· 

Gegenteilige Meinungen zur Ostukraine

Das Stromkabel durchschneiden

--------------------------------------------------------

Bericht über einen Besuch in Slawiansk und Kiew

 

Reportage

 

Smolensk -- Im Expreßzug Kiew - Konstantinowka braust man mit bis zu 160 km/h der Kriegsfront entgegen -  das kurz vor Donezk liegende Konstantinowka ist gegenwärtig Endstation. Vor zwei Jahrzehnten machte das kriegsgeplagte Kroatien einen anderen Eindruck. Damals erlebte ich, wie sich klapprige Busse auf Umwegen über Bergpässe quälten.

 

In Slawiansk sieht die Ostukraine richtig robust aus. Seit dem Abzug der Aufständigen am 5. Juli letzten Jahres ist in der Stadt kräftig gehämmert und gesägt worden. Nur noch in bestimmten Außenbezirken sind Kriegsschäden deutlich zu vernehmen; Schulen, Krankenhäuser und Verwaltung sind voll im Einsatz. Die zahllosen Schlaglöcher in den Straßen zeugen noch am ehesten von dem, was vor einem Jahr noch Realität war.

 

Zum Wiederaufbau der Stadt haben drei große, charismatisch-pfingstlerische Gemeinden in erheblichem Maße beigetragen. Kirchlich haben sie heute in Slawiansk das Sagen. Peter Dudnik berichtete am 1. April, Helfer seiner Gemeinde hatten 112 der rund 1.500 beschädigten Privathäuser wiederhergestellt und vier Häuser von Grund auf neu gebaut.

 

Dudnik, Zweiter Hauptpastor der großen „Gute Nachricht“-Gemeinde, hat sich mit humanitären Aktionen landesweit einen Namen gemacht. Seine Gemeinde ist bestens vernetzt; es sind nahezu ständig Bauarbeiter und humanitäre Helfer aus der Westukraine, Deutschland oder den USA präsent. Im Büro seiner Gemeinde geben sich die örtlichen Vertreter von Stadt und Militär die Klinke in die Hand.

 

Die eindeutig größere Not befindet sich auf dem Gebiet der Separatisten. Ein Pfingstler, der gerade an dem Tage in Donezk gewesen war, berichtete von Anarchie, dem Fehlen sozialer Leistungen, von leeren Regalen und heftigen Preisen. Dort kommt der Hunger vor. Eine Flüchtlingsfrau aus dem von Separatisten beherrschten Gorlowka, die im umfunktionierten Weisenhaus der „Guten Nachricht“ wohnt, berichtetete, sie habe sich wegen der warmen Zimmer und des guten Essens für das Flüchtlingsdasein entschieden. Es kam hinzu, daß der Schulunterricht des Sohnes nur im von Kiew regierten Teil des Landes anerkannt wird. Doch wer einen Passierschein ergattert, kann Verwandtschaft und Bleibe in der alten Heimat weiterhin besuchen – auch diese Frau. Die strapazierten Separatisten freuen sich über ein Problem weniger, wenn sich ihre Zivilisten für eine Alltags-Versorgung im westlichen Teil entscheiden.

 

Wo sind die Orthodoxen von Slawiansk geblieben? „Wir haben nur Beziehungen zur kleinen orthodoxen Gemeinde des Kiewer Patriarchs“, antwortete Dudnik. „Zu den Gemeinden des Moskauer Patriarchats (der größten Kirche des Landes) haben wir keinen Kontakt – dort wird der Separatismus gepredigt.“ Ein Teil der Priesterschaft des Moskauer Patriarchats ist geflohen; die verbliebenen Geistlichen üben sich in Bescheidenheit und geistlicher Besinnung.

