Ein Protestant wird erstmals Bürgermeister einer großen, russischen Stadt
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Sergei Andrejew schlug den Kandidaten der Staatspartei “Einiges Rußland”
Kommentar
M o s k a u – Zum ersten Mal seit der zaristischen Ära ist ein Protestant zum Bürgermeister einer führenden russischen Stadt gewählt worden. Bei einer Stichwahl in der Autostadt Toljatti/Wolga am 18. März sorgte der parteilose Evangeliumschrist Sergei Andrejew für landesweites Aufsehen als er den Kandidaten der Staatspartei “Einiges Rußland”, Alexander Schachow, in die Schranken wies. Auf Andrejew fielen fast 57% der Stimmen; der Kandidat der Partei Putins schaffte gerade 40%. Die englischsprachige „Moscow Times“ wies darauf hin, der Coup sei gelungen trotz der Tatsache, daß die nationale Regierung bereits Milliarden in die bankrotte Autofirma AvtoVAZ gepumpt habe. AvtoVAZ ist Toljattis Hauptarbeitgeber.
Doch im Vorfeld konnte „Einiges Rußland“ einmal wieder der Versuchung nicht widerstehen, zwecks Machterhalts Stimmung gegen die religiösen Minderheiten zu schüren. In Toljatti stellte sie sich als Vaterlandsretter gegenüber finsteren und bedrohlichen ausländischen Kräften dar. In den zwei Wochen vor der Stichwahl waren Plakate und Reklamewände aufgetaucht, die die orthodoxe Kathedrale Toljattis von hellem Sonnenlicht bestrahlt aufzeigten. Neben ihr stand in dunklen, grauen Farben und von einem schwarzen Raben umkreist das örtliche baptistische Bethaus.
In einer Stellungnahme am 15. März protestierte die Moskauer Zentrale der „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“ (RUECB) gegen das anonyme Plakatieren sowie das anhaltende Schweigen der kommunalen Behörden. Mit einem Hinweis auf Artikel 19 der russischen Verfassung warf RUECB-Präsident Alexei Smirnow den Verantwortlichen „religiösen Rassismus“ und Gleichgültigkeit gegenüber dem „Schüren interkonfessionellen Hasses“ vor. Er rief dazu auf, bei Wahlen „die konfessionellen Unterschiede innerhalb einer einzigen christlichen Tradition“ nicht mehr polemisierend darzustellen. Er fügte hinzu: „Alles scheint erlaubt wenn es darum geht, eine Stadt von der ‚evangelischen Pest‘ zu befreien.“
Im Februar 2009 hatte eine fingierte baptistische Zeitung in Smolensk (nahe Belarus) einem Kandidaten für das Bürgermeisteramt vorgeworfen, er wolle als Baptist die Stadt in eine Hochburg ausländischer baptistischer Missionen verwandeln. (Siehe unsere Meldung vom 23. Februar 2009.) Doch der angeprangerte Kandidat, Sergei Maslakow, hatte keinerlei Beziehungen zu den Baptisten. Beide Kandidaten unterlagen. Der Kandidat von „Einiges Rußland“, der die Schmutzkampagne auf dem Gewissen hatte, kam beim Rennen als Dritter durchs Ziel. Die Prophezeiung der Fälschung, daß ein Oppositionskandidat „der erste baptistische Bürgermeister Rußlands“ werden könnte, hat sich nun in Toljatti erfüllt.
