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Wandlung von Konfessionen - Beitrag aus "Glaube in der 2. Welt"

Wie wandlungsfähig sind Konfessionen?

 

„Die Wandlung konfessioneller Identitäten am Beispiel Rußlands 1990-2010“

Vortrag zur Begleitung einer Lichtbildpräsentation in Elstal bei Berlin am 25.11.2011

 

Der Zustand bis 1990

Das sowjetische Kirchenmodell bei den Baptisten in den Jahren 1944-1990 ließe sich – etwa im Gegensatz zu den stark westlich-subventionierten Kirchen in der DDR - als nachhaltig und reproduzierbar bezeichnen. Protestantische Gemeinden waren auf das eigene Vermögen angewiesen. Sie mußten gezwungenermaßen mit den Spenden ihrer eigenen Mitglieder zu Rande kommen – andere Spender wurden nicht geduldet. Gemeinden lebten relativ autonom und autark, am Leben erhalten durch eine identitätsstiftende ethnisch-geprägte Subkultur und zweifellos auch den Heiligen Geist.

 

Fremdes Lied- und Predigtgut war kaum vorhanden; das vorhandene, nichtsowjetische Gedankengut stammte entweder aus dem Zarentum oder dem Äther. Das Schmuggelgut aus westlicher Himmels­richtung bestand im wesentlichen aus Bibeln. Die protestantischen Gemeinden des Riesenreiches waren bodenständig und indigen – das, was sie darstellten, war wahrlich aus gegebenen, einheimischen Quellen und Bedingungen entstanden. Ihr Glaube wies orthodoxe Züge auf: Zu ihnen gehörten das getragene Verhalten im Gottesdienst und eine vom hohen geistlichen Wert des Leidens geprägte Glaubensauf­fassung. Diese Gemeinden waren eine äußerst einheimische Erscheinung. Sie waren, um es sträflich unwissenschaftlich auszudrücken, „auf dem eigenen Mist gewachsen“. Sie lebten von den eigenen Ressourcen, in größtenteils von ihnen selbst hergerichteten Hinterstuben.

 

Natürlich wiesen die protestantischen Gemeinschaften der Sowjetära auch erhebliche Mängel auf. Die erzwungene soziale Marginalisierung wurde im Laufe der Jahrzehnte als gottgewollt angenommen und somit zum Glaubensprinzip erhoben. Ihre Xenophobie war eine Folge forcierter Abschottung. Der theologische Bildungsnotstand spiegelte sich in einem simplifizierenden Schwarz-Weiß-Denken wider. Der Moskauer Baptistentheologe Gennadi Sergienko, ein promovierter Abgänger des Fuller-Seminars in Kalifornien, behauptet, die Gemeinden der Sowjetzeit hätten „ohne erstzunehmendes theologisches Fundament“ gelebt.[1] Doch lebensfähig war dieses Kirchenmodell allemal – schließlich hatte es sich durch eine Phase schärfster Repressionen Ende der 30er Jahre hindurchgerettet und bewährt.

 

Das Jahr 1991

Für das staatliche System war der Zerfall der Sowjetunion 1991 eine Niederlage auf der ganzen Linie. Noch gestern war man eine gefürchtete Supermacht – nun reihten sich die mit humanitärer Hilfe beladenen Maschinen der „Siegermächte“ auf den Moskauer Flughäfen. Gingen die Protestanten eher als Gewinner oder Verlierer aus diesem Niedergang hervor? Gewiß gewannen sie erhebliche Zivilfreiheiten, die sie teilweise in missionarischer Absicht umzusetzen verstanden. Freiheit brachte aber auch eine erhebliche Schwächung der protestantischen Bewegung mit sich: den Exodus von nahezu die Hälfte aller Protestanten.[2]

 