 

Nach dem Einmarsch der Separatisten am 12. April 2014 sah das ganz anders aus. In der orthodoxen „Kirche des Heiligen Geistes“ hatte Igor Girkin (auch „Strelkow“ genannt), der legendäre, russische Kriegsstratege und Monarchist, eine Kriegsfahne segnen lassen. Mit ihr  zog er dann bei Aufmärschen durch die Straßen. Protestantische Kirchen wurden verschiedentlich besetzt; der Keller der „Guten Nachricht“ diente als Munitionslager. Der leitende Pastor Aleksei Demidowitsch verbrachte sieben quälende Stunden mit verbundenen Augen in einem Keller der Aufständigen. Vier junge Männer aus der benachbarten, pfingstlerischen „Kirche der Verwandlung Christi“, die sich im imposanten, ehemaligen Kulturhaus der Stadt versammelt, wurden von Separatisten ermordet. Einer von ihnen war ein achtfacher Vater. Heute liegen die Vier an einem auffälligen Ort in Stadtmitte außerhalb eines Friedhofes begraben. Ihnen wurde nach dem Machtwechsel im Juli eine höchst öffentliche Begräbnisfeier zuteil.

 

Politik

Der klein, aber stämmig gebaute Peter Dudnik sieht keinen Grund, warum Krieg geführt werden sollte. Er meinte: Als Slawiansk von den Separatisten besetzt war, versicherten die Medien, der Donbas habe sich erhoben „damit die Banderowzy aus der Westukraine nicht hierher kommen und ihre Herrschaft aufrichten. Doch wenn ich heute in das Büro des Bürgermeisters gehe, finde ich keinen einzigen, der aus der Zentral- oder Westukraine stammt. Es sind alles Hiesige. Vor wem braucht man uns zu beschützen?“ Der Pastor fuhr fort: „In der Ukraine gibt es keinen Faschismus. Es gibt zwar radikal eingestellte Leute und Nationalisten, aber keineswegs mehr als in jedem anderen beliebigen Staat. Wir haben nicht mehr als in Amerika oder in Rußland. Hier handelt es sich um einen künstlich aufgebauschten Feind.“

 

Mit dieser Überzeugung steht der tatkräftige Pastor aus Slawiansk nicht allein. Ein leitender Vertreter des ukrainischen Baptistenbundes behauptete mir gegenüber in Kiew am 2. April: „Es gibt keine Faschisten in der Ukraine. Der richtig große Faschist ist Putin.“

 

Es kränkt Protestanten in der westlich-orientierten Ukraine, wenn ihnen vorgehalten wird, Parteigänger des Westens zu sein. Sie sehen in ihrer Haltung keine parteiische Politik, sondern nur die Wahrnehmung offenkundiger, für alle erkennbarer Tatsachen. Sie sind sich ihrer Sache sicher. An die russischen Gemeinden gerichtet, sagte Dudnik: „Brüder, begebt euch auf das Gebiet des Schmerzes. Kommt her und dient den Menschen. Kommt her und schaut. Dann wird euch der Heilige Geist zeigen, was ihr zu tun habt.“

 

Wer trotzdem zu gegenteiligen politischen Schlußfolgerungen gelangt, steht in der Gefahr, den Glauben abgesprochen zu bekommen. Mit Schmerz berichtete Dudnik von einer Pfingstgemeinde in Makejewka bei Donezk, die gerade ins andere Lager übergelaufen war. „Dort versammeln sich heute Leute, die die Ideologie von DNR und LNR (Donezker und Lugansker Volksrepubliken) verbreiten. Das sind falsche Brüder, die Unwahrheiten vertreten. Es wäre schon gut, wenn sie die Bevölkerung unterstützen würden, doch stattdessen fördern sie die Sache des Krieges.“

 

Unter den Protestanten der Groß-Ukraine herrscht kein Verständnis für den Versuch, durch das Gut-Wetter-Machen mit Staatsvertretern in Donbas und Rußland das Überleben der protestantischen Kirchen zu sichern. Dementsprechend äußerte sich Peter Dudnik über zwei Pfingstpastoren in der russischen Stadt Pensa. Dort hatten am 5. März Bischof Oleg Serow und Pastor Sergei Kirejew von der Gemeinde „Lebendiger Glaube“ Igor Plotnizki, den Ministerpräsidenten der Lugansker Volksrepublik, empfangen. Dabei wurde laut Pressemeldung ernsthaft über die „besonderen Schwierigkeiten“ der protestantischen Gemeinden im Gebiet Lugansk beraten. Das war auch nötig, denn Dudniks Angaben zufolge bestehen über 40 Fälle von Repressionen gegenüber protestantischen Gemeinden im Donbas. Es wurde in Pensa nach Lösungen gesucht, „damit sich der Dienst der evangelischen Gemeinden fortsetzt und sie den Bewohnern von Nutzen sein können“.

