Rückschläge sind noch nicht das Aus
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Die Gemeinde Stettin denkt an ihre Zukunft
Kommentar
M o s k a u -- Die Baptistengemeinde im polnischen Stettin (Szczecin) hat Schweres durchlebt. Das ist schon dem Aussehen des Hauses in der Stoislawa 4 (einst Johannisstraße) zu entnehmen. Bei einer erhofften Sanierung kam man über die destruktive Phase nicht hinaus: Gestühl, Bodenbelag und einen Teil des Wandputzes wurden entfernt. Zwecks Einbaus von Fahrstühlen wurden die historischen Treppen zum Balkon herausgerissen. An der lädierten Fassade, an der eine deutsche Aufschrift noch zu erkennen ist, wurden keine Arbeiten unternommen.
Nach der Jahrtausendwende wurden zahlreiche einst deutsche Immobilien in das Eigentum der heutigen Gemeinden der baptistischen Union Polens überführt. Nachdem die Stettiner Gemeinde 2003 endlich Eigentümerin des eigenen Hauses geworden war, dachten geschäftlich pfiffige Gemeindemitglieder darüber nach, wie man zu Geldern für die Sanierung der 1855 eingeweihten Kapelle kommen könnte. Das „schwarze Loch“ sollte sich in eine Geldquelle zugunsten der Gemeindearbeit verwandeln. So kam man gemeinsam mit dem damaligen Pastor Gustaw Cieslar (gespr. „Tscheschlar“) auf die Idee, eine kulturelle Stiftung zur Förderung der „grenzübergreifenden Zusammenarbeit“ zwischen den Ländern von Mecklenburg-Vorpommern/Brandenburg und der Republik Polen zu gründen. Dafür standen Gelder der Europäischen Union in Aussicht; man hoffte auf 4 Mio. Zloty (rund 1 Mio. Euro). In diesem Zusammenhang bemühte sich die Gemeinde auch um Beziehungen mit Baptistengemeinden jenseits der Grenze. Ein erster Besuch von Gemeinden im Landesverband Mecklenburg-Vorpommern in Stettin fand 2011 mit rund 50 Gästen statt; ein kleinerer Gegenbesuch in Torgelow (bei Pasewalk) folgte.
Rund 900.000 Zloty kamen zusammen; 150.000 Zloty sollen noch heute auf einem Konto liegen.
Im Oktober 2012 kam es dann zu einer Gemeindespaltung; einer der Gemeindepastoren zog mit 12 weiteren Gemeindegliedern aus der Gemeinde aus. Mit ihm gingen größtenteils jüngere, dynamische und gebildete Mitglieder, die sich stark fürs Projekt Kongreßzentrum engagiert hatten. Wegen der Sanierungsmaßnahmen hatte die Gemeinde vier Jahre lang in einer Schule ausharren müssen; im Februar 2013 zog sie in die völlig unfertige Kapelle zurück. Ein zweiter Pastor, Bartosz Kaczorek, der die Verhandlungen mit Mecklenburg-Vorpommern geführt hatte, wechselte vier Monate später nach Ostpolen. Nach 20-jährigem US-Aufenthalt wurde Janusz Zwierzchowski (gespr. „Swerschhowski“) in die alte Heimat zurückgeholt und am 11. August als Pastor eingeführt. In Polen hatte Pastor Zwierzchowski zuletzt in Gorzów (Landsberg an der Warthe) gedient in der Gemeinde, die seitdem von Gebietsleiter Dariusz Chudzik („Hudschik“) geführt wird.
Dr. Mateusz Wichary, der neue, 37-jährige Präsident der polnischen Union, führt das Auseinandergehen auf zwei, sich widersprechende Visionen zurück: „Irgendwie wurde das Mißtrauen geweckt. Nun wird es nicht leicht sein, den Konflikt zu lösen.“ Der Präsident weist die Vermutung zurück, daß die Projektmacher an finanziellen Unregelmäßigkeiten schuld seien. Der studierte Betriebswirt und promovierte Alttestamentler Robert Merecz, ein Kind der Stettiner Gemeinde, versichert: „Es fehlte an einem guten Management und an geistlicher Reife. Einer mangelhaften Kommunikation ist vieles anzulasten. Hätte es einen Vermittler gegeben, der das Vertrauen beider Seiten genossen hätte, wäre es nicht zu dieser Trennung gekommen.“
Allerdings wehrt sich Merecz gegen die Bezeichnung „Spaltung“ – dafür sei die Gruppe, die ausgeschieden ist, zu klein. Der Bruch ist auch nicht „sauber“: Einer der Köpfe hinter der Bauinitiative gehört weiterhin seiner langjährigen Heimatgemeinde an. Obwohl die Ausgeschiedenen von der Bildung einer „Zweiten Baptistengemeinde“ innerhalb derselben Union sprechen, bleibt der Wunsch nach Aussöhnung unter den kirchenleitenden Personen Polens stark.
