit der Gemeinden in die heimische Landschaft voll integriert haben. Schon heute ist ein hoher Prozentsatz der jüngeren Menschen in diesen Gemeinden des Russischen nicht mehr mächtig. Aus Russen sind US-Amerikaner geworden. In Deutschland hingegen gibt es eher Gemeinden auf Abwehrhaltung; die von ihnen gepflegte Subkultur bleibt stark.
Gemäß der Devise, daß die wahren Deutschen in Namibia leben, sorgen baptistische Ordnungshüter im Westen dafür, daß die Daheimgebliebenen nicht auf neuartige Abwege geraten. Diese Tendenz ist gerade im Internet zu vernehmen. Nachdem der ehemalige Präsident des Baptistenbundes, Juri Sipko, im Oktober 2011 die erwähnte Gemeinde der Neuen Generation in Blagoweschtschensk an der chinesischen Grenze seine Aufwartung gemacht hatte, hagelte es Proteste aus Kalifornien. Das begann noch vor Sipkos Landung zurück im heimatlichen Moskau.
Im Ausland sowie in Rußland fällt die Umstellung aufs Heutige nicht leicht. Die „Zweite Baptistengemeinde“ in Moskau versucht einen Zwischenweg zu gehen und Elemente des Herkömmlichen mit dem Zukünftigen zu verbinden. Dort bleibt die wundervolle Chormusik erhalten, doch in der Gottesdienstgestaltung bemüht man sich um einen abgewandelten Stil. Nichtsdestotrotz nimmt die Jugend von der Gemeinde Abschied – anderswo gibt es Gemeinden, die lauter, flotter und jünger sind. Moskau gehört zu den wenigen Städten, die es sich leisten kann, protestantische Gemeinden für jeden Geschmack zu bieten.
Fragen zur Ökumene
Noch in den 80er Jahren konnte der All-Unionsrat behaupten, mehr als eine Million Gläubige zu vertreten. Heute hat seine Nachfolgeorganisation, die RUECB, noch rund 70.000 Mitglieder. Der Rest ist in andere Denominationen abgewandert, lebt im Westen oder in einer der ex-sowjetischen Republiken. In Russland insgesamt gibt es heute nicht mehr als eine Million Protestanten insgesamt.
Angesichts aller Brüche, Aufbrüche und Verrenkungen gibt es gegenwärtig keine vernehmbare, gemeinsame Stimme des russischen Protestantismus. ROSChWE-Bischof Sergei Rjachowski, heimlicher Führer des „Konsultativrats der Leiter der protestantischen Kirchen Rußlands“, würde diese Aufgabe gerne wahrnehmen. Doch der Baptistenbund und sogar eine Reihe von Pfingstgemeinden machen beim Konsultativrat nicht mit. Witali Wlasenko, Internationaler Botschafter für die „Russische Evangelische Allianz“ hält das Herausbilden einer gemeinsamen, protestantischen Stimme gegenüber der russischen Gesellschaft für eine herausragende Aufgabe der Gegenwart. Im Gegensatz zum Konsultativrat baut sich die Allianz dezentral von unten nach oben auf.
Es kommt hinzu, daß sich in Osteuropa eine Art Gegenökumene entwickelt. (In Rußland selbst ist das Wort „Ökumene“ verpönt.) Beispielsweise
bildete sich 2014 eine vom Arzt Levan Akhalmosulishvili angeführte “Evangelisch-Baptistische Föderation Georgiens“. Die US-amerikanische,
mit MacArthur liierte „Slavic Gospel Association“ war dann führend dabei, als sich diese neue Abspaltung der “Euro-Asiatischen Föderation von Unionen der Evangeliumschristen-Baptisten„ anschloß. Diese Euro-Asiatische
Föderation, die in allen einst sowjetischen Republiken außerhalb des Baltikums vertreten ist, ist de facto eine konservative, russischsprachige Alternative zur westlich-geprägten,
englischsprachigen „Europäischen Baptistischen Föderation“ (EBF).
Mit wechselndem Einsatz betreibt die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) seit Mitte der 90er Jahre ein „Christliches Interkonfessionelles Beratungskomitee für die GUS-Staaten und das Baltikum“ (ChMKK). Da sie sich nicht mehr für den Genfer „Weltrat der Kirchen“ engagiert, versteht die ROK dieses Gebilde als eine interkonfessionelle Alternative.
Die Orthodoxie
Es gibt konservative orthodoxe Kreise, die in Moskau ein „Drittes Rom“ (nach Rom und Konstantinopel) und die letzte Bastion eines einst christlichen Abendlandes erspähen. Nach ihnen sind die historischen Kirchen des Westens der Beliebigkeit, dem Hedonismus und Individualismus erlegen. Darum fällt nun der ROK die Aufgabe zu, die historischen christlichen Werte – die Familienwerte und die christliche Kultur – zu verteidigen. Mit von der Partie sind anti-schwule, westliche Aktivisten wie Paul Cameron, Scott Lively und Franklin Graham, Leiter der „Billy Graham Evangelistic Association“. Doch der Moskauer Religionswissenschaftlicher Roman Lunkin versichert, die orthodoxe Hierarchie habe bereits von diesen Vorstellungen Abstand genommen.
Es wird allgemein angenommen, daß starke Kreise der ROK hinter den staatlichen „Jarowaja-Gesetzen“ von August 2016 stecken. Sie haben das öffentliche Missionieren erschwert und schon tausendfach zu Geldstrafen geführt. Doch bisher sitzen fast nur die Zeugen Jehovas im Gefängnis.
