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Die politische Haltung der ukrainischen Protestanten

Die Haltung der ukrainischen Protestanten ist anders

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Nachdenken über eine anhaltende Auseinandersetzung

 

Kommentar

 

G w a r d e j s k – Es gibt inhaltliche Überschneidungen zwischen den Protestanten auf russischem und ukrainischem Boden. Beide lehnen sich gegen die liberale, westliche Welt und deren Propagieren von Frauen- und Schwulenrechten auf. Beide treten gemeinsam mit der Orthodoxie für die Erhaltung der traditionellen Familienwerte ein. Doch reden wir an dieser Stelle lieber von den Unterschieden. Unter den Protestanten der Ukraine gibt es Auffassungen, die es in Rußland praktisch nicht gibt. Diese Unterschiede sind überwiegend politischen Charakters.

 

1. Die Ortung von Schuld

Nach Auffassung der mit Kiew verbündeten Ukrainer ist die moralische Schuld nahezu ausschließlich auf der anderen Seite zu suchen. Wiederholt werden in den Sozialmedien die Russen dazu aufgefordert, einen Dietrich Bonhoeffer hervorzubringen, der mutig die Schlacht gegen Wladimir Putin und seinen Staat aufnimmt.

 

Der in Irpen/Ukraine beheimatete, führende baptistische Akademiker Michail Tscherenkow (mehrere Schreibweisen) zitierte am 27. August auf Facebook das US-amerikanische „Radio Liberty“: „Wegen seines verräterischen und feigen Brudermords wird bis zum vollständigen Bußgang ein echter Erbfluch über Rußland schweben. Bis zum Eingestehen dieser Verbrechen ist seine geistliche Erneuerung unmöglich.“ Gemeint damit ist der Krieg in der Ost-Ukraine. Nach Tscherenkows Überzeugung führe nur die Kiewer Ukraine einen konsequenten Kampf auf zwei Fronten gegen Kommunismus und Faschismus. Bei einem führenden Kiewer Baptisten hieß es 2015, Wladimir Putin sei der einzige wirkliche Faschist.

 

An dieser Stelle neigen russische Protestanten dazu, die Problematik sehr viel weiter zu fassen; sie suchen stärker nach Gemeinsamkeiten und achten auf die Gegenseitigkeit. Sie erkennen eher eine Schuld auf beiden Seiten. Als ich nach dem Maidan-Aufstand 2014 vorschlug, Protestanten sollten als Zeichen des Friedens den Toten auf beiden Seiten Ehre erweisen, stieß das in Kiew auf Unverständnis.

 

Ukrainer sind entsetzt, wenn ein russischer Kirchenvertreter im Kreml einem staatlichen Empfang beiwohnt oder einen Orden erhält. Trotz aller anti-pfingstlerischen Sticheleien in der russischen Provinz erhielt Sergej Rjachowski, leitender Bischof der großen „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“ (ROSChWE), am 4. September einen Orden aus der Hand des emsigen Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin. Dafür hatte der baptistische Abgeordnete Pawlo Ungurjan aus Odessa ohne vernehmbaren Protest schon am 21. März einen ebenfalls hohen Orden vom ukrainischen Parlamentspräsidenten Andrij Parubij entgegengenommen. Parubij hatte 1991 gemeinsam mit Oleh Tjahnybok die rechtsextreme Sozial-Nationale Partei der Ukraine“ ins Leben gerufen. Parubijs Treiben bei den Maidaner Schlachten im Februar 2014 bleibt bis dato im Dunkeln.

 

Ist die Schuld Rußlands in den ostukrainischen Auseinandersetzungen tatsächlich von einmaliger moralischer Schwere? Es war weder Wladimir Putin noch Josef Stalin, der bis 1973 580.000 Luftangriffe gegen das kleine Laos flog (siehe den Aufsatz über Ausreisen). Die große Tragik besteht darin, daß der Stalinsche Terror von 1937-39 keineswegs einmalig war – staatliche Verbrechen gibt es am laufenden Band.

