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Protestanten ohne NATO

Eine Kirche in BRICS

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Schlußfolgerungen, die sich aus der ukrainischen Krise ergeben

 

M o s k a u – Zwei Erklärungen, die auf dem wichtigen Petersburger Kongreß der "Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten" (RUECB) am 30. Mai verabschiedet worden sind, haben für Furore gesorgt. Der erste Brief stellte die Berechtigung des Aufstandes auf dem Maidan in Frage: "Wir fühlen uns der biblischen Lehre verpflichtet, die den gewaltsamen Sturz einer legalen Staatsmacht und den Nationalismus ablehnt und eine Lösung sozial-politischer Differenzen nur auf dem Wege von politischen Verhandlungen erlaubt.'"Menge dich nicht unter die Aufrührer.'" (Sprüche 24,21)

 

Der zweite, an Präsident Wladimir Putin adressierte Brief, beginnt mit: “Wir drücken Ihnen unsere besondere Dankbarkeit dafür aus, daß Sie den Schutz und die Stärkung der geistlich-sittlichen Werte, zu denen die traditionelle Familie zählt, zu einer Aufgabe von höchster Priorität erklärt haben." Er schließt mit der Zusicherung: "Wir rechnen Ihnen Ihren Beitrag zur Stärkung des zivilen Friedens und der Eintracht in der russischen Gesellschaft hoch an. Wir bitten den Herrn darum, er möge Sie mit der Kraft und dem Mut ausstatten, der für Treue im Kampf gegen Äußerungen des Fremdenhasses und für die Bewahrung interkonfessionellen Friedens in Rußland erforderlich ist."

 

Ukrainische Baptisten rechtfertigen ihre "Rebellion" damit, daß ihnen nur die Option blieb, sich auf die Seite der eigenen Nation zu stellen. In einem Interview mit dem Pressedienst der RUECB erklärte Waleri Antoniuk (Kiew), seit Mitte Juni Präsident der "All-Ukrainischen Union von Kirchen der Evangeliumschristen-Baptisten": "Die Kirche findet ihre Stärke darin, daß sie auf der Seite der Wahrheit steht. Wenn ein Volk die Wahrheit ausspricht, Gerechtigkeit sucht, Befreiung von der Korruption wünscht und einen ehrlichen Lebenswandel verlangt, dann sind Christen aufgerufen, das zu unterstützen." Er fuhr fort: "Wir können niemals dem Volk gebührend dienen, wenn wir das Land nicht lieben, in dem Gott uns bestimmt hat, geboren zu werden und zu dienen." Antoniuk hat ferner den gewaltsamen Machtwechsel von Februar 2014 gutgeheißen mit einem Verweis auf Dietrich Bonhoeffer und dessen Rechtfertigung des ethischen Grenzfalls Tyrannenmord: "Gehorsam gegenüber Tyrannen ist Ungehorsam gegenüber Gott."

 

In einem langen Beitrag auf der Webseite der ukrainischen Union weist Juri Simonenko, ein Pastor im Gebiet Lugansk, Russen darauf hin, daß im Dritten Reich deutsche Christen immer lauter ihre Psalmen abgesungen hätten in der Hoffnung, die Schreie der Millionen von Juden auf dem Wege in die Erniedrigung und ins Verderben zu übertönen.

 

Ukrainische Baptisten äußern sich äußerst selten darüber, daß die Regierung Poroschenko weiterhin über drei Minister verfügt, die der rechtsextremen Swoboda-Partei angehören (Sych, Schwaika und Mokhnyk). Andere, prominentere Rechtsextreme sitzen im Kiewer Parlament.

 

Traditionelle, eher unpolitische Baptisten haben den baptistischen Laienprediger Oleksander Turtschynow dafür kritisiert, daß er von Februar bis Juni 2014 als ukrainischer Interimspräsident fungierte. Doch Antoniuk nahm ihn im RUECB-Interview in Schutz: "Als Martin Luther King (1963) seine berühmte Rede 'Ich habe einen Traum' hielt, haben nicht alle amerikanischen Christen Beifall geklatscht. Nur im Nachhinein und im Laufe der Zeit kamen sie zu der Erkenntnis, daß es der Herr war, der ihn geführt hatte."

