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Durchwachsene Lage in Rußland

Das Unterscheiden zwischen christlichen Schafen und Böcken

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Protestantische Entwicklungen in Rußland 2017

 

M o s k a u – Im Gespräch mit dem oppositionellen Nachrichtendienst “Portal-Credo” in Moskau am 26. Dezember bezeichnete Juri Sipko, der ehemalige Präsident der Russischen Baptistenunion, das Verbot der Zeugen Jehovas am 17. August als das bedeutendste kirchliche Ereignis des verstrichenen Jahres: „Diese Maßnahme zerstört das verbriefte Recht auf die Gewissensfreiheit.“ Mit diesem Schritt „hat das politische Establishment seine Ignoranz unter Beweis gestellt und den Zwang als das Hauptinstrument zur Vernichtung der Verfassung gewählt.“ Diese Maßnahme feiert den Sieg von „Lüge und Gesetzlosigkeit“ in unserem Lande.

 

In einem Interview mit diesem Nachrichtendienst fünf Tage zuvor hatte der Geschäftsmann und evangeliumschristliche Bischof Alexander Semtschenko prophezeit, daß die Charismatiker als Nächste für ein Verbot an der Reihe sein würden. Sie würden von den Baptisten gefolgt werden, „vor allem von den Nichtregistrierten“. Er bezog sich ferner auf Gerüchte, der Staat denke darüber nach, Kinder ihren als Sektierer geltenden Eltern wegzunehmen.

 

Andere würden diese Beschreibung des Status quo als verkürzt bezeichnen. Der Staat nutzte den Aufenthalt des deutschen Präsidenten Franz-Walter Steinmeier am 25. Oktober, um der führenden lutherischen Denomination des Landes, „Die Evangelisch-Lutherische Kirche Rußlands“, die Moskauer „Sankt-Peter-und-Paul-Kathedrale“ feierlich zu übereignen. Diese Denomination verfügte bereits seit mehr als 20 Jahren über eine mietfreie Nutzung des Gotteshauses. Ferner teilte die Stadtregierung von Sankt Petersburg im Dezember mit, sie würde mit einem Zuschuß von 39,9 Millionen Rubeln (rund 578.000 €) für eine Sanierung der Fassade der „Sankt-Petri-Kirche“ sorgen. Dieser 1728 fertiggestellte Bau diente ab 1958 für 35 Jahre als Schwimmhalle. Nahezu zeitgleich hat die Petersburger Regierung den Immobilienbesitz der Zeugen Jehovas in der Stadt eingezogen. Zu den konfiszierten Immobilien zählt eine große, 1999 eröffnete Kongreßhalle, die in ein medizinisches Zentrum umgewandelt werden soll.

 

Im Oktober hatte ELKR-Erzbischof Dietrich Brauer dem russischen Staat vorgehalten, Orthodoxe bei der Unterstützung von Baumaßnahmen zu bevorzugen. Im Gebiet Kaliningrad hatte der Staat unter Umgehung der üblichen juristischen Kanäle dem Moskauer Patriarchat einst lutherische Immobilien übergeben. Doch  Alexander Semtschenko beschwerte sich im erwähnten Interview darüber, die Regierung würde die Lutheraner auf Kosten der anderen evangelischen Konfessionen bevorzugen. “Aller Ruhm bezüglich des Jubiläums (der Reformation) kam dem kleinen Kreis der Lutheraner zugute. Das empfanden die anderen protestantischen Denominationen, die z.T. viel größer sind, als Ärgernis.” Die Pfingstler und Charismatiker Rußlands müßten mit nicht weniger als 400.000 Getauften gewichtet werden – die Lutheraner haben etwa 10% dieser Zahl aufzuweisen.

 

Missionarische Bemühungen

Auf ihre eigene leise Art setzen die evangelischen Denominationen Rußlands ihre missionarischen Bemühungen fort. In Moskau haben mindestens vier bisherige oder gegenwärtige Leiter der Russischen Baptistenunion neue Gemeinden gegründet. In der neuesten von ihnen wirkt Sergei Sipko, Leitender Vizepräsident der Baptistenunion und Sohn des oben genannten Juri Sipko, mit. Sie wurde am 15. Januar 2017 gegründet und versammelt sich an der „Rauschskaja Nebereschnaja“ 4/5 rund ein Kilometer nördlich der Metrostation „Nowokusnetskaja“. Genannt „Haus des Vaters“ (Dom Otsa), darf sie mit einer älteren Moskauer Pfingstgemeinde gleichen Namens nicht verwechselt werden.

