Ukrainer bemitleiden Russen – Russen bemitleiden Ukrainer
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Über die laufende Auseinandersetzung mit den Nachbarn von nebenan
M o s k a u – Wer das Internet-Echo auf die neue russische Gesetzgebung – die “Jarowaja- Gesetze” vom 7. Juli – durchackert, bemerkt ein Gefälle zwischen den
zutiefst verwandten und verschwägerten Evangelikalen Rußlands und der Ukraine. Eine Reaktion ließe sich mit dem Begriff Hohn umschreiben. Ein Foto von Wladimir Putin, als er sich mit dem
Pfingstbischof Sergei Rjachowski und dem evangeliumschristlichen Geschäftsmann Alexander Semtschenko (beide Moskau) unterhielt, trägt die Überschrift: „Danke für die Verfolgung, lieber Herr!“
Diese neuesten repressiven Maßnahmen werden als die gerechte Strafe Gottes für die Unterstützung eines widergöttlichen Staates durch russische Evangelikale gedeutet. Daraus ergibt sich seitens
der russischen Evangelikalen Buße als die logische Konsequenz. Diese Forderung nach Buße ist einstweilen mit Mitleid vermengt. Eine Ukrainerin schrieb auf Facebook: „Die Zeit wird kommen, in der
wir die Brüder durchfüttern müssen. Erinnern wir uns an die Geschichte von Josef (in Ägypten).“
Es ist gegenwärtig nicht sonderlich leicht, sich in Rußland als Ukrainer zu behaupten. Etwa im Dezember 2014 zog Sergei Guz, ein bekannter evangeliumschristlicher Pastor aus Uljanowsk/Wolga, in die Ukraine um. In letzter Zeit weisen seine – meist säkulare – Widersacher aus Uljanowsk darauf hin, daß Guz, ein ukrainischer Staatsbürger, nicht in seine Heimatstadt, die kriegsbeschädigte Stadt Lugansk, zurückkehrte. Er zog stattdessen in die Höhle des Löwen: Kiew. Guz, der stets über beste Verbindungen zu finanziellen und personellen Quellen in den USA verfügte, wird in der Ukraine besser aufgehoben sein. Natürlich sorgt das für Unwohl in der alten Heimat Uljanowsk. Sergei Andrejew übrigens, Bürgermeister der Großstadt Toljatti seit 2011, ist Mitglied der Denomination, die Guz mit ins Leben rief: die kleine „Assoziation der missionarischen Kirchen der Evangeliumschristen“. (Siehe unsere Meldung vom 25. März 2012.)
Auf der orthodoxen Schiene führt die größte Kirche der Ukraine, die umkämpfte “Ukrainische Orthodoxe Kirche – Moskauer Patriarchat”, eine “Gesamt-Ukrainische
Wallfahrt” aus Ost und West Richtung Kiew durch. Für den Abschluß ist der 27. Juli in Kiew vorgesehen. Parlamentspräsident Andrij Parubij beschwert sich, die Wallfahrt sei mit Provokateuren und
Agenten durchsetzt, die “verbotene Symbole aus einem Aggressorstaat mit sich führen. . . . Der Feind entwickelt Pläne, unser Land mittels einer aufgebauschten politischen Krise zu
destabilisieren.” Parubij, der auch außerhalb Rußlands als Neo-Faschist gilt, hat den Posten inne, den Wolodymyr Hrojsman räumte, als er im vergangenen April Premierminister wurde. Parubij, der
1991 die „Sozial-Nationale Partei der Ukraine“ mit ins Leben rief, gilt als Freund des kanadischen Premierministers Justin Trudeau.
Wer sollte nun wen bemitleiden? Nicht wenige Russen wollen die Pro-Kiewer bemitleiden. Die „separatistischen“ Kämpfer in der Ostukraine behaupten, die Schlachten des II. Weltkriegs wieder aufgenommen zu haben. Einmal wieder geht es darum, ihr Land von einfallenden Faschisten zu befreien. (Auch bei dieser „Fortsetzung“ haben sie nicht die Absicht, zu unterliegen.)
