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ROSChWE-Pfingstler wollen die Politik der kleinen Schritte

Vorschlag: Orthodoxe und Pfingstler schieben gemeinsam Wache

 

M o s k a u -- Am 27. August unterbreitete die „Vereinigte Russische Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“ (ROSChWE) den ungewöhnlichen Vorschlag, die religiösen Stätten Rußlands durch eine überkonfessionelle Bürgerwehr beschützen zu lassen. ROSChWE mit ihren mit rund 400.000 Mitgliedern ist der größte und emsigste protestantische Kirchenverband Rußlands. Mitte August hatten links- und rechtsradikale sowie feministische Kreise öffentlich aufgestellte orthodoxe Kreuze in Rußland und der Ukraine zersägt oder sonst wie zu Fall gebracht. Das rief die betont orthodoxe Initiative „Heiliger Rus“ auf den Plan mit dem Vorschlag, orthodoxe Stätten und leitende Persönlichkeiten durch eine freiwillige, orthodoxe Bürgerwehr beschützen zu lassen.

 

Das rief den Widerspruch nichtorthodoxer Kreise hervor. Die betagte Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa, Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe, meinte, orthodoxe Schutztrupps würden sehr negative Folgen nach sich ziehen. „Dann müßten auch muslimische, jüdische und atheistische Trupps gegründet werden.“ Alexei Majorow, Chef des Amtes für regionale Sicherheit in der russischen Hauptstadt, fügte hinzu: „Das ist ein falscher Ansatz, denn er spaltet die Gesellschaft.“

 

Bischof Konstantin Bendas, „zweiter Mann“ in der Leitung der ROSChWE, machte daraufhin den Vorschlag, überkonfessionelle, unbewaffnete Bürgerwehren aufzustellen. „Was macht eine orthodoxe Wache wenn eine Straße weiter irgendwer eine Synagoge angreift? Sollte sie dann untätig daneben stehen?“

 

Die ROSChWE und ihr leitender Bischof, Sergei Rjachowski, geben sich patriotisch und rufen stets dazu auf, für das gemeinsame Wohl aller einzutreten. Man ist bestrebt, Rußland „unter die Armen zu greifen“. Der ROSChWE-Pressedienst brachte am 25. August die Meldung, die Gemeinde „Lebendiger Glaube“ der Stadt Pensa habe sich einmal wieder drei Tage zuvor am nationalen „Fahnentag“ beteiligt. Gemeindeglieder hätten ihre Privatwagen mit Fahnen und Losungen geschmückt und in einer hupenden Autokorso gemeinsam mit anderen örtlichen Firmen und öffentlichen Einrichtungen die Stadt durchfahren. Dieser Feiertag, der erst 1994 eingeführt worden ist, wurde in Pensa von der „Jungen Garde“, der Jugendorganisation der Staatspartei „Einiges Rußland“, durchgeführt. In einer Erklärung schreib Gemeindepastor Sergei Kirejew: „Die Protestanten – das sind Patrioten in unserem Lande. Die Geschichte kennt viele große Protestanten, die Wissenschaftler oder Staatsmänner waren. Das möchten wir fortsetzen. . . . Wir halten Rußland für ein starkes Land mit einer großartigen Zukunft. Darum beten Protestanten für ihr Land und wünschen, daß es aufblühen möchte.“

 

Seit 2006 wird jedes Jahr am 8. Mai eine protestantische Delegation zur Kranzniederlegung an der Kremlmauer zu Ehren der Kriegsgefallen zugelassen. Da ist die ROSChWE immer in vorderster Reihe dabei.

 

Zu Entwicklungen von öffentlichem Interesse nehmen ROSChWE und deren leitender Bischof rasch Stellung – das jüngste Beispiel betrifft die Bürgerwehren. Ganz im Stile des Moskauer Patriarchen veröffentlicht Rjachowski Kondolenzschreiben etwa bei Flugzeugabstürzen und Naturkatastrophen. Die einzigen sonstigen protestantischen Kreise, die bei diesem Tempo mithalten können, sind die Nachrichtenagentur, Zeitung, und Webseite des evangeliumschristlichen Bischofs und Bauunternehmers Alexander Semtschenko.