 

Leonid Kartawenko, einst Missionsdirektor der Baptistenunion, und Witali Wlasenko, bis März 2017 ihr Leiter für Außenbeziehungen, haben kleinere Gemeinden gegründet. Die größte dieser Gemeinden, die “Russische Bibelkirche”, trifft sich heute an verschiedenen Orten und verfügt über mehrere hundert Mitglieder. Sie wird von Ewgeni Bachmutski angeführt, bis 2014 Leitender Vizepräsident der Baptistenunion. Neben einer kalvinistischen Theologie verfügt sie über eine pyramidale, von Männern bestimmte Leitungsstruktur. Kartawenko vertritt die Auffassung, diese „Bibelkirche“ habe in Moskau die ihr passendste Nische gefunden. Sie ist mit John MacArthur und seiner in Sun Valley/Kalifornien beheimateten „Grace Community Church“ eng verbunden.

 

Im Nordwesten Moskaus, in einer anderen theologischen Ecke des protestantischen Glaubens, haben Alexander Kusnetsow und seine „Evangelische Kirche Tuschinskaja“ die große, von Sergei Rjachowski angeführte „Vereinigte Russische Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“ (ROSChWE) zugunsten der von Pawel Kolesnikow aus Selenograd (nördlich von Moskau)  geleiteten „All-Russischen Gemeinschaft der Evangeliumschristen“ (WSECh) verlassen. Die Tuschinskaja-Gemeinde gehört zu denen, die das von Rick Warren (“Saddleback Church”/Kalifornien) propagierte Gemeindemodell propagieren. Mitarbeiter aus Saddleback besuchen diese Gemeinde mindestens jährlich.

 

Kartawenko bestätigt, daß sich der nationale Trend in Richtung einer „Entdenominationalisierung“ fortsetzt. Nun kann Moskau sogar eine kunstorientierte Gemeinde für Menschen über 40 aufbieten; Gemeinden für ehemalige Suchtkranke bleiben gefragt. „Man denkt nicht mehr konfessionell,“ versichert er, „man denkt horizontal.“ Nationale Kirchenstrukturen, die Russische Baptistenunion z.B., befinden sich weiterhin im Abnehmen. Im September 2015 verließ diese Baptistenunion den pfingstlerisch geprägten „Konsultativrat der Leiter der protestantischen Kirchen Rußlands“. Seitdem verfügt der russische Protestantismus über keine Organisation mehr, die im Namen aller sprechen könnte. Eine sich neu belebende “Russische Evangelische Allianz” steht für eine solche Aufgabe parat, muß jedoch zahlenmäßig stark zunehmen, ehe sie als nationale Stimme gehört werden könnte.

 

Die durchwachsene Haltung des Staates

Im Oktober ging der Moskauer Leonid Kartawenko noch davon aus, der russische Staat könnte die „Jarowaja-Gesetze“ vom 7. Juli 2016 (siehe unsere Meldung vom 15. Juli 2016) stark revidieren - zumindest bezüglich der Registrierungspraxis. Wesentlich für die Evangelikalen sind das Verbot evangelistischer Aktionen auf öffentlichen Plätzen sowie das Beschränken religiöser Handlungen auf offiziell dafür vorgesehene Räumlichkeiten.

 

Kartawenko berichtete davon, daß sich an den entsprechenden Stellen kleine Berge kirchlicher Bitten um die offizielle Zulassung anhäufen würden. Doch nach seiner Einschätzung würde dies dazu führen, daß in manchen Gebieten Sibiriens und in Fernost die Zahl evangelischer Ortsgemeinden jene der Orthodoxen überstiegen. Hinzu kämen die 120-170.000 Zeugen Jehovas, die sich gegenwärtig im juristischen Niemandsland befinden. Darf einer derart großen religiösen Benennung nur noch die Option einer Auswanderung als legaler Ausweg bleiben? Kartawenko: „Der Staat ist weiterhin über die evangelischen Gemeinden besorgt. Durch eine Registrierung könnte der Staat sie in die bestehende Ordnung einfügen und so besser kontrollieren.“ Vor Ort in Moskau hat sich wenig verändert: Gelegentlich kommt öffentliche Literaturverteilung immer noch vor und religiöse Versammlungen finden weiterhin in privaten Quartieren statt.

 

In einem ausführlichen Interview am 1. August mit der Online-Zeitschrift „Snak“ wies Oleg Gontscharow, das Oberhaupt der Gemeinde der Siebenten-Tags-Adventisten, auf den durchwachsenen Charakter der Beziehungen zwischen Kirche und Staat hin. „Die gegenwärtigen Probleme sind vor allem örtlicher Natur.“ Sie sind „auf die Inkompetenz der Orts- und Gebietsverantwortlichen zurückzuführen“. Er behauptete: „Heute werden die Gläubigen in Rußland nicht verfolgt. Unsere Sorgen beziehen sich auf die praktische Auslegung des Gesetzes.“ Er räumte ein, daß die Jarowaja-Gesetze nur selektiv angewandt werden. „Es ist jedoch sinnlos, sich gegen diese Gesetzgebung aufzulehnen – wir sind gehalten, sie zu befolgen.“ Sein Fazit: „Im Vergleich mit den anderen Ländern auf der Welt bleibt das Maß an Religionsfreiheit in Rußland relativ hoch. Der Staat unterstützt die Kirchen und deren soziale Bestrebungen weiterhin.“ Für ihn bleibt das Verhältnis mit dem Patriarchen Kirill gut.

