Zerstört ein neues Sprachengesetz die Ukraine?
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Ukrainische Kirchen verfaßten einen Protestbrief an den Staatspräsidenten
M o s k a u -- Nach Rempeleien zwischen Abgeordneten im ukrainischen Parlament am 3. Juli reagierten am nächsten Tage die Oberhäupter von neun religiösen Gemeinschaften mit einem Protestbrief an den Staatspräsidenten Wiktor Janukowitsch. Zu den Unterzeichnern zählten zwei Pfingstler sowie die Baptisten Wjatscheslaw Nesteruk, Präsident des größten Baptistenbundes des Landes, und einer seiner Vorgänger. Grigori Komendant ist heute Präsident der Ukrainischen Bibelgesellschaft. In diesem Brief fordern sie Janukowitsch dazu auf, von seinem Vorhaben, Russisch als zweite Amtssprache einzuführen, Abstand zu nehmen. „Wir fühlen uns verpflichtet zu sagen, daß der jetzige Weg in den Abgrund, zu landesweiten Auseinandersetzungen und zur Zerstörung des Staatswesens führt“. Nach unserer Überzeugung „vertieft er die gesellschaftliche Aufteilung, die politische Gegenwehr und untergräbt das Fundament des ukrainischen Staates“.
Die Parteigänger des Staatspräsidenten wähnen die Gefahr einer Landesspaltung im genau umgekehrten Lager - im Lager jener, die am amtlichen Monopolanspruch des Ukrainischen festhalten. Baptisten und Pfingstler standen nahezu geschlossen hinter der inzwischen inhaftierten Staatspräsidentin Julia Timoschenko.
Natürlich hat Filaret, Patriarch der autonomen, von Moskau abgespaltenen „Ukrainischen Orthodoxen Kirche“, als Erster unterschrieben. Auffallend ist jedoch das Fehlen der charismatischen Kirchen. Die konfessionalistische, mit der Wisconsin-Synode der USA liierte „Ukrainische Lutherische Kirche“ unterschrieb, jedoch nicht die größere, in Odessa ansässige „Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche der Ukraine“ (DELKU).
Kommentar
Die Logik dieses Briefes entgeht ausländischen Beobachtern. Wieso könne eine punktuelle Anerkennung des Russischen als zweitrangige Amtssprache (die einzige Sprache, die von allen 46 Millionen Ukrainern verstanden wird), die Spaltung des Landes herbeiführen? Will das neue Gesetz eigentlich nur beide Fraktionen zu ihrem Recht verhelfen? Nach den Anhängern des Ukrainischen müßte gerade ihre Sprache die nationsumfassende Funktion des Russischen übernehmen. Doch nach mindestens einer Erhebung bevorzugt 53% der Bevölkerung weiterhin die Nutzung der russischen Sprache.
Fiele das Russische als stammes- und nationsübergreifende Sprache aus, bliebe nur noch das Englische aus fernem Lande als globale „lingua franca“ übrig. Dazu sind einige bereit. Es gibt Ukrainer, die in einem gebrochenen Englisch auf in Russisch gestellte Fragen zu erwidern pflegen. Die GUS-Staaten brauchen eine lingua franca – und Ukrainisch wird es nicht sein können.
Eine baptistische Oppositionelle in Belarus hat mir die Spannung in ihrem Kontext erklärt: „Wir lehnen die Kiewer Rus ab.“ Das ist die These von einer besonders engen Beziehung der drei ostslawischen Völker, die auf das frühe Mittelalter zurückgeht. „Wir Belarussen sind nicht russischer als die Polen.“ Hier gilt Sprache als der Garant national-ethischer Eigenständigkeit. Das löst wiederum Unverständnis bei westlichen Beobachtern aus, die erleben, daß es Australiern, Neuseeländern, Engländern, Kanadiern und US-Amerikanern durchaus gelingt, trotz gemeinsamer Sprache eine eigenständige Identität zu wahren.
Wer als ausländischer Tourist mit dem Russischen – oder gar schon mit den kyrillischen Buchstaben - seine Probleme hat, steht in Belarus und der Ukraine auf verlorenem Posten. Landkarten in Belarus sind auf Russisch verfaßt und stimmen folglich mit den tatsächlichen Straßen- und Hinweisschildern nicht überein. Auf den Stadtplänen heißt eine bekannte Minsker U-Bahn-Station „Oktjabrskaja“ (Oktober). Fährt man dann höchst persönlich in der U-Bahn vor, heißen die Schilder auf dem Bahnsteig „Kastrytschnizkaja“ - natürlich in kyrillischen Buchstaben.
Die Webseite der ukrainischen Staatsbahnen können nur noch Kenner der ukrainischen Sprache verwenden. Das Gleiche gilt für die Webseite des ukrainischen Baptistenbundes („ecbua.info“). Zumindest vorläufig hat man sich im Verkehr mit dem Ausland auf Tauchstation begeben.