 

Plotnizki unterstrich seine Hochschätzung für die humanitäre Hilfe aus Pensa mit dem Satz: „Danke Euch, Brüder, für alles!“ Diese Anrede war wohl kein Zufall, denn auch Dudnik gibt an, daß Plotnizki einst Verwalter einer Lugansker Pfingstgemeinde war. „Das ist ein interessantes Phänomen“, merkte Dudnik an. „Eine ganze Reihe von Männern, die unsere Reha-Programme durchlaufen haben, sind hinterher vom Glauben abgekommen und dienen heute in den Reihen der Separatisten.“ Ist Plotnizki aber wirklich ein Ehemaliger? Eine Webseite von orthodoxen, pro-ukrainischen „Sektologen“ behauptet: „Einigen Berichten zufolge stammt Igor Plotnizki selbst aus einer dieser Sekten, vertritt bis heute das Pfingstlertum und beschützt jene Sekten, die noch in Lugansk vorhanden sind.“ (Siehe: „http://ukrsekta.info/2006/05/30/o_nas.html“).

 

Dudnik resümierte: Diese Kollegen in Pensa „unterstützen nicht die Leidenden, sondern die ganze Kriegsbewegung überhaupt; sie unterstützen die kriegsführende Seite. Sie schicken den Aufständigen Hilfe und nennen deren Sache gerecht. Auch diese Pastoren meinen, man müsse den Donbas von Faschisten säubern.“

 

Daraus ergibt sich eine schwierige Dialektik: Pro-westliche Ukrainer wollen unparteilich sein, doch wer sich politisch für den Osten entscheidet, kommt schnell in den Verdacht, ein vom Glauben Abgefallener zu sein. Es gibt Fälle, in denen auch ukrainische Baptisten russischen Protestanten den Glauben absprechen.

 

Diese Penser Gemeinde gehört der „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens (ROSChWE) an. Deren Leitender Bischof, der Moskauer Sergei Rjachowski, ist dafür bekannt, sich besonders engagiert um gutes Wetter bei den politisch Mächtigen in Rußland und dem ukrainischen Osten zu bemühen.

 

Propaganda

Pastor Dudnik versicherte, nahezu alle Nachrichten von den staatlichen Medien Rußlands seien unwahr. Er räumte aber ein: „Es gibt auch Unwahrheiten in den ukrainischen Medien, doch viel weniger. Auch sie erzeugen negative Emotionen – den Haß.“ Deshalb gibt dieser Fernsehabstinenzler den Rat: „Der beste Weg, dem Teufel zu entkommen, heißt, aufs Fernsehen zu verzichten. Am besten schneidet man das Stromkabel durch.“ Damit war auch das ukrainische Fernsehen gemeint. Wer in Slawiansk noch russisches Fernsehen schauen will, muß über einen Satellitenteller verfügen.

 

Peter Dudnik brachte noch den denkwürdigen Satz: „Wenn Haß in deinem Herzen entsteht, dann hat dich der Teufel bereits neutralisiert. Leute mögen weiterhin in die Kirche kommen und ihren religiösen Aktivitäten nachgehen, doch wenn der Haß ihre Herzen ergriffen hat, sind sie nur noch geistliche Leichen.“

 

Richtig sympathisch war ein Satz des Pastors am Ende des Interviews: „Wenn du den Schmerz der Leute siehst, dann ist die Frage nach dem Schuldigen nicht mehr so wichtig. Dann gilt nur noch die Frage: Wie kann ich dieses Leiden einstellen?“ Bei einer solchen Haltung wäre es unvermeidlich, daß sich Ukrainer und Russen wieder näher kommen.

 

Dr. phil. William Yoder
Berlin, den 21. April 2015

Diese journalistische Veröffentlichung gibt nur die Meinung des Verfassers wieder. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, die offizielle Meinung einer Organisation zu vertreten. Diese Meldung darf gebührenfrei abgedruckt werden, wenn die Quelle angegeben wird. Meldung 15-04, 1.383 Wörter.