Der Junge mit seinem Finger im Deich
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Sergei Rjachowski wird 60
Kommentar
M o s k a u – Am 18. März wurde der Moskauer Sergei Wassilewitsch Rjachowski, Leitender Bischof der ROSChWE, der “Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“ (ROSChWE), 60. Trotz seiner vielen Kritiker in der Ukraine und im Westen, haben russische Evangelikale mehr als genügend Grund, Rjachowski für seine Bemühungen im öffentlichen Raum zu danken. Seit langem sind die russischen Nationalisten bemüht, unter Beweis zu stellen, daß die Evangelikalen ausländische, pro-westliche Halbspionen seien, die verlängerte Arm westlicher Regierungen, die über die politische Grenze hinüberreichen bzw. sich einmischen wollen. Nun sind der Bischof und seine Helfer bemüht, ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Er kommt einem wie der holländische Junge mit dem Finger im Deich vor, der den Überflutungsdruck davon abhält, das Land zu überschwemmen. Er versucht, die russischen Protestanten über Wasser zu halten mit dem Beleg, daß auch Protestanten loyale Mitbürger sein können in jenen Staaten, die sich außerhalb der Reichweite von NATO und EU befinden. Sich selbst überlassen würden die pro-Maidan-eingestellten Evangelikalen es den russischen Nationalisten leicht machen, ihre Behauptungen mit handfesten Beweisen zu versehen..
In einem Interview in der “Moskowski Kosmolets” vom 21. März behauptet das Geburtstagskind: “Ich kann nicht verhehlen, daß Mitglieder unserer Kirche in allen Bereichen des Staates tätig sind.“ Er gibt jedoch gleichzeitig zu, daß sich nicht alle dieser Mitglieder frei fühlen, sich als religiös zu offenbaren. In der Öffentlichkeit bemüht sich der Bischof, positiv und aufbauend zu wirken; er behauptet gerne, Vorwürfe des Sektierertums würden immer seltener vorkommen. Im Interview sagt er: „Ich möchte Sie daran erinnern, daß ich seit 2002 Mitglied des ´Präsidialrats für die Zusammenarbeit mit religiösen Vereinigungen´und seit 2005 Mitglied der ´Öffentlichen Kammer´ bin. Meine Mitgliedschaft würde innerhalb von Sekunden gestrichen werden wenn die Föderation ihre Haltung gegenüber den Protestanten ändern würde.“
Nachdem sich Rjachowski am 4. November 2014 gemeinsam mit Präsident Putin und den Oberhäuptern der größten russischen Religionsgemeinschaften auf dem Roten Platz ablichten ließ, führte „Itar-Tass“ seine Pfingstkirche als eine der „führenden traditionellen Glaubensgemeinschaften Rußlands“ auf. „Zum Glück“ machte die Position des Bischofs am rechten Rande der erlauchten Gesellschaft es manchen Agenturen möglich, ihn aus dem Foto auszuschneiden. Doch die Pressemeldung selbst reichte schon aus, um Herzattacken bei den gläubigen Nationalisten Rußlands zu verursachen. (Siehe unsere Meldung vom 15. November 2014.)
Rjachowski nutzt seine eigenen Karriere als einen Beleg dafür, daß Protestanten gesellschaftlich vorankommen. Nun hat er als Abkömmling eines verfemten und mehrmals verhafteten Pfingstpastors Zugang zu den höchsten Kreisen im Kreml. Doch dabei gibt er zu, daß weiterhin allzu viele Regionalgrößen „Russisch“ mit „Orthodox“ gleichstellen. Wenn das vorkommt, „besuchen wir das Gebiet, treffen uns mit dem Governeur, seinen Deputanten und den Leitern der Polizei. Wir bemühen uns, die Menschen umzustimmen.“
Das Umstimmen von Menschen gehört zum Lebenswerk des Sergej Rjachowski. Im Interview berichtet er, daß nachdem er 1985 eine Arbeit als Helfer in einer psychiatrischen Krankenanstalt aufgenommen hatte, die Nachricht über seine religiösen Überzeugungen schnellstens die Runde machte. Innerhalb von 24 Stunden war der Chefarzt bemüht, seinen neuen Helfer zu feuern. Doch Rjachowski gelang es, ihn umzustimmen. „Ich bemühte mich sehr, die Meinung des Personals und der Patienten umzuändern. Ich denke, es ist mir auch größtenteils gelungen.“ Annehmbare Lebensbedingungen für Protestanten sind für ihn bis heute eine Berufung.
Bei Rjachowski hatte es in jungen Jahren anders ausgesehen. Sein verarmter Vater, Prediger einer nichtregistrierten Pfingstgemeinde im Großraum Moskau und eventuell zehnfacher Vater, wurde 1949 und 1960 zu Gefängnisstrafen verurteilt. Im Alter von sechs Jahren, hatte ein böswilliger Nachbar einen bissigen Hund auf den völlig entsetzten Sohn gehetzt. Für die folgenden sechs Jahre konnte der Junge nicht reden bzw. er stotterte erheblich.
