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Die Ukrainer müssen paritätisch denken

Die fehlende Parität verhindert vieles

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Nachrichten von der russischsprachigen Facebook-Front

 

Kommentar

 

M o s k a u – Der Sache von Charismatikern und Pfingstlern wurde ein Schlag versetzt, als Gennadi Mochnenko (bzw. Gennadiy Mokhnenko) im ukrainischen Fernsehen erklärte, er wäre bereit, bei passender Gelegenheit Wladimir Putin persönlich zu liquidieren. Das können Sie sich selbst anschauen unter: https://www.youtube.com/watch?v=ZJ2qaLqsjzs&sns=fb. Mochnenko ist Pfingstpastor und eine leitende Persönlichkeit in der ukrainischen „Ukraine ohne Waisen“-Bewegung. (Siehe unseren Bericht vom 15. Juni 2011.) Ein Einwohner der umkämpften Stadt Mariupol, er und seine Gattin haben bereits rund 30 Waisen adoptiert; die meisten der Söhne beteiligen sich jetzt freiwillig an militärischen Aktionen oder sind selbst Soldaten geworden.

 

Ein Vorhaben der Bewegung, die Welt per Fahrrad zu umrunden, endete im vergangenen August mit einer Tour von Moskau nach Wladiwostok. Nur wenige Tage nach der Rückkehr nach Hause machten Mochnenko und seine Kollegen einige antirussische Aussagen. Im September trennte sich die Organisation „Rußland ohne Waisen“ offiziell von ihrem ukrainischen Partner. Das brachte den loyalen russischen Staatsbürger Sergei Rjachowski, Bischof der großen „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“ (ROSChWE), in Erklärungsnot, denn sein Eintreten bei den Behörden für das Vorhaben Mochnenkos hatte die Fahrt mit ermöglicht. Einer dieser Briefe Rjachowskis wird im obigen Propagandastreifen gezeigt. Ende März bemühte sich der Bischof nochmals, sich der Sache zu entziehen mit einem Brief, der sich in jeglicher Form vom einstigen Partner lossagte. Alexander Dworkin, der umstrittene und konservativ-orthodoxe Sektenkundler, versicherte im genannten Film, Pfingstler würden – aller Beteuerungen Rjachowskis zum Trotz – bei entsprechendem Bedarf immer wieder den politischen Kurs wechseln.

 

Ein Beitrag von Mochnenko, den er am 2. Juni auf seine Facebook-Seite setzte, trägt die Überschrift: „Lieber mit dem ‚Rechten Sektor‘, als mit den ‚linken Sektierern‘“. Darin ist u.a. zu lesen: „In einer Zeit, in der unsere Burschen . . . ihr Leben dafür opfern, um mich, meine Kinder und meine Stadt zu beschützen, schütten ein Teil der Christen in Rußland und anderswo Unrat über mich aus. Sie tun das, weil ich es mir leiste, etwas zu tun, um mein Land gegen die russische Aggression zu verteidigen. Doch laßt mich euch mitteilen: Ihr seid nicht meine Brüder! Ihr seid Linke; ihr seid keine Christen, sondern pazifistische und pharisäische Sektierer. . . . Die Gebete meiner Burschen sind nicht so elegant wie jene der Pseudo-Christen, aber sie sind meine Brüder! Dabei zitiert er Matthäus 12,50: „Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.“ Ein Foto zeigt Mochnenko in der Tracht eines Pfarrers, als er den Rechten-Sektor-Kämpfer „Tscherwen“ umarmt. Der Beitrag verfügt gegenwärtig über 889 „Likes“. Der Rechte Sektor gilt als die am deutlichsten faschistische Gruppierung unter den größeren politischen Kräften der Ukraine. Sein Oberhaupt, Dmitro Jarosch, gilt als ein Hauptgegner des Präsidenten Poroschenko.

 

An anderen Stellen auf seiner Facebook-Seite beschreibt Mochnenko die Russen als „Bastarde“, „Tiere“, „Abschaum“ und „Gangster“. Den Kommentaren ist jedoch zu entnehmen, daß nicht alle Ukrainer damit einverstanden sind. Mochnenko ist aber weiterhin mit Peter Dudnik, dem bekannten Pfingstler aus Slawiansk, verbunden. Er wird in Dudniks Gemeinde eingeladen, und die beiden treten gemeinsam im ukrainischen Fernsehen auf. In meinem Interview mit ihm am 1. April hatte Dudnik gesagt: „Wenn Haß in deinem Herzen entsteht, dann hat dich der Teufel bereits neutralisiert. . . . Wenn der Haß ihre Herzen ergriffen hat, sind sie nur noch geistliche Leichen.“ (Siehe unsere Meldung vom 21. April.) Obwohl er sich als Gefährte Mochnenkos versteht, teil Dudnik mir mit, daß er diese Position weiterhin vertritt. Das kann ich nicht nachvollziehen. Dennoch verstehe ich die Schwierigkeit, sich von einem engen Freund zu distanzieren.

