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Roma in Rußland

Keine Angst mehr vor den “Zigeunern”

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Presbyterianer und die Roma Rußlands

 

M o s k a u – Zur Geschichte der Roma bleibt vieles im Unklaren; schon über die Zahlen herrscht keine Einheit. Nach Wikipedia verfügen die USA über die höchste Zahl an Roma – eine Million. Doch die Zürcher Zeitschrift “Religion und Gesellschaft in Ost und West” (RGOW) berichtet, daß die osteuropäischen Staaten gezielt die Anzahl der Roma „herunterschrauben“. Rumänien hat eine Bevölkerung von 22 Millionen; zu ihr sollen 408.000 Roma zählen. Die RGOW geht jedoch davon aus, die eigentliche Zahl könnte drei Millionen erreichen. Die Roma sollen mit 10 bis 12 Millionen Mitgliedern die zahlenstärkste Minderheit Europas sein. Deren Gesamtzahl weltweit könnte sogar 60 Millionen betragen. Die Unsicherheit der Zahlen wird gesteigert dadurch, daß es für den Begriff „Roma“ mehr als eine einzige Definition gibt.

 

Generell geht man davon aus, die Roma hätten etwa im 7. Jahrhundert nach Christus Indien Richtung Western verlassen. Südosteuropa wurde zu einem Hauptsiedlungsgebiet. Später zogen manche wieder Richtung Osten – zuerst in die Polnisch-Litauische Union und die anderen baltischen Staaten. Im russischen Reich kamen sie erst im 18. Jahrhundert an nachdem der Tsar neue Gebiete annektiert hatte. Obwohl sie in Moldawien und der Ukraine am stärksten vertreten sind, leben Roma heute auch im russischen Fernost.

 

Berichten zufolge waren die Roma anfangs nicht nomadischer als traditionell einheimische Stämme. Im Laufe der Jahrhunderte wurde aus ihnen eine wichtige, ungelernte aber verläßliche Arbeiterschaft. Mit dem Aufkommen der faschistischen Gewaltherrschaft in Deutschland brachen Jahre der Vertreibung, Vernichtung und Aufruhr über sie herein – es sind bis zu 500.000 von ihnen ermordet worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die sozialistischen Staaten Osteuropas bemüht, sie zu assimilieren und in die Reihen der in der Schwerindustrie beschäftigten Arbeiterschaft aufzunehmen. Im Oktober 1956 verbot das Oberste Sowjet die Nichtseßhaftigkeit; die sowjetischen Roma wurden gezwungen, sich häuslich niederzulassen. Bald verfügten 90% der sowjetischen Roma über eine dauerhafte Bleibe.

 

Burkhard Paetzold (Petershagen bei Berlin), der „Beauftragte für Zentral- und Osteuropa/Roma“ bei der in Louisville/USA beheimateten „Presbyterian Church USA“ (PC USA), weist darauf hin, daß Roma die Ersten waren, die nach dem wirtschaftlichen Kollaps von 1989/90 ihre Stellen verloren. Die erneute Ghettoisierung, die sich daraus ergab, „weist einerseits auf die Diskriminierung, doch andererseits auch auf den Wunsch hin, familiäre Strukturen zu verstärken und zu schützen. Es wird behauptet, es gäbe fast keine obdachlosen Roma!“

 

Peter Romme, ein in Kostroma (Nordwestrußland) wohnender Missionar mit Verbindungen zur PC USA, merkt an, daß die Roma ein Volk des Friedens seien. Trotz ihres Rufs als Kleindiebe und Drogenhändler „haben sie niemals einen Krieg angestiftet noch Waffen produziert“.

 

Die Kultur der Roma

Pastor Romme, ein Rußlanddeutscher aus dem Gebiet Irkutsk, berichtet davon, daß Roma Feiertage wie Weihnachten und Ostern besonders zugetan seien. Das Feiern könne sich über zwei bis drei Tage erstrecken: „Im allgemeinen wird gefeiert bis das Geld verbraucht ist.“ Langfristiges Sparen gehört eben nicht zu deren Stärken.

 

Üblicherweise nehmen Roma den Glauben der vorherrschenden Kultur an: In Kasachstan sind sie Muslime, Orthodoxe im Westen Rußlands und Katholiken in Polen. Doch deren Zögern, das Herkömmliche preiszugeben, äußert sich in einem ausgesprochenen Synkretismus. Sie werden die letzten Göttin-Anbeter Europas genannt; sie setzen auf Amuletten, Fluche, Heilungsrituale und Wahrsagerei. Frauen kleiden sich besonders keusch; sexuelle Begriffe in der Bibel  – die Beschneidung z.B. – werden in Roma-Gottesdiensten umschifft. Der voreheliche Geschlechtsverkehr ist verpönt; doch Eheschließungen bei Kindern, die jünger als 13 sind, bleiben keine Seltenheit.

