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Warum so viele Orthodoxe?

Warten auf den Weihnachtsmann

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Orthodoxe und Lutheraner in Rußland; ein Vergleich

 

Kommentar

 

Gwardejsk/Tapiau, Kaliningradskaja Oblast -- Manchmal sitze ich auf einer Bank mit einer noch erhaltenen Sitzfläche vor der alternden, 1999 eingeweihten evangelisch-lutherischen „Auferstehungskirche“ in Kaliningrad/Königsberg und schaue auf deren imposante Fassade hinauf. Das weckt sowohl schöne wie traurige Erinnerungen in mir. Noch um die Jahrtausendwende besuchten Hunderte mit Kind und Kegel die lutherischen Gottesdienste in Kaliningrad; der Gottesdienst war ein Erlebnis.

 

Heute steht die Auferstehungskirche relativ verlassen da; ihre einstigen Besucher und Mitarbeiter befinden sich im Jenseits oder in Deutschland. Der sonntägliche Gottesdienst wird noch von 50 bis 80 meist älteren Menschen aufgesucht; Gäste aus Deutschland tauchen nur gelegentlich auf. Der einst beliebte Empfang ist nicht mehr besetzt. Doch wer wochentags an der Pforte klingelt und sein Anliegen vorträgt, wird meistens hereingelassen. Die evangelischen Kirchengemeinden, gefördert von Hans-Ulrich Karalus (1923-2009) in Lomonosowka/Mauern, Fritz Schlifski in Domnowo/Domnau, Ute Bäsmann in Druschba/Allenburg und Alfred Scherlies in Selenograd/Cranz, gibt es nicht mehr. Einst gab es 50+ Gemeinden und Predigtstellen im Gebiet; ein Insider prognostiziert, nur noch fünf Gemeinden werden längerfristig überleben. Im Augenblick gibt es noch drei vollamtliche Pastoren – Tendenz fallend.

 

Ist etwas schief gelaufen? Ja und nein. Die ehemaligen Ostpreußen – und die Kirchenämter, die sie unterstützt haben – handelten gegen alle Erkenntnisse der zeitgenössischen Missiologie. Vor allem in den ersten zwei Jahrzehnten nach 1991 dachte man wenig an Nachhaltigkeit und die Eigenverantwortung der Einheimischen. Die meisten Projekte waren nicht aus der Initiative von Einheimischen geboren. Die deutschen Gäste wollten sehr viel mehr, als die neuen, einheimischen Gemeinden zu leisten imstande waren.

 

Vor Ort fanden die Deutschen wenige verlässliche Partner. Die deutschstämmigen Russen wollten vor allem ausreisen - deshalb überhaupt waren sie ins alte Sperrgebiet gezogen. Doch das wollten die Gutmenschen aus Deutschland nicht sehen und hofften, die Hinzugezogenen noch umstimmen zu können. Nicht wenig Geld löste sich in Luft auf; statt mit Dank reagierten Menschen auf die Zuwendungen mit Ausreise.

 

Die Gäste aus Deutschland sahen eben mit dem Herzen – nicht mit dem Kopf. Atlantis war der Versenkung entschwunden. Dank eines atemberaubenden Umdenkens in der russischen Außenpolitik war eine für immer verlorengeglaubte Heimat plötzlich wieder da. "Ich liebe Ostpreußen, ohne es zu besitzen" war bereits in den 90er Jahren ein nachdenkenswerter Spruch der Ehemaligen.

 

Es ist schon viel gelästert worden über die bescheidene Qualität der Bauarbeiten in der Kaliningrader Exklave. Ein Paradebeispiel dafür ist die Kaliningrader Auferstehungskirche. Russen – und Litauer - bauten eben mit dem Scheckheft im Kopf, nicht mit dem Herzen. Wenn es sich jedoch um „ihr Ding“ handelt, setzen auch Russen hervorragende Kreationen in die Welt. Siehe z.B. Sankt Petersburg oder Moskaus im Jahr 2000 wiederhergestellte „Christ-Erlöser-Kathedrale“.

 

In Groß-Rußland gingen die Evangelikalen aus Nordamerika anders vor. Sie wollten vor allem missionarische Erfolge aufweisen und nach einem Fünf-Jahres-Fenster für die Glaubensfreiheit schnell wieder weg. Die „unerreichten Völker“ und die muslimische Welt riefen. (Ausnahmen bestätigen die Regel.) Eine Bindung an Land und Boden war kaum vorhanden; die US-Amerikaner hatten vor allem Zahlen im Kopf. Im russischen „Nordostpreußen“ dachte man dagegen historisch – das Herz wog stärker als Marketing und Kalkül.

 

Ich denke, bei den Verstößen der Deutschen gegen die Erkenntnisse der Missiologie handelt es sich um ein eher verzeihliches Vergehen. Die Einverleibung des deutschen Ostens durch Russen, Polen und Litauer im Jahre 1945 ließ bekanntlich Traumata zurück – wie der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zuvor. Auch wenn die Verständigung heute gefährdet ist, hat doch das humanitäre Wirken der Deutschen in der Exklave zur Versöhnung beigetragen. Es hat menschliche Berührungen mit dem Ergebnis Versöhnung gegeben.