 

2. Evangelium plus Nation

Es kommt in der Ukraine vor, daß Christen aufgrund ihrer politischen Auffassungen die geistliche Gemeinschaft aufgekündigt wird. Ich kenne einen Fall, bei dem die Kiewer Leitung der Evangeliumschristen-Baptisten einen Glaubensbrüder aus Rußland die Gemeinschaft aufkündigte weil er vor allem den Standpunkt vertrat, daß es sich in der Ost-Ukraine um einen Bürgerkrieg handelt. 

 

Es gibt Pastoren auf der Krim, die auf ihre Zugehörigkeit zu den von Kiew aus geleiteten Kirchen nicht verzichten wollen. In diesem Zusammenhang wurde vor wenigen Monaten eine Pastorenversammlung von deren Bischof aus Rußland besucht. Seine Botschaft lautete: Wir Pastoren haben überall die gleiche Aufgabe, das Evangelium zu predigen und den Menschen zu dienen. Ob wir uns in Rußland oder der Ukraine befinden, bleibt der Auftrag der gleiche. Wenn es dennoch Pastoren unter uns gibt, die ein politisches Programm diesem Auftrag beimischen wollen, werden sie herzlich gebeten, in die (Kiewer) Ukraine auszuwandern.

 

Nicht wenige Ukrainer fühlen sich bei diesem zugefügten Programm wohl; sie wollen den politischen Kampf gegen ein Brudervolk führen. Einen solchen Eifer erkenne ich unter den russischen Protestanten nicht. Auch die entschiedensten Verfechter der russischen Position – etwa die Pfingstpastoren Oleg Serow und Sergei Kirejew in Pensa – sind viel weniger radikal als die meisten ihrer ukrainischen Kollegen (siehe „afmedia.ru“).

 

3. Tarnung und Knarre

Mir sind mindestens drei Fälle bekannt, in denen sich ukrainische Protestanten auf Facebook mit Tarnung und Bewaffnung abbilden lassen. Das sind zwei Pfingstpastoren, Bischof Gennadi Mochnenko (Mariupol) und Wolodymyr Dubowji (Odessa) sowie die baptistische Journalistin Jelena Mokrentschuk (Kiew). (Falls es eine Seite russischer Protestanten gibt, die sich Ähnliches gestattet, würde ich darüber berichten wollen.)

 

Die Facebook-Seite der Frau Mokrentschuk – sie ist Leiterin des Pressedienstes „Alfa Press“ - feiert die ukrainische Armee und deren Soldaten. Es ist starker Tobak dabei: eine rassistische Abbildung vom 6. September richtet sich gegen die „Moskowiter“. In einem anderen Beitrag wird der Tod eines „Separatisten“ gefeiert. Es heißt, sein Tod habe der Ukraine den Sieg nähergebracht. Ist man also mit diesem Tod dem Sieg eine Leiche näher? Hat ein Zermürbungskrieg – siehe Vietnam - Verheißung? Verlangt man zu viel, wenn man erwartet, daß Christen alle Kriegstote betrauern?

 

Der mutige, ukrainische Blogger und Christ Anatoli Schari weist darauf hin, daß Gennadi Mochnenko den Tod der ersten 500 „Separatisten“ mit Fotos begrüßte. Offensichtlich ist auch unter protestantischen Ukrainern die Hoffnung auf den militärischen Endsieg noch nicht gestorben – eine gefährliche Illusion.

 

Anatoli Schari weist ferner darauf hin, daß Mochnenko, ein häufiger Gast in den USA und Betreiber einer Arbeit unter Waisen, einen politischen Hungerstreik unter Kindern organisiert hat. Schari wirft ihm vor, „ethnischen Haß zu sähen“ (siehe „afmedia.ru/zhizn-cerkvi/shariy-snyal-novoe-video-o-bezumii-mohnenko“).

