Nicht voreilig an anderen vorüberziehen
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Russische Baptisten begehen zum zweiten Mal den Martin-Luther-King-Tag
M o s k a u – Am 20. Januar haben russische Baptisten zum zweiten Male den Martin-Luther-King-Tag begangen. “Wer ist mein Nächster?” fragte Gennadi Sergienko, Leitender Pastor der “Zweiten Baptistengemeinde” in seiner Predigt. Mit Berufung auf den Barmherzigen Samariter antwortete er: “Das sind diejenigen, an denen man am schnellsten vorüberzieht.” In diesem Gottesdienst erzählte ein ehemaliger Krimineller und Obdachloser von zwei Männern, die nicht vorüberzogen. Er bekehrte sich bald nachdem die beiden ihm völlig unverhofft auf dem Kursker Bahnhof in Moskau mitgeteilt hatten, daß Gott ihn lieb habe.
Die „Zweite Baptistengemeinde“ bleibt nicht auf halbem Wege stehen. Obwohl die Gemeinde zum ersten Male überhaupt diesen Tag beging, ging es im gesamten Gottesdienst (einschließlich der Kinderstunde) um das Thema, Andersartige schätzen zu lernen. Die Themenbereiche reichten von der passenden Reaktion auf Menschen, die im öffentlichen Verkehr einen schlechten Duft verbreiten, zu zwischenrassigen Beziehungen.
Ein anderer Pastor der Gemeinde bekannte im Gottesdienst, daß er eingangs keine Notwendigkeit erkannte, das Thema aufzugreifen. Doch Sergienko versicherte: „Unsere
Theologie ist in Ordnung – wir verstehen sehr wohl, daß Gott alle gleichermaßen liebt. Die Probleme entstehen erst wenn man auf die Wirklichkeit stößt.“ Christen, die sich an dieser Stelle keines
Problems bewußt seien, hätten es unterlassen, die Minderheiten Rußlands zu befragen. Nach dem Gottesdienst berichtete ein Teilnehmer von den erheblichen Spannungen, die im Umfeld der Moskauer
Moscheen bestehen.
Die “Racial Task Force” (RTF) der englischsprachigen “Moscow Protestant Chaplaincy” bemüht sich, zumindest einen Bruchteil der Vorfälle, die durch Rassenhaß motiviert sind, zu dokumentieren. Die aufgezeigten Vorfälle vermitteln den Eindruck, daß ein afrikanischer Mann damit rechnen müsse, einmal alle ein bis drei Jahre körperlich angegriffen zu werden. Todesfälle kommen immer wieder vor. Mit Belästigungen muß täglich gerechnet werden.
Die Task Force berichtet davon, daß in Moskau am 18. Mai 2012 ein Ghanese verletzt wurde durch Russen, die die Tür zu einer Privatwohnung aufbrachen und ihn im Schlaf verprügelten. Danach verlangte die Wirtin von ihm eine Erstattung der Kosten für die Turreparatur und kündigte das Mietverhältnis.
Immer wieder kommt es vor, daß sich zufällige Zuschauer weigern, einen angegriffenen Afrikaner in Schutz zu nehmen. Lieber filmen sie den Zwischenfall – für den heimatlichen Gebrauch. Es gab 2012 mehrere Vorfälle bei denen ein anwesender Polizist sich weigerte, einzugreifen. Diejenigen, die zur Hilfe eilen, sind meistens mitleidende Muslime aus dem Kaukasus oder Zentralasien.
Am 8. Juni wurde in einer Straßenbahn ein Kongolese von einer betagten Frau beschimpft. Sie schrie: „Ihr Affen überrennt unser Land, was habt Ihr denn zu suchen hier überhaupt? Stalin hätte mit euch kurzen Prozeß gemacht – Rußland gehört den Russen.“ Doch nur etwa 0,03% der Einwohner Rußlands (143 Millionen) sind Afrikaner und Stalin war bekanntlich Georgier.
In der Zweiten Baptistengemeinde berichteten mehrere Redner von einem gewaltigen Transformationsprozeß innerhalb der einst sowjetischen Republiken. Ruwim Woloschin, ein Pastor dieser Gemeinde aus Moldawien, berichtete davon, daß zu Sowjetzeiten sich alle auf Russisch unterhielten. Wenn jemand auf eine andere Sprache auswich, wurde vermutet, daß er etwas zu verbergen hatte. Heute besteht der umgekehrte Fall: In der Ukraine z.B. kann die Verwendung der russischen Sprache zu Raufereien führen. Die Völker Zentralasiens sind keine „Brudervölker“ mehr.
Pastor Sergienko erwähnte, daß sich viele Russen heute international als verachtet empfinden. Das führe zu einem defensiven oder aggressiven Verhalten. Aggressionen richten sich dann oftmals gegen die Minderheiten im eigenen Lande.