Es gibt aber auch Beispiele dafür, wie sich Orthodoxe und Protestanten an der Basis schätzen lernen und gemeinsame Vorhaben entwickeln. Im Normalfall schreit keiner „Hurra“, wenn sich ein Pfingstprediger in einer Kleinstadt niederläßt. Doch im fernöstlichen Bielogard hat der deutschstämmige Alexander Kaiser in den letzten 15 Jahre eine Rehabilitationsarbeit mit 100 Betten aufgebaut, die ihres Gleichen sucht. Die Polizei vermittelt Bedürftige; ein orthodoxer Priester und ein Kloster tragen zum Aufbau der Arbeit bei. Sogar das Büro des Staatspräsidenten Putin half mit einer beträchtlichen Geldspende über die Runden. Auch in Rußland werden Treue, Ausdauer und Rechtschaffenheit mit gesellschaftlichem Entgegenkommen belohnt. Als gern gesehene Handwerker und Mechaniker, genießen die nichtregistrierten Baptisten Westsibiriens weiterhin eine breite Duldung seitens der Regionalbehörden.
Pastor Wlasenko versichert, die sich aus den Jarowaja-Gesetzen ergebenden Mißstände werden sich nicht durch juristische Auseinandersetzungen etwa vor dem Europäischen Gerichtshof lösen lassen. Er insistiert: „Die Probleme, die wir haben, sind politischer, nicht juristischer Natur.“ Nach seiner Überzeugung gibt es keine Alternative zu einer vertrauensvollen Diplomatie von Angesicht-zu-Angesicht. Gerade daran hapert es häufig: Orthodoxe und protestantische Geistliche kennen sich noch viel zu wenig.
Die Ukraine – ein Kommentar
Es ist nicht zu bestreiten, daß die Aufspaltung der ostslawischen Welt nach dem Euromaidan im Februar 2014 wie ein Dolch ins Herz des Protestantismus stieß. Geistliche und leibliche Geschwister fanden sich plötzlich in feindlichen Lagern wieder; eine Welt zerbrach. Die Leiter der protestantischen Kirchen der Ukraine machten es einseitig zur Vorbedingung für die Aufnahme von Gesprächen, daß sich die russischen Partner von der Ukraine-Politik ihrer Staatsführung distanzierten. Deshalb herrscht seit Ende 2014 Funkstille zwischen den evangelischen Kirchen in beiden Staaten.
Historisch gesehen sind die ukrainischen Protestanten größer, flinker und wohl auch intellektueller als ihr russisches Gegenüber. Nach 1990 wollten die Ukrainer eine „moderne“ Kirche werden, die sich politisch an den Belangen des Staates beteiligt und „der Stadt Bestes sucht“. Der heutige Sicherheitsminister Oleksandr Turtschynow, ein ehemaliger Kommunist und heutiger Baptist, ist ein führendes Beispiel für diese Wandlung.
Die „altmodischen“ Russen hingegen blieben bei der traditionellen Aversion hinsichtlich einer Beteiligung an den Belangen des Staates; ihre zwei Reiche blieben getrennt. Das bewahrte sie dann davor, einer radikal-nationalistischen Politik zu verfallen, wie es bei den Protestanten der Ukraine passiert ist. In der Ukraine führte das bis hin zu Solidaritätsbekundungen gegenüber faschistischen Politikern: Andrij Parubij z.B. trat 2017 und 2019 beim Nationalen Gebetsfrühstück in Kiew auf. Faschistisch? Parubijs Politik wäre bestenfalls dem rechten Rande der AfD zuzuordnen.
Auf der Krim sind die Gemeinden in pro-Kiewer und pro-Moskauer Kräften gespalten. Die Kiewer Kirchenleitungen erwarten im Prinzip, daß die bedrängten Gemeinden im östlichen Donbass bis zur Befreiung durchhalten. Hilfe und Vermittlungsversuche aus Moskau werden von den Kiewer Kirchen als Einmischung empfunden, denn für den Donbass dürfen Russen nicht zuständig sein.
Heute scheint ein wenig Licht am Ende des Tunnels. Der neue Staatspräsident, Wolodymyr Selenskyj, spricht von einer diplomatischen Lösung für den Krieg im Donbass. Das hat auch ein evangelisches Pendant: Pfingstlerische Gremien in der Ukraine und in Russland haben ihre grundsätzliche Bereitschaft bekundet, den abgebrochenen Dialog wiederaufzunehmen. Doch inzwischen hat sich Selenskyj als schwach gegenüber dem Treiben der radikalen, faschistischen Rechten erwiesen. Jene numerisch bescheidene jedoch schlagkräftige Fraktion verfügt auch über protestantische, orthodoxe und – erst recht – griechisch-katholische Sympathisanten.
In Moldawien schwankt die Regierung noch immer zwischen wechselnden pro-westlichen und pro-russischen Mehrheiten hin und her – wie es bis 2014 auch in der Ukraine der Fall war. Möge ihm jedoch das traurige Schicksal der Ukraine erspart bleiben. Finnland, die Schweiz, Österreich in den Jahren 1945-55 - es gibt Beispiele dafür, wie ein Staat erfolgreich eine Mittlerrolle zwischen Ost und West einnehmen kann. Das wünscht man auch der Ukraine.
Dr.phil. William Yoder
Laduschkin, den 3. April 2020
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