 

Mindestens seit seiner Rede in Odessa am 22. Juli 2010 (siehe unsere Meldung vom 15. August 2010) plädiert der russische Patriarch für eine konservative, im wesentlichen antiwestliche, interkonfessionelle christliche Bewegung. Im November jenes Jahres gab er zu Protokoll: „In den vergangenen 10 Jahren haben wir die Erfahrung gemacht, daß die Evangelischen Rußlands uns näher stehen als ihre Glaubensgeschwister im Westen.“ Es gibt heute nicht wenige russische Protestanten, die dieser Einschätzung des Patriarchen zustimmen würden.

 

Am 11. Mai 2017 hielt die rechte Hand des Patriarchen, der orthodoxe „Außenminister“ Metropolit Hilarion, eine Rede in Washington auf dem von Franklin Graham veranstalteten „Weltgipfel zur Verteidigung verfolgter Christen“. In seinem Beitrag warb Hilarion ruhig, aber eindeutig für eine gemeinsame, russisch-westliche Front zum Schutz der bedrohten, antiken orthodoxen Kirchen des Mittleren Ostens und Nordafrikas. Graham stimmte zu, äußerte aber gleichzeitig seine Unterstützung für den ebenfalls anwesenden US-Vizepräsidenten Mike Pence. Aus US-Sicht könnte der Aufruf des Patriarchen deshalb höchstens als ein antiliberaler Appell aufgefaßt werden - kaum als ein antiwestlicher.

 

Kommentar

In unserem Oktober-Gespräch erinnerte sich WSECh-Pastor Kartawenko an die Beziehungen zwischen Kirche und Staat in den 80er Jahren. Damals diente er in Makeewka, einem Vorort von Donezk/Ostukraine. Die Behörden vor Ort verstanden sich gut mit den Baptisten und fragten sie im Voraus, ob sie es ihnen übelnehmen würden, wenn man ihnen eine Strafe von 10 Rubel (damals etwa 20 €) aufbrummen würde. So taten die Ortsbehörden den Verfügungen ihrer Vorgesetzten Genüge, ohne dabei das örtliche Verhältnis zwischen Staat und Kirche zu beschädigen.

 

So könnte es sehr wohl auch in den kommenden Jahren aussehen: Die Schärfe des staatlichen Verhaltens gegenüber den Kirchen soll vor Ort bestimmt werden. In China, ein zweiter Staat mit weitgespannten Grenzen, wird diese heutige Praxis wohl auch in Zukunft gelten.

 

Der Weihnachts-Kommentar eines David Satters in der renommierten „Wall Street Journal“ am 17. Dez. 2017 kam in Rußland denkbar schlecht an. Er hatte geschrieben: „Russen lassen sich erreichen, wenn man ihnen fundamentale Moralprinzipien verdeutlicht. Russen haben keinen Anteil am ethischen Erbe des Westens, doch eine moralische Intuition gibt es überall und sie läßt sich auch anregen.“

 

Doch mindestens seit der Monroe-Doktrin von 1823 haben Militärabenteuer im Ausland den USA jeden Anspruch auf moralische Überlegenheit genommen. Solange wir US-Amerikaner uns moralisch auf dem hohen Ross wähnen, wird unser Glaube an Kriege als geeignetes Mittel zur Förderung humanitärer Ziele weiterhin große Teile der Welt tödlichen Gefahren aussetzen. Am 8. August z.B. drohte Präsident Donald Trump Nordkorea mit „Feuer und Wut“, mit totaler Vernichtung. Am Tag darauf berichtete Robert Jeffress, ein Leiter der Südbaptisten, über eine Mitteilung Gottes: „Im Falle Nordkoreas hat Gott Trump mit der Befugnis ausgestattet, Kim Jong-Un zu eliminieren.“ Jeffress ist ein Vertrauter Trumps und Leitender Pastor der 12.000-Mitglieder-starken „First Baptist Church“ in Dallas. Gleichzeitig verlangen die eindeutig nichtevangelikalen Russen und Chinesen Verhandlungen und einen „zweifachen Abzug“ seitens der Nordkoreaner und der US-Amerikaner.

 

Laßt uns abermals eindeutig biblisch werden und uns Römer 3,23 zu Gemüte führen: “Sie (wir) sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie (wir) vor Gott haben sollen.“ Wir US-Amerikaner sind keineswegs heiliger als der Rest der irdischen Menschheit. Das sind ernüchternde Gedanken für jene (pro-westlichen) Ukrainer, die sich weiterhin nach einer besseren, moralischeren Gesellschaft sehnen.

 

Möge Gott uns sehr viel mehr Frieden schenken im Jahre 2018.

 

Dr. phil. William Yoder
Smolensk, den 2. Januar 2018
 

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