 

Die Sehnsucht nach übernatürlichen Zeichen und Heilungen bringen sie automatisch in die Nähe von pfingstlerischen und charismatischen Kreisen. Andrei Beskorowaini, ein baptistischer Pastor der Roma aus der Ukraine, der in Kursk nahe der ukrainischen Grenze arbeitet und von der PC USA unterstützt wird, erzählt, daß „Geschwätz“ und Mutmaßungen zu fast panischen Zuständen unter evangelikalen Roma geführt haben. Zu Ostern 1991 und 2000 weigerten sich Roma, gemeinsam mit anderen zu essen mit der Behauptung: „Das Ende der Welt wird eintreten wenn wir gemeinsam an einem Festtisch Platz nehmen.“ Im Blick auf die fehlende theologische Bildung der Roma verweist Beskorowaini auf Matthäus 24,36 und mahnt: „Brüder und Schwester – schenkt diesem Geschwätz keinen Glauben!“

 

Die Arbeit unter Roma verlangt steifen, einheimischen Missionaren eine gewisse Flexibilität ab – Roma stehen auf traditionelles Tanzen und eine fröhliche – auch christliche – Musik. Roma haben sogar eine Lanze für die Ermächtigung der Frau gebrochen: Eine von der Ukrainerin Olena Martschuk verfaßte Studie über die Roma berichtet von der blinden Albina Kosoris. Nachdem sie sich Mitte der 90er Jahre einer nichtregistrierten Baptistengemeinde in Merefa/Ukraine angeschlossen hatte, begann sie zu predigen und gründete mehrere Gemeinden. Nach ihrer Eheschließung mit einem blinden Mann 2004, begannen die beiden mit einem Dienst unter den Sehgeschädigten Kiews.

 

Roma und die Evangelikalen

Die Arbeit von Pietisten unter den Roma Europas kam erst nach dem Ersten Weltkrieg auf Touren; 1930 finanzierten Österreicher den Bau einer Kapelle für Roma im Nordwesten Bulgariens. RGOW behauptet, die evangelikale Bewegung habe sich unter den bulgarischen Roma am stärksten etabliert – erst recht seit 1989. In diesem Land sollen rund 50.000 Roma zur Pfingstbewegung gehören.

 

Ukrainische Evangelikale begannen Anfang der 50er Jahre damit, unter Roma zu missionieren. Die Studie von Olena Martschuk gibt an, die verbotene, „Samisdat“-Literatur der nichtregistrierten Baptisten habe in den 70er Jahren Passagen erhalten, die in den Dialekten der Roma verfaßt waren. Um 1975 formierte sich eine Roma-Gemeinde der nichtregistrierten Baptisten im transkarpatischen Dorf Korolowoi Podwinogradow an der Grenze zu Ungarn. Zwei Gemeinden in dieser Gegend verfügen inzwischen insgesamt über 600 Mitglieder. Die Bekehrung eines Roma-„Barons“, Grigori Marizaskow, in Khmelnitski (Westukraine) sorgte im Mai 2011 für Schlagzeilen. Eine weitere Hochburg evangelikaler Arbeit unter den Roma befindet sich in Woltschansk (unweit von Charkow) am gegenüberliegenden, nordöstlichen Rande des Landes.

 

An der mangelnden Absprache leiden die vielfältigen Projekte. Demzufolge halten seit 2005 die evangelikalen Roma Rußlands eine Konferenz in Kursk ab. Ellen Smith (Berlin), eine Mitarbeiterin der PC USA, machte kürzlich bekannt, daß Andrei Beskorowaini zum Leiter des Roma-Netzwerks für Gesamt-Rußland ernannt worden ist. Sie fügte hinzu: „Diese Entwicklung ist keine Kleinigkeit. Es war ein langer Prozeß, die Leitung (der Projekte) von Russen auf Roma zu übertragen.“

 

Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, daß die Zahl evangelikaler Roma auf russischem Boden sehr bescheiden ausfällt. Das Standardwerk „Operation World“ gibt nur 9.000 für das gesamte Gebiet der ehemaligen UdSSR an. Die Kursker Jahreskonferenz im Jahre 2008 wurde von nur 70 Roma aus 21 Ortschaften besucht. Die Kursker Gemeinde, die 2004 von Beskorowaini gegründet worden ist, wird oftmals als die einzige evangelikale Roma-Gemeinde Rußlands bezeichnet. Doch auch sie hat kaum mehr als 20 Mitglieder. Weitere Versammlungen finden u.a. in Mitschurinsk (Gebiet Tambow), Nowoschachtinsk (nahe Rostow) und Sysran (Wolga) statt. Pastor Romme fühlt sich weiterhin für die Roma in Sibirien und Fernost verantwortlich. Die Zurückhaltung der Roma gegenüber Evangelikalen kann damit zusammenhängen, daß sie generell mit Mißtrauen auf Außenstehende blicken – Mischehen mit Nicht-Roma bleiben eine Seltenheit. Ohne Umschweife stellt Beskorowaini fest: „Die besten Missionare unter Roma sind die Roma selbst.“