In den 70er Jahren hatte der „All-Unionsrat der Evangeliumschristen-Baptisten“ (AURECB) eine halbe Million getaufter Mitglieder; heute hat seine Rechtsnachfolgerin, die „Russische Union der Evangeliumschristen-Baptisten“ (RUECB), nur noch 72.000 Mitglieder.[3] Wie eine mexikanische Pinjata hatte sich die alte Union in 1.000 Scherben verwandelt. Aus einer einzigen protestantischen Gemeinde der Moskauer, der Zentralen Baptistengemeinde in der



[1] Sergienko, Gennadi, „Niewyutschenie uroki proschlogo“, in: Mirt, St. Petersburg, 6.3.2010, unter: „gazeta.mirt.ru“.

[2] „Den Player wegwerfen und zuhören“. Interview mit Ewgeni Bakhmutski in: Meldung Nr. 07-47, Moskau, 21.11.2007, veröffentlicht in: „www.baptistrelations.ru“.

[3] Eine Powerpoint-Präsentation der RUECB von Anfang 2011 gibt 72.548 Mitglieder in 1.783 Gemeinden und Hausversammlungen an.

 

 

Nähe der Metrostation „Kitaj Gorod“, wurden etwa 100. Rund 30 dieser Moskauer Gemeinden gehören heute zur RUECB.

 

Wesentlich dabei war auch die Tatsache, daß das ökonomische Fundament, auf dem das protestantische Leben aufgebaut war, wegbrach und somit ein bewährtes, lebensfähiges Kirchenmodell in Makulatur verwandelte. Verursacht wurde der ökonomische Niedergang durch Inflation und eine massive Arbeitslosigkeit. Die damalige Stimmung erinnerte an den Aufruf: „Rette sich wer kann!“

 

Als Ergebnis des generellen, gesellschaftlichen Niedergangs entstand ein gewaltiges Gefälle zwischen den Erwartungen der Protestanten im In- und Ausland und dem tatsächlichen personellen und materiellen Vermögen der Einheimischen. Einerseits sollten sich Baptistengemeinden – etwa bei den ökumenisch mit der Orthodoxie durchgeführten Missionskampagnen an der Wolga 1992 – missionarisch engagieren, andererseits waren viele Pastoren nicht einmal bereit, Protestanten aus anderen Kirchen (geschweige denn orthodox-orientierte Menschen) unter das eigene Dach zu lassen.[1]

 

Der missionarischen Herausforderung konnte die kleine Schar der Protestanten – sie machte wohl nie mehr als 1% der Bevölkerung aus – gar nicht gewachsen sein. Hier wurde eine marginalisierte, teils dörfliche Glaubensgemeinschaft mit minimaler Bildung in eine durchaus gebildete Gesellschaft von 240 Millionen „entsandt“. Man stelle sich nur vor, in den USA würde ein unbemitteltes Volk von Bauern und Proletariern es sich vornehmen, sein gesamtes Land zu evangelisieren.

 

Man könnte sagen, aus diesem gewaltigen Auseinanderklaffen von Erwartung und tatsächlichem Vermögen sei eine zweifache Sogwirkung entstanden, die gleichzeitig osteuropäische Protestanten in den Westen und westliche Missionen und in den Osten zog. Auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR winkten die Westmissionen vom rettenden Ufer – im wesentlichen waren auch nur sie imstande, den ökonomisch untergehenden, einheimischen Kirchen Rettungsringe zuzuwerfen. Die Westmissionen fungierten als Ventil für den Erwartungsdruck, der im Zusammenhang mit dem genannten Gefälle entstand.

 

Ein Ergebnis: Die kirchliche Vielfalt

Das Eintreffen der verschiedenartigsten kirchlichen Missionen und Bewegungen in Rußland vor 20 Jahren zog eine entsprechende Zersplitterung protestantischen Lebens nach sich. So erschienen u.a. eine „Narnia-Mission“, ein „Bill-Gothard-Institut“, das induktive Bibellesen und eine kreationistische 6-Tage-Schöpfung-Bewegung. Oftmals ging es vor allem darum, mittels einer neuen Kleinstfiliale die eigene, westliche Präsenz auf völlig neuem Terrain zu belegen. Da standen die Vorstellungen der Gastgeber an zweiter Stelle.