 

4. Geostrategische Interessen – kein Thema

In einem Beitrag von Mokrentschuk am 25. August – sie erhält ihren Sold offensichtlich vom ukrainischen Militär -  zitiert sie Ukrainer: „Warum haben Eure Väter nicht Putin erschossen, sondern (unsere) Söhne und Väter? Das Blut der Getöteten . . . klebt an Euren Händen.“

 

Doch die Argumentation, daß Rußland der alleinige Aggressor sei, funktioniert nur, wenn sämtliche geostrategischen Erwägungen ausgeblendet werden. Wäre die Krim einverleibt worden, wenn es zuvor kein massives Vorrücken der NATO bis an die Tore Rußlands gegeben hätte? Schon 1998 prognostizierte der renommierte US-Diplomat George Kennan (1904-2005): „Ich denke, (mit dem Vorstoß der NATO) beginnt ein neuer kalter Krieg. Die Russen werden immer stärker reagieren und (unsere Politik) wird ihre Haltung negativ beeinflussen. Dies ist ein bedauerlicher Fehler. Es gibt keinen Grund für diese Maßnahmen.“

 

Um die Beibehaltung der Krim als militärischen Vorposten bemüht sich Rußland spätestens seit dem 18. Jahrhundert. Mit der Annexion von 2014 wurde die Straße von Kertsch wieder zu einem Binnengewässer, das die NATO-Flotten vom Asowschen Meer und Rostow-am-Don fernhält. Ja, Rußland hat im März 2014 mit ihrem Verweis auf die „kleinen grünen Männer“ – die russischen Soldaten auf der Krim – glatt gelogen. Das war sowohl ungeschickt wie unnötig. Demokratisch-durchgeführte Wahlen auf der Krim würden die geostrategischen Interessen Rußlands nicht gefährden – die Mehrheitsverhältnisse sind eindeutig. Gerade auch deshalb will Kiew keine international begleiteten Neuwahlen auf der Krim; sie würden den Status quo legitimieren.

 

Mit bravem Wimperschlag versichern die westlichen Anrainerstaaten Rußlands, jeglicher souveräne Staat habe das Recht, sich seine Verbündeten selber auszusuchen. Allerdings gilt diese Regel auf den beiden amerikanischen Kontinenten nicht.

 

Fazit

Nun habe ich einmal wieder die Sünden der ukrainischen Protestanten aufgezählt. Ob das eher schadet als hilft? Das fällt mir nicht schwer – schließlich kenne ich ihre Sünden besser als die eigenen. Doch eigentlich wollte ich nur auf die unterschiedliche Vorgehensweise der Protestanten in der Ukraine und in Rußland hinweisen.

 

Es ist falsch, die Schuld nur bei der anderen Seite zu suchen. Wir werden uns niemals vom Fleck bewegen, bis beide Seiten beginnen, eigene Fehler einzugestehen. Die gegnerische Seite stets zum Bußgang aufzufordern, bringt uns nicht weiter. Das gegenseitige Bekennen von Schuld ist der Weg ins Freie. Ohne es, bleibt das Evangelium salzlos und belanglos, Makulatur.

 

Eigentlich bin ich nicht völlig hoffnungslos, daß Gott uns auf den schmalen Pfad zurückführt. Nikolaj Dechtjarenko, ein Pfingstpastor in Kiew, beklagt einen „Synkretismus auf Basis der nationalen Idee“. Christen sammelten sich nicht mehr um Christus, sondern um eine nationale Idee, „die die evangelische Bruderschaft in ‚unsere‘ und ‚eure‘ aufteilt“. Dabei sind die Kirchen zum Status von „Kriegskommissariaten“ herabgesunken; die Zerstörung der Einheit über Grenzen hinweg sei eine Schande. Er beklagt ferner, die zahlenstarken ukrainischen Kirchen hätten durch ihren Schulterschluß mit dem Kiewer Staat ihren langjährigen Zugang zum grenzenlosen Missionsfeld Rußland verspielt (siehe „afmedia.ru/zhizn-cerkvi/pastor-iz-kieva-10-porazheniy-evangelskogo-bratstva-na-maydane“).

 

Was hat nun die russische Seite zu tun, wie kann sie zur Versöhnung beitragen? Da würde ich gerne Vorschläge entgegennehmen. Ich will dazulernen. Doch sich einfach umpolen lassen und auf die Kiewer Linie umschwenken – das ist kein seriöser Vorschlag. Das können Russen umgekehrt auch nicht von der Kiewer Seite erwarten.

 

Wir Christen sollten uns darauf einigen, daß es für diesen Krieg nur eine Lösung am Verhandlungstisch geben kann. Dann haben wir bereits dieselbe, sehr hilfreiche Ausgangsposition.

 

Dr. phil. William Yoder
Gwardejsk, den 1. Oktober 2017

 

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