Die Theologie ist nicht unser Fach
M o s k a u – Moskau verfügt über christliche Hochschulen geisteswissenschaftlicher Ausrichtung – allerdings nicht von der Art, die man sich in den USA vorgestellt hätte. Nach zwei Jahrzehnten der Mühsal schloß die Moskauer „"Russisch-Amerikanische Christliche Universität" (RACU) – in ihren letzten beiden Jahren unter dem Namen „Russisch-Amerikanisches Institut" (RAI) bekannt -
ihre Tore. Doch ein Überrest unter Leitung des Baptistenpastors Dr. Ruslan Nadiuk mit dem Namen “Schule für Sozialarbeit und Beratung” blieb erhalten (siehe unsere Pressemeldung vom 31. Mai 2012). Im Dezember 2012 zog dieses Programm aus dem Gebäude des RAI aus und wurde als eine Abteilung für Sozialarbeit ins Moskauer „Russisch-Orthodoxe Institut des Heiligen Sankt Johannes“ eingegliedert. Dieser Wechsel war keineswegs alltäglich: Ein überwiegend protestantisches Programm wurde zusammen mit seiner bestehenden Studentenschaft, seinen Dozenten und Ressourcen einer orthodoxen Einrichtung einverleibt.
Nadiuk und sein Assistent, der Pfingstpastor Mark Currie aus Virginia, weisen auf vier Eigenschaften hin, die ihr Programm verlockend machen: In Rußland ist die Sozialarbeit als wissenschaftliche Disziplin nicht älter als die Perestroika. Da verfügen Nordamerikaner über mehr wissenschaftliche Erfahrung. Zweitens, verfügt nur ihre Abteilung über umfangreiche internationale Beziehungen. Die Professoren Lanny Endicott von der “Oral Roberts University” in Oklahoma und David Cecil von der methodistischen “Asbury University” in Kentucky engagieren sich stark für dieses Vorhaben. Das Institut ist ferner Mitglied der in Connecticut beheimateten “North American Association of Christians in Social Work”. Nicht zuletzt sorgt man sich um die eigene Finanzierung, und die Universität stellt nur buchhalterische Dienste sowie Vorlesungs- und Büroräume zur Verfügung. Abteilungsleiter Dr. Michail Firsow und Nadiuk freundeten sich während Firsows fünf-plus Jahre als Honorardozent an der RACU an. Das ebnete den Weg für den Übergang in ein orthodoxes Umfeld.
Bei Sankt Johannes agiert das neue Programm unter den Fittichen der Abteilung Psychologie. Das „Russisch-Orthodoxe Institut des Heiligen Sankt Johannes“ gehört zur „Russisch-Orthodoxen Universität“, doch nur das Institut ist eine offiziell eingetragene Einrichtung. Rektor von allem ist der 1973 geborene Abt Peter (Jeremejew). Die Abteilung für Sozialarbeit verfügt über rund 80 Studenten. Das gesamte Institut hat annähernd 500 Studenten; die meisten von ihnen besuchen abends und am Wochenende ihre Vorlesungen. Moskau verfügt über eine zweite christliche Universität geisteswissenschaftlicher Orientierung: Die geringfügig ältere, 1991 gegründete “Orthodoxe Universität des Heiligen Tichon“ erfreut sich mehr als 2.000 Studenten. (Einer ihrer ausländischen Partner ist das presbyterianische “Pittsburgh Theological Seminary”.) Die Russisch-Orthodoxe Universität ist auf nicht weniger als drei Gelände verteilt. Die Abteilung für Sozialarbeit befindet sich unter ihrer zweiten Anschrift: Tschernyschewskowo Pereulok 11a - nahe der Metrostation „Nowoslobodskaja“ in der nördlichen Mitte von Moskau.
Genau genommen lebt die alte “Schule für Sozialarbeit und Beratung” der RACU als ein zweites, weniger wissenschaftliches „Institut für Sozialarbeit und Beratung“ weiter. Auch es wird von Nadiuk angeführt (siehe “www.instswc.org”). Es ist dem Institut von Sankt Johannes nicht unterworfen und bietet kurzfristige Fortbildungsmaßnahmen an. Dabei handelt es sich um Abend- und Online-Kurse, die ausschließlich die Qualifizierung steigern und zu keinem akademischen Abschluß führen. Rund 80% der Teilnehmer solcher Kurse – es sind jährlich 80 bis 150 an der Zahl - sind Protestanten. Die größte protestantische Ortsgemeinde Moskaus, die charismatische, 4.000 Mitglieder zählende „Wort-des-Lebens“-Gemeinde des Norwegers Matts-Ola Ishoel, versorgt dieses zweite Institut mit einem Großteil seiner Studenten.