 

Diese Entstehung von Vielfalt ging auch in starkem Maße mit einer Demontage der alten, gewachsenen, zentralen Kirchenleitungen einher. Die tonangebende Instanz war fortan nicht der vertraute Leiter von Gemeinde oder Union, sondern der zugereiste Arbeitgeber aus westlicher Richtung. Ähnlich wie in der Entwicklungswelt kam es vor, daß ein Gemeindepastor als Chauffeur und Dolmetscher westlicher Missionare sehr viel besser verdiente als in seinem eigentlichen Beruf. Die neuen Arbeit- und Geldgeber lösten die alten Gemeinde- und Kirchenleitungen als bestimmende Instanz ab. Solche Begebenheiten lieferten ein anschauliches Beispiel für das stets sehr problematische und sensible Aufeinandertreffen von arm und reich.

 

Der Einsatz des Geldhebels trug zur steigenden Vielfalt bei. Fast jede westliche Mission knüpfte Zuwendungen an konkrete Erwartungen – es mußte z.B. calvinistisch gepredigt oder


[1] Yoder, William, „Freikirchen - Es ist bunt geworden“, in: Glaube in der Zweiten Welt, Zürich, 9.2007, S. 25.

 

in Zungen gesprochen werden. Wohlmeinende West-Lutheraner machten es bei einem Bildungsinstitut in diesem patriarchalen Land zur Auflage, daß 50% der Theologiestudenten weiblich seien. Das geschah, obwohl es vor 1990 ordinierte Pastorinnen überhaupt nicht gab.

 

Allerdings war die Demontage von Leitungsgremien auch von Russen selbst gewollt. Die abrupte Entfernung der Leitung der AURECB 1991 und deren Ersetzung durch relativ unerfahrene Persönlichkeiten war u.a. ein Ausdruck der alten Ressentiments zwischen Provinz und „denen da oben“ in der Moskauer Unionszentrale. Dieser überstürzte Stabswechsel machte die Kirchen um so anfälliger für westliche Einflußnahme.

 

Auf den Wandel der äußeren Umstände wurde auch kirchlich sehr verschieden reagiert. Die mit Auflagen verbundene Bezuschussung weckte Widerstande (Backlash) – und das nicht nur bei überzeugten Traditionalisten. Diese Reaktion bei den jüngeren Jahrgängen ergab sich meistens aus persönlich erlittenen Enttäuschungen und Kränkungen. Die Gegenwehr äußert sich in der Weigerung, auf vorhandene Englischkenntnisse zu verzichten oder Kontaktmöglichkeiten mit Westlern bewußt aus dem Wege zu gehen. So tragen auch die Enttäuschten zur Vielfalt der kirchlichen Landschaft – oder zumindest zu Übertritten zugunsten der Orthodoxie - bei.

 

Aus der Weigerung, sich auf das zu beschränken was die eigenen Ressourcen hergaben, entstanden Mißbildungen. Aus dem Verzicht auf die Nachhaltigkeit entstanden u.a. bauliche Popanzen und Überdehnungen, die den wahren finanziellen Verhältnissen unter den Einheimischen nicht widerspiegelten und Ängste seitens der Orthodoxie vor einer ausländischen Überfremdung schürten. Nördlich von Moskau wurde 2008 ein moderner, baptistischer Kirchenkomplex für eine kleine Schar von rund 130 Gemeindegliedern fertiggestellt. An der imposanten, baptistischen „Gethsemane“-Kirche im Norden Moskaus wird bereits seit mehr als 15 Jahren gemauert. Gemeindemitglieder erklären, der Gebietsbürgermeister hätte zur Auflage gemacht, daß ein repräsentativer Bau entstehe. Sobald – und wenn überhaupt – der Bau vollendet ist, soll ein Teil der Räumlichkeiten fremdvermietet werden. So könnte die Gemeinde neue Einnahmequellen zur Deckung der laufenden Kosten erschließen – was allerdings nicht zum ursprünglichen Konzept gehörte.[1]