Doch genau genommen ist der 39-jährige Sergei Andrejew, ein vierfacher Vater, kein Baptist. In einem Interview gab er zu Protokoll: „Ich bin weder Scientologe, Baptist noch Hare Krishna. Ich bin eben Evangeliumschrist.“ Der neugewählte Bürgermeister ist Mitglied der winzigen „Assoziation der Missionarischen Kirchen der Evangeliumschristen“ mit 12 Gemeinden in Rußland und weiteren 13 in der Ukraine. Ihr Präsident in Rußland ist Sergei Guz aus Uljanowsk/Wolga. Die Gruppe ließe sich als Bündnispartner der in Krasnodar beheimateten “Evangelische Christliche Missionsunion“ oder der von Alexander Semtschenko angeführten „Union der Kirchen von Evangeliumschristen“ in Moskau beschreiben. Alle drei gehören einer losen Schirmorganisation, dem von Peter Sautow (Moskau) geleiteten “Vereinigten Rat der Evangeliumschristen-Baptisten“ an. Andrejew war zum Laienprediger in der Petersburger Baptistengemeinde „Neues Leben“ ausgebildet worden ehe er 1993 als 20-jähriger Schullehrer nach Toljatti zog. Die Jugendorganisation „Neues Leben“, die er vor 19 Jahren in Toljatti gründete, wird noch immer als baptistischer Verein beschrieben. Andrejew gehört zu den nicht wenigen Baptisten, die mit den Bedingungen innerhalb der RUECB nicht zurechtkamen und sich deshalb entschieden haben, anderenorts ihrem Herrn zu dienen.
Obwohl er sich nicht als evangelischen Kandidaten präsentierte, leugnete er seine religiösen Beziehungen keineswegs und unterhielt sein Wahlbüro in einer Gemeinde der charismatischen Bewegung des vollen Evangeliums: „Heiliges Feuer“. Das kann man im Namen der politischen Fairness durchaus hinterfragen – Baptisten würden protestieren wenn ein orthodoxer Kandidat sein Wahlbüro in einer ihm genehmen Kirchengemeinde einrichtete. Doch gleichzeitig verfügen protestantische Kandidaten nicht über den gleichen Zugang zu Immobilien.
Es wäre ebenfalls ungenau, Sergei Andrejew als völlig parteilosen Kandidaten darzustellen. Er verfügt über Beziehungen zu einem Kandidaten für das Präsidentenamt Anfang März: Michail Prochorow, dem drittreichsten Oligarchen des Landes. Verdächtig ist die Tatsache, daß beide im vergangenen September der Partei „Rechte Sache“ den Rücken kehrten. Das eröffnet Andrejew die Möglichkeit, bald der verheißenen, noch nicht existenten Partei Prochorows beizutreten. Es wird auch behauptet, die „stille Zustimmung“ von Wladimir Artjakow, dem Governeur der Partei „Einiges Rußland“ für das Gebiet Samara, habe entscheidend zum Sieg Andrejews beigetragen. Ljudmila Kusmina. Leiterin einer Filiale der NGO “Golos” in Toljatti, die Wahlen überwacht, erklärte in der “Moscow Times”, der siegreiche Kandidat sei „nicht völlig selbständig. Das läßt unser Machtvertikal nicht zu.“ Sie lobte Andrejew dennoch wegen seiner Bereitschaft, mit ihrer Organisation zu kooperieren. Das tun eben nur die wenigsten russischen Politiker.
Der in Dallas ansässige Internetdienst „Slavic Voice“ weist darauf hin, daß die Wahlkampagne des Mormonen Mitt Romney um das Präsidentenamt in den USA seinen russischen Glaubensgenossen einen erheblichen Druck aussetzt. Der mormonische Glaube gehört bekanntlich zu den uramerikanischsten Glaubensgemeinschaften. Wenn es den Mormonen Rußlands gelingt, den US-Wahlkampf relativ unversehrt zu überstehen, kann das – neben dem bemerkenswerten Sieg in Toljatti – ein klares Indiz dafür sein, daß die religiöse Toleranz auf russischem Boden zunimmt.
Toljatti (Bewohnerzahl 720.000) hieß „Stawropol an der Wolga“ bis zu ihrer Umbenennung 1964 zu Ehren des italienischen Kommunisten Palmiro Togliatti. Toljattis Autobauer hieß einst „Lada“ – eine gemeinsam mit dem italienischen „Fiat“-Konzern gegründete Firma.
Dr.phil. William Yoder
Moskau, den 25. März 2012
Anmerkung von Mai 2020: Andrejew blieb bis 2017 Bürgermeister von Toljatti. Im Jahr danach wurde er Direktor des Industrieparks "Toljatti". Es soll nach dem
russischen "Wikipedia" eins der erfolgreichsten solcher Vorhaben im ganzen Lande sein.
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