In seinem Beitrag in der Zweiten Baptistengemeinde fragte der US-amerikanische Kirchenjournalist William Yoder, ob die Identitätsfrage zum Kern der Problematik Rassismus gehöre. „Wer ist eigentlich Russe?“ fragte er. „Eine Frau mit einem afrikanischen Vater und einer russischen Mutter, die ihr ganzes Leben in Rußland verbracht hat – ist sie Russin? Ist es rassistisch, davon auszugehen, daß ein Russe nur ein weißer Europäer sein könne?“ Yoder fuhr fort: „Ist es in Ordnung, daß die Ehrengarden im Kreml ausschließlich aus weißen Slawen bestehen? Rußland besteht aus 110 Nationalitäten. Darf man es hinnehmen, daß alle Polizisten in Kasachstan Asiaten seien? Vielleicht hängt die Problematik in Kasachstan mit der Problematik in Rußland zusammen.“
Menschen farbiger Hautfarbe scheinen sich durch Passivität und Schüchternheit auszuzeichnen. RTF-Leiterin Jennifer Voecks berichtet, daß sich Angegriffene sehr
schwer tun, Vorfälle der Polizei oder sogar der RTF mitzuteilen. „Sie meinen nicht, daß eine Berichterstattung etwas ändern könnte.“ Witali Wlasenko, Pastor der “Moscow Community Church” und ein
Anführer der baptistischen Bemühungen um Rassengleichheit, war sehr enttäuscht, daß kein farbiger Mensch der diesjährigen Feier in seiner Gemeinde beiwohnte. „Wir hätten gar nicht verlangt, daß
sie auftreten.,“ versicherte er. „Wir wollten sie nur kennenlernen und ihnen unsere Liebe bezeugen.“ Wlasenkos Gemeinde hielt vor einem Jahr die erste Feier zum Martin-Luther-King-Tag ab.
Entwicklungen bei der Moscow Protestant Chaplaincy
Sowohl Jennifer Voecks wie Matthew Laferty, Pastor der MPC, reden von „Stillstand“ in den gegenwärtigen, zwischenrassigen Beziehungen im Moskauer Raum. Obwohl in manchen Grundschulen bereits die Hälfte der Kinder Nichtrussen seien, erkennen sie keinen Ansatz, den Kindern in verstärktem Maße die Toleranz beizubringen.
Zumindest nehmen die Anstrengungen der MPC zu. Im vergangenen Juni konnte sein Gemeindezentrum in den geräumigen Keller der lutherischen „Peter-und-Paul-Kathedrale“ umziehen. Das Zentrum arbeitet an allen Wochentagen und bietet Flüchtlingen und Immigranten Sprach- und Computerkurse, Gastfreundschaft und Beratung an. Dieser Dienst ist nun verstärkt dreisprachig: Eine französischsprachige, überwiegend afrikanische, lutherische Gemeinde auf dem Grundstück liefert viele der Tagesgäste.
Voecks freut sich darüber, daß die Zahl der Freiwilligen zugenommen hat. Die Gemeinde versucht durch „Gemeindebegegnungen“ das Gespräch zwischen Afrikanern und Ansässigen anzubahnen. Doch viele der „Ansässigen“ sind selbst Ausländer – es sei deshalb erforderlich, die Kontaktmöglichkeiten mit einheimischen Russen auszubauen.
Ein Programm für Afrikaner, die von unseriösen Reiseagenturen nach Rußland gelockt werden, besteht weiterhin. Seine Hauptaufgabe besteht darin, den Heimflug der Irregeführten zu bezahlen. „Métis“, ein langfristiges Programm zur Betreuung von gemischtrassigen Kindern und deren Müttern, gedeiht weiterhin.
Pastor Laferty versichert: “Uns steht es überhaupt nicht zu, den Zeigefinger auf irgend jemanden zu richten. Die vorhandenen Errungenschaften
im Streben um die Rassengleichheit wollen wir feiern. An den noch vorhandenen Defiziten arbeiten wir weiter.“
Die 1962 gegründete MPC wird von fünf US-amerikanischen Großkirchen unterstützt. Zu ihnen zählt die presbyterianische „PC USA“. Die Webanschrift der MPC lautet: “www.mpcrussia.org”.
Dr.phil. William Yoder
Moskau, den 24. Januar 2013
Eine journalistische Veröffentlichung gefördert von der “Presbyterian News Service”, Louisville/USA, “www.pcusa.org”. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine offizielle Meinung der PNS zu vertreten. Diese Meldung darf gebührenfrei abgedruckt werden wenn die Quelle angegeben wird. Meldung Nr. 13-01, 983 Wörter oder 7.242 Schläge mit Leerzeichen.