 

Auch der ehemalige Baptist Semtschenko wirbt um die Gunst staatstragender Kreise. Im Februar 2012 wurde bekannt, daß er führend an der Finanzierung und am Bau zweier neuer orthodoxer Kirchen in Moskauer Vororten beteiligt sei. Die Vorhaben werden als Ausdruck des guten Willens gegenüber dem Moskauer Patriarchat gedeutet; damit handelte er sich ein öffentliches Dankeschön seitens des Patriarchen Kirill ein. Der Unternehmer begründete den Schritt damit, daß auch Orthodoxe zum Mitarbeiterstab seiner Firma gehören.

 

Doch diesen Griff nach der Öffentlichkeit gönnen die „Langsameren“ – etwa Baptisten und Lutheraner - den Bischöfen Rjachowski und Semtschenko keineswegs. Seit wenigen Jahren bemühen sich die beiden Bischöfe um die Bildung eines „Sobors“ – eines gesamt-evangelischen Kongresses – unter eigener Regie. Doch daran werden sich die „Langsameren“ nicht beteiligen. Auch orthodoxe Kreise gönnen diesen beiden Bischöfen ungern die Führungsrolle im Protestantismus. Noch bis vor einem Jahr war das Moskauer Patriarchat bemüht, eine öffentliche Distanzierung der „traditionellen“ Protestanten (vor allem Baptisten und Lutheraner) von den „nicht traditionellen“ Pfingstlern und Charismatikern zu bewirken. Doch darauf ließen sich die „Traditionellen“ nicht ein – das wäre dann doch entschieden zu viel Abstand gewesen.

 

Kommentar - Die Politik der kleinen Schritte

Man könnte sagen, Bischof Rjachowski ziele auf ein Tauschgeschäft mit staatlichen Instanzen: Dem Staat bietet er Loyalität, Treue und harte Arbeit zum Wohle des gesamten Volkes an. Im Gegenzug erwartet er das Gewähren von Glaubensfreiheit und das Einstellen jeglicher Diskriminierung. Dementsprechend tritt auch das von US-charismatischen Kreisen getragene und in Moskau beheimatete „Slavic Legal Centre“ vehement für die Rechte der Nichtorthodoxen ein. Das Vorhaben mutet dialektisch an: Obwohl (oder weil!) Kirchen zur ROSChWE gehören, die finanziell und inhaltlich massiv vom Westen unterstützt worden sind, tritt sie wie kein anderer für Loyalität gegenüber dem jetzigen Staat ein.

 

Trotz aller Rangeleien bei Kompetenzfragen treten auch Lutheraner, Reformierte, Baptisten und Adventisten für diese Politik der kleinen Schritte ein. Da wirkt die Fundamentalopposition eines Juri Sipko peinlich und störend. (Der Evangelist Sipko war bis 2010 Präsident des größten Baptistenbundes, der RUECB.) Die Irritationen bei den Kirchenpolitikern der kleinen Schritte sind verständlich: Wie könne man einerseits auf der menschlichen Tour Konzessionen von einem Politiker erwarten, den die eigenen Kollegen anderseits als „Dieb und Lügner“ bezeichnen? Besteht keine Aussicht, die gesamte Staatsführung abzusetzen und ins Exil nach London zu befördern, scheint es zur Politik der kleinen Schritte keine Alternative zu geben. Wahrscheinlich hatte die Fundamentalopposition in den Jahren nach 1989 interimistisch ihren Sinn.

 

Eine orthodox-pfingstlerische Bürgerwehr ist illusorisch. Doch ein gekonnter politischer Schachzug war der Vorschlag immerhin – er wirbelte die Fronten zwischen Christen durcheinander.

 

Dr.phil. William Yoder

Moskau, den 4. September 2012

 

Eine journalistische Veröffentlichung gefördert von der “Presbyterian News Service”, Louisville/USA, “www.pcusa.org”. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine offizielle Meinung der PNS zu vertreten. Diese Meldung darf gebührenfrei abgedruckt werden wenn die Quelle angegeben wird. Meldung Nr. 12-22, 851 Wörter oder 6.418 Schläge mit Leerzeichen.

 

Alle genannten Personen – abgesehen vom Fall Pensa - wohnen in Moskau.

 

Ein Wort in eigener Sache: Obwohl eindeutig charismatische Kirchen zur ROSChWE gehören, wehrt sich der Kirchenbund dagegen, als „charismatisch“ oder „neo-pfingstlerisch“ etikettiert zu werden. Deshalb habe ich wahrscheinlich vor, sie als „nicht-traditionell pfingstlerisch“ zu bezeichnen, denn einen älteren traditionellen Pfingstbund (heute geleitet von Eduard Grabowenko) gibt es auch.