 

Vladimir Dubovoy (auch “Volodimir Dubovii”) gibt an, in Kirowograd/Zentralukraine Pastor der Baptistengemeinde „Spasa Christa“ zu sein. Auf Facebook läßt er sich inmitten von Panzern ablichten. Mit einem Zitat vom Film „American Sniper“ ruft er sinngemäß dazu auf, alle rußlandtreuen Männer zu eliminieren. Seine Facebook-Seite zeigt ferner, daß er ein vehementer Gegner der Schwulen ist. Mir ist im ersten Anlauf ein Gespräch mit ihm nicht gelungen.

 

Facebook und noch mehr

Am 10. Mai teilte Igor Bandura, der „zweite Mann“ in der Hierarchie der ukrainischen Baptistenunion, auf Facebook einen denkwürdigen Aufsatz aus der Tagespresse mit: „Ein Kommentar aus der Hölle: Warum wir uns im Internet so sehr hassen“. Wie ist es zu begründen, daß eine der öffentlichsten Entdeckungen aller Zeiten, das Internet, die gemeinsten Urinstinkte des Menschen zu Tage fördert? Wieso gelingt es ihm, auch Anhänger Christi in „Trolls“ zu verwandeln? Was in den sozialen Netzwerken auftaucht, wird auf Jahrzehnte hin auf Festplatten und Servern in allen Ecken des Globus abgespeichert. Doch da vertreten sogar Geistliche Ansichten, die die meisten von uns sich nicht einmal trauen würden, der Gattin mitzuteilen.

 

Das Facebook der russischen Baptisten hebt sich vom Facebook der ukrainischen Baptisten ab: Die ukrainischen Seiten sind politischer. Die Facebook-Seiten von Bandura und dem ukrainischen Baptistenpräsidenten Waleri Antoniuk sind sehr politisch, aber nicht sonderlich aktiv. Schauen Sie auch die Seite des selbständigen Baptistenbischofs Anatoli Kaljuschni (Anatoliy Kalyuzhniy) an. Die Seite des leitenden Vize-Präsidenten des russischen Baptistenbundes, Sergei Sipko, ist auch ausgesprochen politisch – allerdings nicht im Sinne der Kremlschen Politik. Am 3. Juni beschreibt Sipko die russische Deutung der Einnahme der Krim und des Abschusses des malaysischen Flugzeuges als „offenkundige Lügen“. Er beklagt die russischen Gegensanktionen und die unechten, allzu jungen Kriegsveteranen am 9. Mai. Doch kaum politisch sind die Seiten seines Vaters, ex-Unionspräsident Juri Sipko, und des baptistischen Direktors für Außenbeziehungen, Witali Wlasenko. Das Gleiche gilt für die Seiten des gegenwärtigen Präsidenten der russischen Baptisten, Aleksei Smirnow.

 

Nach einem Bericht über einen Empfang auf höchster Ebene im Kreml am 12. Juni, zu dem auch Witali Wlasenko eingeladen worden war, wurde er auf Facebook als „Prostituierte Putins“ und „Judas“ diffamiert. Leider läßt der vorherrschende, westliche Konsens – nennen wir es die „kritische Solidarität“ – eine Loyalität auf beiden Seiten der Barrikaden nicht zu. Wladimir Putin ist seinerseits eine Art Hitler; die Regierung des Pawlo Poroschenko andererseits eine demokratische Äußerung westlicher Zivilisation. Ein Ukrainer mag Chefspion, Staatspräsident oder Chef der militärischen Sicherheit sein (der Baptist Oleksandr Turtschinow hatte bereits alle drei Ämter inne), doch ein russischer Evangelikaler muß schon auf vieles gefaßt sein, wenn er an einem Abendessen im Kreml teilnimmt. Die Gläubigen Russlands werden auch nur dann akzeptiert, wenn sie die Regierung Putin bekämpfen oder zumindest stark kritisieren. Diese Absage an die Parität schafft eine massive Mauer, die jeglicher Verständigung zwischen den Kirchen in Rußland und der Ukraine im Wege steht. Diese Absage ignoriert die Tatsache, daß alle Regierungen in den Augen Gottes höchst unvollkommen sind.