 

Russische Baptisten erzählen: „Unsere orthodoxe Kultur verlangt, daß sich christliche Gemeinden in richtigen Kirchen treffen.“ Nach orthodoxer Sichtweise seien es eben die Sekten, die sich in Schulen oder Turnhallen treffen. Allerdings sprengt diese Erwartung das Gebot der Nachhaltigkeit und führt zu absurden Erwartungen: Fremde, westliche Sponsoren hätten mit ihrem Geld dafür zu sorgen, daß russische Gemeinden heimisch aussehen und wirken. 

 

Die Neuen in der ersten Reihe

Die genannte Überdehnung und das Abrücken von den eigenen, herkömmlichen Ressourcen und Personen machten Gemeinden besonders anfällig für eine Fremdbestimmung und Beschneidung der Eigenständigkeit. Heute stehen häufig die einheimischen Nachkommen der westlichen „Retter“ von 1991 in vorderster Reihe. Nun gibt es Gruppierungen und theologische Überzeugungen – Calvinisten und Neo-Pfingstler (Charismatiker) z.B. – die zu Zeiten der Sowjetunion nur im geringsten Maße vorhanden waren. Durch deren Präsenz gleicht sich die protestantische Landschaft Rußlands der westlichen an – die russische spiegelt der westlichen Landschaft wider.



[1] Der protestantische Geschäftsmann Alexander Semtschenko berichtet von einem gewaltigen, baptistischen Kirchenprojekt in Syktywkar/Republik Komi, der wohl nie zu Ende geführt wird. Rund 10% des angefangenen Gebäudes wird gegenwärtig als Mensa genutzt. Viertel Teil eines Interviews, „Ob utschasti w stroitelswie khramow RPTsMP“, in: Internetdienst „Portal Credo“, 2. Februar 2012. Siehe „www.portal-credo.ru“.

 

Es ist kein Geheimnis, daß das Moskauer „Slavic Legal Centre“ (SLC) eine der beiden europäischen Filialen der in Washington beheimateten, weit rechts angesiedelten „American Society for Church and Society“ ist. (Die zweite Filiale befindet sich am Europäischen Gerichtshof in Straßburg.) Die ASCS wurde 1991 vom charismatischen Fernsehprediger Pat Robertson ins Leben gerufen und gehört heute zu den wenigen Organisationen in Rußland, deren Dienste gleichermaßen von Charismatikern und Baptisten in Anspruch genommen werden. In wenigen Worten: Die Finanzen und Expertise rechtsgerichteter amerikanischer Christen streiten an vorderster Front für die Glaubensfreiheit in Rußland.[1]

 

Durch eine Spaltung der 1934 gegründeten „Slavic Gospel Association“ kam genau 60 Jahre später eine neue, entschieden calvinistisch-fundamentalistische Fraktion um Robert Provost (Illinois/USA) ans Ruder. An der obersten Führungsetage wirkt sie u.a. in Rußland, Ukraine und Belarus voll mit. Sie hat wesentlich mehr Einfluß als etwa die Missionare der südbaptistischen „International Mission Board“ und bleibt mit Abstand größter Sponsor der RUECB. Eng liiert ist die SGA mit Dr. John MacArthur, dem im Großraum Los Angeles wirkenden Direktor des „Grace Bible Institute and Seminary“. U.a. in Samara/Wolga, Nowosibirsk und Irpen bei Kiew ist er an der Ausbildung des theologischen Nachwuchses der Baptisten entscheidend mitbeteiligt.[2] Immerhin weisen seine patriarchalischen, gegen Charismatiker, Ökumene und den Islam gerichteten Ausführungen Überschneidungen mit den baptistischen Lehrmeinungen der Sowjetära auf. Die beiden theologischen Standpunkte sind jedoch nicht identisch – erst seit der Wende ist MacArthurs umstrittener Fünf-Punkte-Calvinismus in Rußland verbreitet. In Rußland bezeichnet sich diese fundamentalistische Gruppierung gerne selbst als etwas Neues, als zeitgemäß und modern, denn sie verzichtet auf die Kopfbedeckung bei Frauen und praktiziert offenere, nicht traditionelle Formen von Gottesdiensten.