 

Antoniuk warf der Russischen Union auch vor, sie hätte ihre Stellungnahmen vom 30. Mai unter Druck verfaßt. "Ich habe nicht den Eindruck, daß es sich um wirklich echte Dokumente handelt. Irgend jemand wollte sie eben haben. Einer Anzahl höchst umstrittener Aussagen kann ich nicht zustimmen. Man sollte für jene beten, die sich in ihrem Urteilsvermögen als schwach erwiesen haben."

 

Manche ukrainischen Proteste ließen sich auf eine oberflächliche Lektüre zurückführen. Anatoli Kaljuzhni (Kiew), der höchst selbständige Bischof der "Union der selbständigen evangelischen Kirchen in der Ukraine", behauptete in einem Interview: "Wir kennen die wohlbekannte Stellungnahme, in der die russischen Baptisten Putin für die sittlichen Werte, für die er sich in der Gesellschaft stark macht, bedanken. Das ist die höchste Form der Blasphemie - wir wissen doch, wie er lebt." Der Petersburger Brief behauptet jedoch nicht, daß Putin ein moralisches Leben führe - er dankt dem Präsidenten lediglich dafür, daß er die Propagierung traditioneller Sittlichkeit in sein politisches Programm aufgenommen habe.

 

In seinem Artikel fragt der Ostukrainer Simonenko die russischen Baptisten: "Wer gab eurem Cäsar das Recht, mit Waffengewalt auf dem Gebiet eines anderen Staates über mein Schicksal zu bestimmen? Und doch dankt ihr ihm für die Stärkung von Frieden und Sicherheit. Kriegsfahrzeuge und schweres Gerät treffen aus russischem Gebiet bei uns ein, und ihr bedankt Euch beim 'Friedensstifter' dafür.

 

Nach der Zürcher Zeitschrift “Religion und Gesellschaft in Ost und West” beklagen ukrainische Baptisten den Brief an Putin als zynisch und "an mangelhaftem theologischem Wissen kaum zu überbieten. Putin, der seine Frau verlassen habe, werde als Bewahrer traditioneller Werte bezeichnet und trotz seiner Kriegstreiberei als Friedensstifter dargestellt." Doch der Brief lobt Putin lediglich für eine interne, friedensstiftende Rolle innerhalb der russischen Gesellschaft; zur Außenpolitik macht er keine Angaben.

 

Die Moskauer Führungsspitze der Baptistenunion beschreibt ihr Verhältnis zu Präsident Antoniuk weiterhin als herzlich; gleichzeitig nimmt sie keineswegs Abstand von den in den beiden Briefen enthaltenen Aussagen.

 

Vorsicht: Politischer Kommentar

Bis zum Ausbruch des neuesten Maidan-Aufstandes 2013 war die postsowjetische Politik von einem 50-50 Hin und Her zwischen der Ost- und Westukraine gekennzeichnet. Der Maidan-Aufstand "löste" die Problematik dadurch, daß er der östlichen Hälfte des Landes ihre politische Parität raubte. Die russische Annexion der Krim war eine Reaktion auf die Zerstörung dieses prekären Gleichgewichts.

 

Wer sich noch an die Ukraine von vor 2013 erinnern kann, ist deshalb erstaunt, wenn ein einstiger Bürgerkrieg in eine globale Konfrontation zwischen Rußland und der Ukraine umgedeutet wird. Antoniuks Stellvertreter, Pastor Igor Bandura aus Odessa, räumte das auf der Webseite der russischen Baptisten ein: "Die Situation hat sich gewandelt. Oftmals wird konstatiert, daß wir uns in einer internen, zivilen Auseinandersetzung befinden, in einem Bürgerkrieg. Doch das ist nach unserer Überzeugung nicht ganz richtig: Es handelt sich um eine Aggression von auswärts.

 

Offensichtlich kommen die Ost-Ukrainer in der politischen Gleichung nicht mehr vor. Doch nach Angaben der UNO (UNHCR) hausen 110.000 ukrainische Flüchtlinge in den Westgebieten Rußlands - nur halb so viele sind innerhalb der Ukraine Richtung Westen geflohen. Russen empfinden das Verschwinden der prorussischen ostukrainischen Bevölkerung als Ideologie. Pastor Bandura sagte: "Die Kirche unterstützt das Volk." Angesichts der Stellungnahmen ukrainischer Protestanten zugunsten von Maidan deuten Russen das um in: "Wir unterstützen das westukrainische Volk gegen das ostukrainische."