 

Obwohl der Großteil meiner Lektüre zu politischen Themen aus westlichen Quellen stammt, wird mir häufig vorgehalten, Sprachrohr des Kremls zu sein. Meine Kritiker verstehen sich als freie, eigenständige und gewissenhafte Berichterstatter. Ich habe schon öfters behauptet: Wir alle sind durch die Propaganda gefährdet – so ist das Leben! Die Parität würde verlangen, daß die Auffassungen seriöser Beobachter auf beiden Seiten erst einmal als legitim und nachdenkenswürdig akzeptiert werden.

 

Die Maidaner Bewegung wird durch ihren Anschluß an den globalen Versuch der USA, Rußland einzukreisen und zurückzudrängen, kompromittiert. Christen, die für den Maidan eintreten, müßten sich deren Wirkung auf die andere Hälfte (bzw. Zweidrittel) der Menschheit bewußt sein. Ein Christentum, das ideologisch an die USA und den Maidan angekoppelt ist, hat keine Verheißung in Rußland und großen Teilen Asiens. Deshalb gibt es welche von uns am anderen Ende, die sich die Mühe machen, ihre Sorgen schriftlich zu verfassen.

 

Vielleicht ist der Kampf um die Ukraine der Auseinandersetzung um Irland vor einem Jahrhundert ähnlich. Damals dachte der große britische Nachbar im Osten, es handele sich ausschließlich um Briten. Ein Bruchteil der Menschen im Nordteil der Insel „Eire“ stimmte dieser Einschätzung zu und spaltete sich ab. Das Ergebnis war die neue politische Größe Nordirland. Auch damals griff man zu den Waffen, doch zum Glück hielt sich die Einmischung von außen in Grenzen.

 

Als lebenslanger Wiedertäufer habe ich theologische Differenzen mit einer Mission wie der in Illinois beheimateten “Slavic Gospel Association”. Aber ich begrüße ihren Versuch, der Politik aus dem Wege zu gehen. Dies räumt ihr die Möglichkeit ein, ihren Aufgaben in Rußland und der Ukraine friedlich nachzugehen. Moskauer Pfingstpastoren wie Mats-Ola Ishoel und der US-Staatsbürger Rick Renner gehen in gleicher Weise vor. Ich finde diese Haltung nicht unproblematisch, aber sie ist immerhin paritätisch. Auf der Ebene der Laien würde ich einen multi-parteilichen, politischen Ansatz bevorzugen.

 

Unsere Gegenspieler liegen nicht ganz falsch

Für viel Aufsehen hat die Tatsache gesorgt, daß Priester des Moskauer Patriarchats vor einem Jahr in Slawiansk um die Ecke herum ihre Gebete verrichteten, als östliche Panzer auf die Stellungen der Westukrainer losfeuerten. Doch westukrainische Evangelikale segnen das Kriegstreiben auch.

 

Pfingstler (und Adventisten) in der Ukraine und Rußland gehen relativ rasch zur politischen Parteilichkeit über. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, daß jüngere Charismatiker in der Regel über keine christliche Sozialisation verfügen. Sie kamen erst nach 1990 zum Glauben, wurden niemals religiös verfolgt und lebten niemals fern der übrigen Gesellschaft. Die Orthodoxen befinden sich aber auch auf beiden Seiten der Barrikaden. Wenn man sich nach den Zahlen richtet, muß die Aufspaltung der orthodoxen Denominationen zwischen der Ukraine und Rußland als die größte kirchliche Spaltung von allen gelten.

 

Hier in Belarus sitze ich an meinem Schreibtisch und weine innerlich: Es hat den Anschein, wir würden unser Zeugnis für ein Linsengericht verschleudern. Die deutsche Theologin Ilsegret Fink schrieb 1967: Wir sind uns selber die größten Feinde. Nur wir selber – und nicht etwa unsere bolschewistischen oder orthodoxen Gegenspieler – können den guten Ruf der (evangelischen) Kirchen vor den Augen einer zuschauenden (auch nichtwestlichen) Welt zerstören. Der selbstinitiierte Verlust an Glaubwürdigkeit ist der größte Schaden von allen.

 

Nun haben wird den Monat Juli, und die lange erwartete Sommeroffensive in der Ostukraine ist noch nicht losgetreten worden. Ist die Sprache gegenwärtig so kriegerisch, weil die Waffen es eben nicht sind? (Das ist relativ gesprochen.) Möchte Gott uns nun doch den Frieden bescheren? Kann jetzt auch nur noch Gott uns retten? Eine meiner größten Hoffnungen besteht darin, daß Gott uns retten möchte, nicht vor dem Rußland Putins, sondern vor der eigenen Torheit.