Sergei erinnert sich: “Ich wollte so sein wie Vater und für Christus leiden.” Doch ebenso beeindruckt wurde er von dem orthodoxen Märtyrer Alexander Men, und damit nahm sein Leben einen anderen Weg. Rjachowskis Denominationen, die ROSChWE, trennte sich 1997 von der eher traditionellen “Russischen Kirche der Christen evangelischen Glaubens”. (Diese Pfingstkirche wird heute von Eduard Grabowenko aus Perm geleitet.)
Der Bischof verzichtet ganz offensichtlich auf eine ideologisch kolorierte Brille. Die 150 Gäste bei seiner Geburtsfete in einem eleganten Hotel am 19. März umfaßten „protestentische und orthodoxe Christen, Muslime, Juden, Agnostiker und Atheisten“. Er versichert: „Ich habe große Achtung vor den Vertretern anderer Religionsgemeinschaften.“
Im Interview gibt er an, daß in jungen Jahren die Familie des berühmten sowjetischen Schauspielers und zweifachen Stalin-Preisträgers Sergei Gruso (1926-1974) seine Famile mit Lebensmitteln ausstattete. Grusos Familie wohnte nebenan. Im Jahre 1991 lernte Rjachowski den Leiter der Liberalen Partei, Wladimir Schirinowski (das russische Pendant zu Donald Trump) kennen. Der Bischof nimmt Abstand von der „schockierenden Redeart“ Schirinowskis, fügt jedoch hinzu, daß er im Privaten ein ganz anderer Mensch sei: dann sei er „charmant, klug und schlagfertig“. Schirinowskis Großmutter war eine Protestantin. Der Politiker kennt sich in der Bibel aus und hat einmal sogar in der Gemeinde Rjachowskis gepredigt.
Vor einem Jahrzehnt brach Rjachowski den Kontakt mit dem Baptisten Oleksandr Turtschynow ab. Turtschynow war 2014 Präsident der Ukraine und ist heute dessen Sekretär für Sicherheit und Verteidigung. Er erläutert: „Den Geist des Nationalismus kann ich nicht ertragen, sei er russisch, ukrainisch oder sonst etwas. Für mich ist das ein Geist aus der Unterwelt.“ Die Rolle Turtschynows als nationaler Sicherheitschef hält er für unvereinbar mit seiner gegenwärtigen oder vergangenen Funktion als Laienprediger.
Auf der anderen Seite machen die ukrainischen und westlichen Kritiker Rjachowskis ihm Vorhaltungen wegen seiner Bereitschaft, sich mit Putin ablichten zu lassen oder ihm die Hand zu geben Doch natürlich tragen diese beiden Tätigkeiten nicht das gleiche Gewicht wie das Bekleiden eines hohen politischen Amtes.
Nicht alles ist im Lot
Offensichtlich hat Sergei Rjachowski starke Ellbogen. Dieser Bischof ist ein Leiter und kein Mannschaftsspieler. Tatsächlich ist er wohl „primus inter pares“ unter den protestantischen Leitern Rußlands – doch Baptisten sträuben sich dagegen, ihm diese Funktion zuzugestehen. Die protestantische Stimme Rußlands ist nicht mehr vereint: am 23. September vergangenen Jahres trennte sich die Baptistenunion von der 2002 gegründeten „Konsultativrat der Leiter der protestantischen Kirchen Rußlands“. (Siehe Meldung vom 7. Oktober 2015.) Deren Ausscheiden macht die Schlagseite des Konsultativrats zugunsten der Pfingstgemeinden augenfälliger denn je. Während der sowjetischen Periode galten eben die Baptisten als die „Ersten unter Gleichen“ - nun wollen sie sich nicht hinter Rjachowskis Führung einreihen. Und es gibt nicht wenige orthodoxe Kreise, die die Baptistenunion den pfingstlerischen Unionen vorziehen.
Zurzeit steht vieles auf der Kippe für die Protestanten Rußlands. Die Gesetzgebung bemüht sich, den Begriff „Sekte“ sehr viel genauer zu definieren. Solche Gesetze würden die protestantischen Schafe von den protestantischen Ziegen trennen. Inzwischen als „ausländische Agenten“ eingestuft, werden die protestantischen Kirchen sehr wahrscheinlich einer bürokratischen Prüfung ihrer Aktivitäten und Finanzen unterworfen sein.. Man geht davon aus, die protestantischen Kirchen werden auf ihren offiziellen Webseiten die Entgegennahme ausländischer Spenden auflisten müssen. Die Härte derartiger Maßnahmen wird von der generellen Ost-West-Wetterlage sowie vom diplomatischen Können kirchlicher Vertreter wie Sergei Rjachowski abhängen. Wir wünschen ihnen dabei Gottes Segen.
Dr. phil. William Yoder
Smolensk, den 3. April 2016
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