Nadiuk und Currie sind überzeugt, daß ihre Abteilung und ihr Institut ein zunehmend orthodoxes Gesicht bekommen werden. „Im theologischen Bereich hegen wir keinerlei Ambitionen“, versicherte Nadiuk. „Das ist nicht unser Fach.“ Ihre Kurse vertreten generelle, übergreifende Werte wie etwa die persönliche Ethik. „Manche Mitglieder unserer (10-köpfigen) Fakultät sind nicht einmal darüber im klaren, daß wir Protestanten sind. Wir arbeiten zusammen als einheitliches Team und haben mit unseren orthodoxen Kollegen keinerlei Probleme.“
Gründe für den Untergang
Sowohl Ruslan Nadiuk wie Mark Currie sträuben sich dagegen, den Untergang von RAI auf Managementfehler seitens der Nordamerikaner zurückzuführen. Sie reden stattdessen von Ideologie und konkurrierenden Weltanschauungen. Ihrer Auffassung nach sind es die protestantischen Kirchen Rußlands, die sich am wenigsten um die Förderung einer intellektuellen Elite bemühen. Protestanten beschränken sich lieber auf das Vordergründige. „Die meisten Protestanten legen keinen Wert auf eine professionelle Ausbildung,“ insistierte Nadiuk. „Die Ausbildung wird nur als Evangelisationsmittel beachtet.“
Professor Beryl Hugen vom in Michigan ansässigen „Calvin College“ nahm in einer Studie zwischen 20 und 25 protestantische Reha-Zentren (rund 10%
der Gesamtzahl) unter die Lupe. Er zog dabei das Fazit, daß die meisten dieser Zentren als Bibelstudien-Gruppen anzusehen seien, die sich vor allem um die Integration der Klienten ins
Gemeindeleben bemühten. Nach Nadiuk prangert diese Studie das Gleichstellen einer Befreiung von Abhängigkeiten mit der „Mitgliedschaft in einer evangelischen Gemeinde an. Doch der Kirchgang ist
noch kein Beweis dafür, daß ein Mensch tatsächlich sozialisiert worden ist.“ Obwohl die Orthodoxen über weniger Reha-Zentren verfügen, seien sie nach Nadiuks Überzeugung auf dem richtigen Wege.
„Im Jahre 2010 entschied die Russische Orthodoxe Kirche, daß jede Gemeinde über einen professionellen Sozialarbeiter und Pädagogen zu verfügen habe – und sie haben 35.400 Ortsgemeinden. In zehn
Jahren werden sie besser verstanden werden und das russische Volk besser beraten können als wir.“ Wenn sich die Protestanten auf das kurzfristige Evangelisieren beschränken, werden sie sich „nach
und nach auf Grüppchen reduzieren, die nur noch den eigenen Nachwuchs zu bekehren verstehen“. Das Problem der Protestanten bündelt sich nach seiner Überzeugung im Fehlen eines
professionell-wissenschaftlichen Ansatzes. Die Behauptung fundamentalistischer Gruppen aus dem Westen, daß das Studium der Psychologie ein widerchristliches Unterfangen sei, gieße Öl ins Feuer
des Anti-Intellektualismus.
Mein Kommentar
Unbezahlte Studiengebühren und die fehlende Finanzierung aus russischen Quellen scheinen ein Beleg dafür zu sein, daß die Protestanten Rußlands
niemals eine Eigenverantwortung für RACU entwickelten. Den Protestanten war diese Einrichtung der Ausbeutung würdig, doch nicht der Ernährung. Eine ungefütterte Kuh wurde bis zu ihrem Eingehen
gemolken. Doch andersherum ließe sich ebenfalls konstatieren, es habe sich bei der RACU um einen grandiosen Happen gehandelt, den die winzige, protestantische Minderheit Rußlands niemals hätte
verdauen können. RACU konnte kein Modell liefern, das im russischen Kontext nachhaltig und tragfähig gewesen wäre.
Im Augenblick bleibt das großartige, vierjährige Bauwerk von RAI im Norden Moskaus unveräußert. Interimistisch sind Teile des Gebäudes an Firmen wie ein Fitneß-Klub und die Polizei fremdvermietet. Abgesehen von Webseiten und einem Vorstand, ist wenig Sichtbares vom alten RACU/RAI geblieben.
Aber es war nicht alles umsonst. Die Protestanten verfügen immerhin über einen bescheidenen, aber wachsenden Kreis von seriösen Intellektuellen, und RACU hat die Saat von potentiellem Wachstum gesät. Die Wege Gottes sind nicht selten vertrackt und verwinkelt. Auch Pastor Nadiuk sieht nicht nur Schwarzes am Horizont: “Wir sehen es als unsere Aufgabe an, durch gemeinsame Bildungsmaßnahmen eine Brücke zwischen Protestanten und Orthodoxen zu schlagen.“
Dr.phil. William Yoder
Moskau, den 14. Juli 2014
Journalistische Veröffentlichung Nr. 14-08, 1.063 Wörter