Gegenwärtig hat die Stettiner Gemeinde 62 Mitglieder; im Jahre 2000 hatte man noch von 120 Gliedern gesprochen. Doch wirkt die heutige Gemeinde keineswegs veraltet: Die Musik ist flott und die Jugend ist an der Gestaltung des Gottesdienstes beteiligt. Allerdings dauerte die Predigt bei meinem Besuch am 8. September 72 Minuten – Bruder Zwierzchowski ist um die geistliche Stärkung der Gemeinde bemüht.
Klar ist auf jeden Fall, daß sich die Stettiner Gemeinde seit mehr als zwei Jahrzehnten nach einer Zusammenarbeit mit Baptistengemeinden in Deutschland sehnt. Dafür hat diese Gemeinde trotz ihrer bescheidenen Größe einiges zu bieten. Gustaw Cieslar, Pastor der Gemeinde bis 2009, war schon damals Präsident der polnischen Union und ist heute Rektor des Seminars in Radosc bei Warschau. Dariusz Chudzik stammt ebenfalls aus Stettin. Der als Pastor und Geschäftsmann in Edinburgh/Schottland lebende Merecz ist außerdem Dozent am Seminar in Radosc.
Im Jahre 2000 besuchten Polen aus Szczecin die Hamburger Feierlichkeiten zu Ehren des Stettiner Pastors und Dozenten Max Slawinsky (1897-1940). Unter nicht völlig geklärten Umständen war Slawinsky auf dem Bahnhof Finkenwalde (heute Szczecin-Zdroje) von den Nazis umgebracht worden. Schon zu Zeiten des deutschen Kaisers hatte der 1903 verstorbene Stettiner Wilhelm Weist (Urgroßvater von Wilfried Weist, EFG Berlin-Prenzlauer Berg) in Ostpreußen Tausende zum Glauben geführt. Zur offiziellen Konstituierung der Gemeinde 1846 war Johann Gerhard Oncken aus Hamburg angereist; der Berliner Julius Köbner hielt die Predigt. Im Falle Stettin handelt es sich um die viertälteste, noch vorhandene Kapelle der deutschen Baptisten. Nur zwei Kapellen nahe Oldenburg und eine in Klaipeda/Litauen (Memel) sind älter.
Sind nur noch Polen an einer Rettung dieses historischen, deutschen Baus interessiert? Der Stralsunder Pastor Matthias Neumann, der Verbandsleiter des BEFG in Mecklenburg-Vorpommern, versichert: „Ich habe ein großes Herz für eine solche Zusammenarbeit. Das Problem bleibt die Zeitfrage.“ Sprachliche Barrieren wurden von beiden Seiten bemängelt: Weder Pastor Kaczorek noch die Mecklenburger sind der englischen Sprache mächtig. Doch ein Mitglied der Stettiner Gemeinde versichert: „Wenn eine Partnerschaft wirklich gewollt ist, lassen sich die erforderlichen Dolmetscher immer finden.“ Merecz schlägt als Einstieg ein Treffen baptistischer Jugendlicher aus Polen und Deutschland vor.
Zweifellos verfügen die Deutschen und ihre Verbündeten in England und Übersee über Erfahrungen in der Buchhaltung und im Management, die den „schwächeren Geschwistern“ dicht an der Grenze zu Deutschland eine Hilfe sein könnten. Inzwischen hat auch unser Verband in Berlin-Brandenburg eine „AG Osteuropa“. Ursprünglich wurde die Kirche erbaut mit Geldern, die Oncken in England und den USA eingesammelt hatte. Deren Restaurierung wird zweifellos Unterstützung aus derselben, westlichen Richtung erfordern.
Die „Baptistische Union von Polen“ besteht aus 4.950 Mitgliedern in 85 Ortsgemeinden.
Dr.phil. William Yoder
Moskau, den 15. Oktober 2013
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