Sogar Einheimische können sich überwältigt fühlen. Wird sich ein sensibler, politisch korrekter Ukrainer aus Belarus in allen drei ostslawischen Sprachen verständigen müssen? Mit Ähnlichem ist ein Ukrainer aus Kasachstan oder Lettland konfrontiert. Wer dem Sprachenwirwarr entfliehen will, begibt sich zur Erholung nach Rußland (oder zumindest ins russische Internet).
Doch in Belarus („Belorussja“ auf Russisch) sieht der sprachliche Notstand etwas anders aus. Den meisten Berichten zufolge befindet sich das Belarussische auf dem Rückzug – es bleibt im Wesentlichen auf die Landbevölkerung und die städtische, oppositionelle Intelligenz beschränkt. Kaum 10% der Bevölkerung unterhält sich regelmäßig auf Belarussisch. In Belarus hat die Landessprache keine Chance, nach ukrainischem Vorbild zur alleinigen Amtssprache erhoben zu werden.
Bei alledem geht das Moskauer Patriarchat gelassen seinen Weg und feiert die Kiewer Rus und die russische Sprache bis ins Baltikum hinein. Einen solchen Mut – oder Halsstarrigkeit je nach der politischen Orientierung – können die protestantischen Gemeinschaften außerhalb Rußlands nicht aufbringen. Allerdings besteht die anhaltende Popularität der „Euro-Asiatischen Föderation der Unionen von Evangeliumschristen-Baptisten“ nicht zuletzt darin, daß sie das Russische als Verkehrssprache am Leben erhält. Dort kann sich z.B. die russischsprachige Minderheit aus den baltischen Staaten wieder heimisch fühlen. Dieser lose Zusammenschluß läßt sich verstehen als Nachfolgerin des einst mächtigen, nach 1991 aufgelösten „Allunionsrats der Evangeliumschristen-Baptisten“.
Kommentar - Das geschichtliche Erbe
Im Wesentlichen dreht sich diese schwere, längst nicht abgeschlossene Auseinandersetzung um die Bewertung des sowjetisch-russischen Erbes. Die gegen russische Fußballfans gerichteten Ausschreitungen in Warschau im Zusammenhang mit der Europameisterschaft am 12. Juni zeigten, daß Russen durchaus als Zielscheiben ethnischen Hasses vorkommen. Auf einem Werbeplakat in der Moskauer Metro hieß es vor einem Jahr: „Besuchen Sie Litauen! Die Menschen lieben uns und warten auf uns.“ Natürlich war das ironisch gemeint.
Seit Anfang der 90er Jahre feiert man in den baltischen Staaten den militärischen Widerstand gegen die Rote Armee während und nach dem II. Weltkrieg. Dabei handelt es sich vor allem um einheimische Einheiten der Waffen-SS sowie die „Waldbrüder“. Letztere hatten bei rund 50.000 Toten den Partisanenkampf gegen die Sowjetarmee und ihre einheimischen Verbündeten bis etwa 1957 aufrechterhalten. Ihr Kampf hatte sich von der Hoffnung auf ein militärisches Eingreifen des Westens genährt.
Zum Entsetzen nicht nur von Russen und Juden hält Erzbischof Jānis Vanags seit einem Jahrzehnt jedes Jahr am 16.3. in der lutherischen Kathedrale zu Riga einen Gedenkgottesdienst zu Ehren der Veteranen der lettischen Waffen-SS ab. Nun ging er in diesem Jahr auf die andere Seite zu. Er meinte in seiner Predigt, man müsse im Namen der Verständigung auch den antifaschistischen Kampf auf Seiten der Roten Armee gelten lassen. „Uns Letten ist es vielleicht notwendig, mit größerem Verständnis auf die betagten Ordensträger zu schauen, die den Siegestag am 9. Mai begehen. Vielleicht kämpften sie nicht für das Imperium und Stalin, sondern nur gegen jene, die ungeheures Leid über sie und ihre Familien gebracht hatten.“
An die anwesenden Legionäre gewandt sagte Vanags: „Die unter deutschen Fahnen Kämpfenden . . . kämpften nicht für den Ruhm und Sieg Großdeutschlands und nicht gegen Europa. Sie kämpften einfach dafür, daß das Verwerflichste von allem, die roten Bolschewiki und ihre tschekistischen Mörder, nicht erneut in Lettland einfielen.“
Doch diese Sätze beschreiben die Motivation längst nicht aller Legionäre: Bekanntlich waren auch lettische Verbände an der fast vollständigen Ausrottung des baltischen Judentums beteiligt. Die Mittäterschaft wurde in dieser Rede des Erzbischofs auch eingeräumt. Er meinte, für die Überlebenden des Holocaust sei es wichtig, „daß die Verbrechen, die auf sie und ihre Familien zielten, nicht gerechtfertigt und vergessen werden“.
Wie können Christen zur Friedensstiftung beitragen? Vanags will beiden Seiten ein Recht auf Selbstrechtfertigung einräumen. Doch sind nach biblischem Vorbild nicht Reue und Buße der eigentliche Weg ins Freie?
Dr.phil. William Yoder
Smolensk, den 11. Juli 2012
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