 

Übersetzungen der Bibel bleiben ein Hauptanliegen – die Wycliffe-Bibelübersetzer sind mit von der Partie. Doch die Roma Europas bestehen aus 40 verschiedenen Gruppierungen – jede von ihnen weist kulturelle Besonderheiten und einen eigenen Dialekt auf. (Die Sinti gibt es vor allem in Deutschland.) Es besteht keine Roma-Kultur und –Sprache, die von allen verstanden wird. Bescheidene Ansätze zur Schaffung eines künstlichen „Roma-Esperantos“ sind vorhanden – doch kein Martin Luther, der imstande wäre, eine für alle attraktive Sprache zu entwickeln. Einige Gruppen wehren sich sogar dagegen, daß ihre Sprache in schriftlicher Form festgehalten wird.

 

Das Analphabetentum bleibt ein unbewältigtes Problem. Romme meint, 75% der russischen Roma seien des Lesens und Schreibens nicht kundig. Tonbänder und Filme – siehe z.B. den renommierten Film „Jesus“ – spielen deshalb bei der Evangelisation eine entscheidende Rolle. Seit den 70er Jahren setzen Baptisten und Pfingstler die Sonntagsschule unter den Roma-Kindern zur Förderung des Lesens und Schreibens ein. Einige wenige Roma - Andrei Beskorowaini z.B. – haben Bibelschulen besucht. Musikalische Bildung für begabte Musiker bleibt ein weiteres, zweitrangiges Anliegen.

 

Die in Frankreich beheimatete Gypsy and Travelers International Evangelical Fellowship” (GATIEF) gehört zu den größten Missionen, die sich an osteuropäische Roma richten. Zu den weiteren Missionen zählen die „Hope to People“-Organisation (Rowno/Ukraine) sowie die US-amerikanische „Southern Baptist Convention“ und „Cooperative Baptist Fellowship“. Methodisten sollen in Bulgarien besonders aktiv sein. Die “Reformed Church of America” verfügt über ein Ehepaar in Budapest, das sich für die Roma engagiert.

 

Die Presbyterianer der USA haben ein Herz für die Marginalisierten. Es ist deshalb nur logisch, daß sie sich für die Roma Osteuropas und Rußlands interessieren. Die Initiative der PC USA gibt es seit 2001 und besteht vor allem aus drei Mitarbeitern in Berlin sowie Nadia Ayoub in der Ukraine und Karen Moritz in Prag. Liz Searles soll demnächst einen Dienst in Rumänien antreten. Dabei geht es um mehr als nur Gemeindegründungen. Ellen und Al Smith reden von „Ermächtigung“ und einem „inklusiven Evangelium“. Paetzold erläutert: „Wir wollen einen ganzheitlichen Ansatz: Sozialdienste, Infrastruktur, Vorschulausbildung, Behausung, Arbeitsstellenbeschaffung, Ausbildung von gemeindeleitenden Personen, Sommerlager für Jugendliche, Jugendaustausch und multikulturelles Lernen für Weiße. Auch Christen weisen rassistische und diskriminierende Einstellungen auf. Das läßt sich auch nicht über Nacht abschaffen. Deshalb kommt es darauf an, passende Partner zu finden.“

 

Gemäß der PC USA kann auch das Kleine wunderschön sein. Paetzold spricht von einer massiven, von der EU gesponserten “Roma-Industrie”, die letztendlich die Roma als Hilfsempfänger stigmatisiert und Vorurteile verfestigt. „Die Herausforderung besteht darin, Initiativen von menschlicher Größe in den bestehenden Roma-Gemeinschaften zu finden, an denen wir partizipieren könnten. Wir stehen noch am Anfang; wir haben in Europa und den USA ein kleines Netzwerk aufgebaut. Die presbyterianischen Frauen haben ein großartiges Unterstützungs-Netzwerk geschaffen.“ Sie rufen sogar zu 10 Tagen des Gebets für die Roma auf – die Aktion endet jedes Jahr am 8. April.

 

In seinem Bericht über die Kursker Roma-Gemeinde 2008 träumte der Baptist Wladimir Popow (Tambow) von einer Zeit, in der Eltern den widerspenstigen Nachwuchs nicht mehr mit „Onkel Polizist und den Zigeunern“ einzuschüchtern versuchen. Erfreulicherweise ist ein derartiges Verlangen nicht weniger international als die Roma selbst.

 

Dr.phil. William Yoder

Berlin, den 4. Januar 2013

 

Eine journalistische Veröffentlichung gefördert von der “Presbyterian News Service”, Louisville/USA, “www.pcusa.org”. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine offizielle Meinung der PNS zu vertreten. Diese Meldung darf gebührenfrei abgedruckt werden wenn die Quelle angegeben wird. Meldung Nr. 12-31, 1.618 Wörter oder 11.648 Schläge mit Leerzeichen.