 

Sergei Sipko teilt auf seiner Facebook-Seite Ermutigendes mit. In einem Video berichtet der konservative, orthodoxe Journalist Maxim Schewchenko von der großartigen Arbeit unter Suchtkranken, die sowohl Protestanten wie Orthodoxe leisten. Es finden Wunder statt. „Die Orthodoxen haben von den Protestanten nichts zu fürchten“, versicherte er. „Es ist eine Provokation, sie als Sektierer zu bezeichnen. Es sind die Taten, die zählen.“ Es gebe auch gute Menschen auf beiden Seiten, die, wenn sie auf der Straße ein verlorenes Portemonnaie entdecken, dessen Eigentümer zu finden versuchen. „Wir müssen zusammenarbeiten“, hieß es. Die theologischen Schattenkämpfe führen zu nichts. „Lassen wir Gott selber die Sache entscheiden.“

 

So sehen die Hoffnungsschimmer in einer dunklen Nacht aus.

 

1.760 Wörter

 

Ein Wort zum letzten Beitrag

 

Mein Artikel über Pensa war eine Reportage – kein Kommentar. Es ist oftmals in Ordnung, Menschen ausreden zu lassen ohne ihnen gleich ins Wort zu fallen. Das war eine hoffentlich informative Reportage - dieser Bericht ist ein Kommentar, der meine Meinung wiedergibt.

 

Im letzten Beitrag wurde kritisiert, daß ich von einer „Groß-Ukraine“ berichtet hatte. Ich hatte schon früher von einer „Kiew-Ukraine“ geschrieben. Diese Termine hatte ich selbst geschaffen, da die neutralen Begriffe West- und Ost-Ukraine geographisch ungenau sind. Auch Mariupol und Charkow befinden sich im Osten. Ich habe auch schon von „Separatisten“ gesprochen. Doch diese Etikette ist problematisch, denn der Maidan war ebenfalls eine separatistische Bewegung. Ich sollte wohl beim eher neutralen „Ost“ und „West“ bleiben.

 

Ein Kommentar zu weiteren Nachrichten

 

1. In bestimmten Fragen bleiben sich die Christen der Ukraine und Rußlands völlig einig. Das zeigt sich deutlich in der Frage der Homosexualität. Ihre Ablehnung des Beschlusses des Obersten Gerichts der USA vom 26. Juni ist nahezu einhellig. Die Osteuropäer verfügen über konservative Gesellschaften, die sozialen Experimenten keinen Raum lassen. Das macht es den Russen leicht, sich als Bollwerk gegen die Zerstörung von traditionellen und christlichen Familienwerten in einem nachchristlichen Westen darzustellen. Die ukrainische Begeisterung für die USA ist nicht flächendeckend; der Nachrichtendienst „Invictory“ z.B. begrüßt die ablehnende Haltung von leitenden Persönlichkeiten wie Franklin Graham, Mike Huckabee, Robert Jeffress, John Piper, Max Lucado und Pat Robertson zum Beschluß des Obersten Gerichts. Sie und ihre Anhänger sind die tatsächlichen Verbündeten der ukrainischen Evangelikalen.

 

2. Die “Billy Graham Evangelistic Association” bemüht sich weiterhin um gute Beziehungen zur Russisch-Orthodoxen Kirche. Von April bis Juni haben sie und ihre Tochterorganisation, „Samaritan’s Purse“, in Zusammenarbeit mit der Orthodoxie 58.000 Hilfspakete an Flüchtlinge im russischen Gebiet angrenzend an der Ostukraine verteilt. Metropolit Hilarion (Alfejew), der Außenminister der ROK, erläuterte: Die Russisch-Orthodoxe Kirche bleibt offen für den Dialog mit protestantischen Denominationen, die „den moralischen Lehren des Evangeliums und den Traditionen des bilateralen Dialogs treu ergeben bleiben“. Die Kooperation entwickelt sich weiter „im Schutz von Christen, die in verschiedenen Gebieten der Welt der Not ausgesetzt sind, in der Erhaltung des christlichen Erbes sowie in der Durchführung von Bildungs- und humanitären Projekten“. (Informationen vom Moskauer Nachrichtendienst “Protestant.)

 

Nicht zufällig war Hilarion Zugang zu Billy Graham in Nordkarolina anläßlich seines 96. Geburtstags am 7. November letzten Jahres gewährt worden.

 

Dr. phil. William Yoder
Smolensk, den 2. Juli 2015

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