Man kann die Angelegenheit aber auch um 180 Grad umdrehen und behaupten, die Evangelikalen Rußlands und der Ukraine seien sich eher ähnlich als unterschiedlich. Bereits im ersten Artikel wurde auf das gemeinsame Weltbild hingewiesen. Gefragt nach der Zukunft der evangelikalen Bewegung Rußlands, prognostizierte der US-amerikanische Mennonit Harley Wagler im vergangenen Mai: „Die russischen Evangelikalen werden allmählich unauffälliger werden. Die konfessionellen Grenzen, die während der zaristischen und sowjetischen Ären besonders ausgeprägt waren, werden bei der immer stärker konsumorientierten Jugend Rußlands abnehmen. Zweitens wird Technologie die Gemeinden immer stärker prägen und die Konsumorientierung untermauern: Der Gottesdienst wird aus „Jazzy“ Schlagzeugbands, Videos und Sozialmedien bestehen. Drittens wird es zu einer gegenseitigen Befruchtung von Protestanten und Orthodoxen kommen. Orthodoxe werden die Theologie, Protestanten die praktischen,„wie man's macht“ Anleitungen etwa von McDonalds liefern. Viertens wird der Einfluß westlicher Missionare abnehmen, ersetzt durch eine Bestätigung und Suche nach authentisch russischen Werten.“
„Einen subjektiven und eher umstrittenen fünften Punkt würde ich noch hinzufügen. Meinem Eindruck nach hat der russische Protestantismus bereits einen Teil seiner
ernsthaften Spiritualität verloren. Der vehemente aber einfache Glaube, die erstaunlichen Bibelkenntnisse, eine gewinnende Bescheidenheit, ein bereitwilliges Leiden, die „krasota“ (Schönheit)
Dostojewskis hatten einst die sowjetischen Gläubigen ausgemacht. An deren Stellen sehen wir heute Selbstbewußtsein, das Streben nach dem guten Leben und einen selbstsicheren Umgang mit der
Gesellschaft. Das Gemeindeleben ist in den Hintergrund gerückt und wird mitunter als Störung empfunden. An dieser Stelle taucht die Technologie wieder auf: Warum
den Kirchgang praktizieren wenn es den Gottesdienst ohnehin auf Youtube gibt und sich die Freunde über die sozialen Netzwerke erreichen
lassen?“
All dies gilt in gleicher Weise für die Ukraine. Wagler, ein Universitätslektor für Slawistik, lebt seit 1994 in Nischni Nowgorod/Wolga.
Seit vielen Jahren übt sich Europa darin, die Trends von Hollywood und der US-Massenkultur nachzuahmen. Was dabei herauskommt, ist meistens noch widerlicher und extremer als das Original. Am 12. Juli bei der “Prjamoi Efir” Talk-Show im Ersten Russischen Kanal hob eine Menge der anwesenden Männer die Hände als gefragt wurde, ob sie ihr Sperma für einen guten Zweck hergeben würden. Die vorgesehene Empfängerin, Larissa Tschernikowa, war ebenfalls zugegen. Sie ist eine 42-jährige russische Sängerin aus USA, die den Gesetzen der Biologie noch rechtzeitig trotzen und ein wahrlich vollkommenes Exemplar zur Welt bringen will. Man sieht: Die russische Gesellschaft hat noch einen weiten Weg vor sich wenn es darum geht, die “traditionellen Familienwerte” wiederherzustellen. Doch in der Ukraine sieht die Lage nicht anders aus.
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Moskauer Quellen geben an, daß der ehemalige Baptist Alexander Semtschenko, heute Bischof einer kleinen evangeliumschristlichen Denomination und bewährter
Bauunternehmer, den Weg zurück ins große Geschäft gefunden hat. Obwohl der 68-jährige Philanthrop gesundheitlich angeschlagen ist, hat seine Firma „Teplotechnik“ einen Riesenauftrag auf dem
Moskauer Flughafen Domopdedowo an Land gezogen.
Nachdem seine geschäftlichen Transaktionen eingestellt worden waren, wurde Semtschenko im Juni 2013 verhaftet. Anschließend verbrachte er ein Jahr unter Hausarrest. Bei der Baptistenunion Rußlands war er 2008 ausgeschieden. (Siehe unsere Pressemeldung vom 20. Juni 2013.)
Dr. phil. William Yoder
Smolensk, den 15. Juli 2016
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