 

Wenn es tatsächlich zutrifft, daß Rußland den ostukrainischen Separatisten stark unter die Arme greift, dann läßt sich daraus nur folgern, daß es sich letztlich um einen - höchst bedauerlichen - Stellvertreterkrieg zwischen Rußland und den USA handelt. Massive westliche Unterstützung für die Kiewer Regierung steht außer Frage. Am 13. Dezember 2013 gab Victoria Nuland, eine Stellvertreterin des Außenministers, vor dem Washingtoner National Press Club zu Protokoll, daß ihr Staat seit 1991 fünf Milliarden Dollar ausgegeben hätte, "um demokratische Institutionen zu entwickeln und Fertigkeiten bei der Förderung von Zivilgesellschaft und guten Regierungsformen in der Ukraine zu unterstützen". Ich wage keine Mutmaßung darüber, zu welchem Prozentsatz diese US-Unterstützung vor und nach Dezember 2013 einen militärischen Charakter hatte.

 

Ich kann die russische Einnahme der Krim längst nicht so stark verteidigen, wie etwa Mikhail Gorbatschow es tut. Man muß aber zugeben, hätte sie nicht stattgefunden, würde sich das gegenwärtige Kriegsgebiet wahrscheinlich bis weit hinein in den Süden der Krim erstrecken. Warum konnte man die Ukraine nicht zweiteilen, oder etwa in zwei Drittel West und ein Drittel Ost? Dann würde die Krim heute einem selbständigen, mit Rußland verbundenen Staat angehören. Die "territoriale Integrität" war nicht das höchste Gut, als es um das Aufteilen der Tschechoslowakei und Jugoslawiens ging. Sie wird auch nicht an erster Stelle stehen, wenn am 18. September das Referendum über die Loslösung Schottlands vom Vereinigten Königreich abgehalten wird.

 

Propaganda

Routinemäßig führen Ukrainer die prostaatlichen Äußerungen russischer Protestanten darauf zurück, daß die Betroffenen der Propaganda ihres Staates erlegen seien. Vermeintlich bleiben prowestliche Ukrainer ungeschoren von der Versuchung durch Propaganda und Lüge. Im genannten russischen Interview erläuterte Igor Bandura: "In einem freien Land (wie die Ukraine) hat man eine Wahl bei den Massenmedien, und die Aussichten, zur Wahrheit durchzustoßen, sind entsprechend größer." Doch lobenswerterweise verfügen auch die Russen über eine Wahl an Massenmedien, und nicht wenige entscheiden sich, um die Arbeit des TV-Propagandisten Dmitri Kiseljow einen Bogen zu machen.

 

Neugierige, die des Englischen kundig sind, sollten die Webseiten von "Russia Today" (RT) und “Kyiv Post” vergleichen. Welche Seite wirkt gehässiger oder extremer? Die Entscheidung überlasse ich Ihnen.

 

Am 18. Juli, nur wenige Stunden nach dem grauenhaften Abschuß des malaysischen Fliegers unweit von Donezk, brachte das Londoner Boulevardblatt "Sun" die Überschrift: "Putins Rakete".

 

Ukrainische Protestanten drücken die Erwartung aus, die ultimative, objektive Wahrheit werde sich noch finden lassen. Im Interview versicherte Bandura: "Wir (Gläubigen) verfügen über das Licht Christi." Wenn wir Christen in der Ukraine und Rußland den Informationsfluß mit größter Aufmerksamkeit verfolgen und dabei das Falsche herausfiltern, werden wir schließlich zur ultimativen "Wahrheit" durchstoßen. Das Ergebnis wird uns dann neu vereinen; "Segen und Eintracht" werden sich breitmachen.

 

Bedauerlicherweise wird eine objektive Wahrheit weder bekannt noch von allen angenommen werden. Schon aus der Scheidung eines einzigen Ehepaares ergeben sich Dutzende von möglichen Deutungen und "Wahrheiten". Wenn es sich um die Scheidung einer ganzen Nation handelt, steigert sich die Zahl möglicher Auslegungen ins Unendliche.  Das Einzige, was uns Gläubigen übrig bleibt, ist die Möglichkeit, uns trotz unserer andersartigen politischen Überzeugungen zu lieben. Die Einheit, die wir verspüren, wird sich nicht aus der Politik ergeben.