 

Was bleibt?

Nach dem Trubel des vergangenen Vierteljahrhunderts bleiben neben einem Seniorenheim mindestens drei historische, wiederaufgebaute Kirchen in lutherischer Hand: Turgenjewo/Groß-Legitten, Gusew/Gumbinnen und Gwardeiskoje/Mühlhausen. Das labt die Seelen der mit Ostpreußen Verbundenen. Doch das Wirken der Lutheraner aus Deutschland war nach menschlichem Ermessen wenig effektiv – sie haben für ihr Geld wenig „Knall für den Dollar“ bekommen. Wenig effektiv, aber eben nicht umsonst – auch Jesus hat seine Liebe ohne Berechnung der Kosten auf alle möglichen Leute verschwendet.

 

Es bleibt auf jeden Fall auch eine lutherische Menschengemeinschaft, die der Liebe und Zuwendung würdig ist, auf Sparflamme zurück. Vielleicht 500 an der Zahl, sind manche ihrer Mitglieder zu alt oder zu arm, um jemals ausreisen zu können. Liebesdienste brachten Licht in das Leben verarmter russischer Staatsbürger. Wer noch heute die betagten Frauen, die Säulen der Gemeinde Gusew, aufsucht, wird mit Dankesgeschichten überschüttet. „Es waren die Deutschen, die uns in den Krisen der 90er Jahre am Leben erhalten haben“, heißt es. Viel Gutes bleibt unvergessen, und das stärkt den Glauben an Gott und die Menschheit.

 

Umso härter trifft es mich, daß in Kaliningrad die Russische Orthodoxe Kirche – Moskauer Patriarch eine gewaltige Kirche auf der anderen Straßenseite gegenüber der Auferstehungskirche in den Himmel baut. Die Angelegenheit fing mit einer kleinen Holzkapelle an. Im neuen Rußland ist es zur Praxis geworden, daß die ROK Holzkapellen in unmittelbarer Nähe von protestantischen Vorhaben in die Welt setzt. So werden Besitzanspruche verdeutlicht. Zugegeben: Im späten Mittelalter fungierten die Kirchen der Kreuzzügler im heidnischen, baltischen Raum ebenfalls als steinerne Besitzansprüche. Nun machen es die Russen den Deutschen nach. Wahrscheinlich soll dieser Neubau noch größer und höher geraten als die evangelische Kirche.

 

Stellen die wenigen, verbliebenen Deutschstämmigen noch irgendeine Gefahr für die russische Kulturwelt dar? Hätte man sich nicht lieber auf eine gemeinsame, punktuelle Nutzung der unterbesetzten Auferstehungskirche einigen können?

 

Ihr Ding – Schlangen vor der Christ-Erlöser-Kathedrale

Im Juli 2017 standen täglich rund 25.000 Menschen bis zu sechs Stunden Schlange an der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale, um einen goldenen Sarkophag mit einer Rippe des Sankt Nikolaus (des Heiligen Nikolaus von Myra) in Augenschein zu nehmen. Der Kinderbeschenker (etwa 280-350 u.Z.) wird gleichermaßen von der Orthodoxie und dem Katholizismus verehrt. Die befristete Überführung dieses vermutlich echten Weihnachtsmannes nach Moskau und Petersburg war vom Patriarchen Kirill und Papst Franziskus bei deren Treffen in Havanna im Februar 2016 vereinbart worden.

 

Diese für Protestanten rätselhafte Faszination wird noch verstärkt dadurch, daß sich ein Großteil des anstehenden Publikums nicht weniger lieb in Schlangen vor dem Lenin-Mausoleum einreiht. Schließlich ist eine gewisse Konvergenz zwischen Russischer Orthodoxie und der Kommunistischen Partei zu vernehmen. Sogar Gennadi Sjuganow, Parteichef der KP, ist Mitglied der ROK.

 

Ist es eben so, daß sich diese aufs Mystische gepolte Russen, weil sie eben keine Pfingstler sind, auf eine andere Art und Weise Gott ein Wunder abzutrotzen versuchen? Ein russischer Freund behauptet, läge die Rippe ganz bieder auf einem Friedhof begraben, käme keiner hin. Und wenn es sich in beiden Schlangen ohnehin um ein ähnliches Publikum handelt – warum nicht den ausgestellten Lenin auf eine Rippe reduzieren und seine sonstigen Überreste standesgemäß an der Kreml-Mauer bestatten? Das könnte als Kompromiß gelten - offiziell spricht sich das Moskauer Patriarch ja gegen eine weitere Ausstellung der Leiche Lenins aus. Gewiß käme eine solche Maßnahme der KP allzu religiös vor; sie würde falsche Assoziationen wecken.

 

Man sollte allerdings die Anziehungskraft von Nikolaus und Lenin nicht überzeichnen. Besonders preisgünstige Ferienangebote der russischen Reisebüros würden sicherlich noch längere Schlangen verursachen. Auch in Rußland ist die Kirche nicht die populärste gesellschaftliche Einrichtung.

 

Dr. phil. William Yoder
Gwardejsk, den 1. Oktober 2017

 

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