 

Im Kontext von Spannung und Krieg schnellt die Wahrscheinlichkeit heuchlerischer Aussagen in die Höhe. Pastor Simonenko wirft den russischen Gläubigen vor, "ihrem Cäsar mehr zu vertrauen als der ukrainischen Glaubensbrüderschaft. Ihr habt größere Liebe für Rußland erwiesen als für unser gemeinsames Erbe im Himmel." Anhand der gleichen Argumentation haben die ukrainischen Baptisten Nuland und US-Senator John McCain mehr geglaubt als der eigenen Verwandtschaft im benachbarten Rußland.

 

Die Kirche in BRICS

In den letzten 10 Jahren der DDR (bis etwa 1987) standen nicht wenige Christen auf die Devise "Kirche im Sozialismus". Damit war nicht gemeint, daß man FÜR den realexistierenden Sozialismus wäre, sondern daß man jedenfalls zur Existenz in diesem Lande stand, die Staatsmacht respektierte und für die Besserung der gesellschaftlichen Zustände eintrat.

 

Mit ähnlichen Entscheidungen werden die Protestanten Rußlands - und vielleicht auch die der Ostukraine - konfrontiert sein. Jüngste Berichte aus den separatistischen Festungen von Donezk und Lugansk sagen aus, daß Protestanten dort unter starker Verfolgung leiden. Wer dort ausharrt, bedarf zweifellos unserer Gebete. Vor allem Baptisten gelten als prowestliche Agenten des mißliebigen Kiewer Ex-Präsidenten Oleksander Turtschynow.

 

Hier liegen die Separatisten nicht völlig falsch: Der Protestantismus (einschließlich meiner Person) ist eine zutiefst westliche Erscheinung. Die Welt ist aber mehr als nur westlich - es gibt auch einen Osten und einen Süden. Im Hinblick auf das Gipfeltreffen von BRICS (Brasilien, Rußland, Indien, China und Südafrika) in Brasilien versicherte Alexei Puschkow von der russischen Duma: "Wenn im Westen behauptet wird, es gebe eine Weltgemeinschaft, die uns verurteilt, dann meinen sie die 28 Mitgliedsstaaten der NATO und die EU. Aber das ist nicht die Welt, sondern nur der Westen, die euro-atlantische Gemeinschaft. Und trotz ihres erheblichen Gewichts stellt sie nur einen Bruchteil der Weltgemeinschaft dar." Er schlußfolgerte: "Das westliche Monopol bei der Festlegung der globalen Tagesordnung ist vorbei." Man kann sich über die genauen Zahlen streiten; aber die Erde besteht immerhin aus rund 195 Staaten.

 

BRICS ist kein Halbstarker mehr: Diese Staatenvereinigung umfaßt die beiden bevölkerungsstärksten Länder der Erde, die größte Wirtschaft und den geographisch größten Staat. Jene Millionen von Protestanten und Katholiken in den BRICS-Staaten, die unwillig oder unfähig sind, zu emigrieren, haben allen Grund, miteinander ins Gespräch zu kommen. Eine erste religiöse Delegation aus China war gerade beim Moskauer Patriarchat zu Gast.

 

Ukrainische Theologen wie Anatoli Kaljuzhni bringen ihre Angst vor China und BRICS zum Ausdruck. Die baltischen Staaten und Polen suchen ihr Glück im westlichen Gefilde. Kiew hat auch beschlossen, sich auf die überfüllte euro-atlantische Arche zu zwängen. Doch diese Arche (und ihr gesellschaftliches Modell) drohen bereits unterzugehen, denn unser kleiner Planet kann nur einer verschwindend kleinen Minderheit seiner Bewohner hohen Konsum und auffälligen Reichtum bescheren.

 

Die Gläubigen Rußlands werden genötigt, nach neuen Verbündeten im Osten und Süden zu suchen. Die Kirchen im BRICS-Gebiet werden aufgerufen sein, eigene Modelle für das Überleben und Gedeihen zu entwickeln. Erst dann werden Protestanten sehr viel besser den weltumspannenden Charakter ihres Glaubens widerspiegeln.

 

Dr.phil. William Yoder

Smolensk, den 24. Juli 2014

 

Journalistische Veröffentlichung Nr. 14-09, 1.991 Wörter