 

Interessant hierbei ist die Tatsache, daß die 1994 unterlegene Fraktion die SGA, die heute unter dem Namen „Peter Deyneka Russian Ministries“ fungiert, vor allem in der Ukraine und in St. Petersburg zur Heranbildung einer gemäßigten, protestantischen Intelligenz beiträgt.[3] Diese Mission wird angeführt von dem in Wheaton/USA ansässigen Ukrainer Sergei Rakhuba.

 

In den GUS-Staaten ist „charismatisch“ ein dehnbarer und diffuser Begriff. Benutzt wird sie nicht nur von politisch aktiven Gruppierungen, sondern auch von den politisch enthaltsamen Kreisen um Rick Renner, einen Schüler des texanischen Multimillionärs und Predigers


[1] Zu den Beziehungen zwischen Mutterverein und Filiale siehe: „sclj.org“ und die Weltkarte unter „aclj.org/our-mission/acljworldwide-impact“. Auf der US-amerikanischen Webseite am 9.3.2012 trat die Organisation für die Rechtmäßigkeit eines israelischen Erstschlags gegen Iran ein und verteidigte die rechtlichen Ansprüche der Tea-Party-Bewegung. Siehe: „aclj.org“.

 

[2] Dr. Robert Provost schreibt: “While visiting Kiev in 1989, I learned from Pastor (Yakov) Dukhonchenko that the Berlin Wall was being taken down. Surprisingly, he was terribly distraught about it, fearing that freedom would bring a flood of false teachers to destroy their naïve, trusting churches. His concerns were well-founded. . . . I committed to helping Pastor Dukhonchenko maintain a doctrinal fence around their faithful churches that had suffered so much under the communists. He asked me to help him start a seminary.” Siehe: “www.sga.org/2011/09/irpen-biblical-seminary-2”. In der Ukraine hat Dr. MacArthur wiederholt davor gewarnt, junge Männer zum Theologiestudium in die USA zu entsenden.

 

[3] Zu dieser „Gegenbewegung“ siehe die Petersburger Internet-Zeitschrift „Mirt“ sowie: Yoder, William, Rein in die gesellschaftliche Mitte. Forum 20 versammelte sich in der Ukraine, in: Meldung Nr. 11-25, Moskau, 27.11.2011, veröffentlicht auf der Seite der Russischen Evangelischen Allianz:  „rea-moskva.org“.

 

 

Kenneth Copeland. Zu dem politisch und gesellschaftlich besonders aktiven Kreisen gehören die Minsker „Neues Leben“ Gemeinde des Wjatscheslaw Gontscharenko und die Kiewer „Botschaft Gottes“ des umstrittenen Nigerianers Sunday Adulaja. Politisch aktiv sind baptistische Persönlichkeiten vor allem in der Ukraine und Moldawien.

 

Inzwischen sind die Charismatiker als Neuerscheinung aus dem protestantischen Leben der GUS-Staaten nicht mehr wegzudenken. Heute stellen sie gemeinsam mit den Pfingstlern wohl die Mehrheit unter den rund 1 Million Protestanten Rußlands; in den Medien und im öffentlichen Leben überhaupt stammt die Mehrheit der Stimmen aus dem charismatisch-pfingstlerischen Lager. Das geschieht zum Verdruß der RUECB, die sich als Rechtsnachfolgerin des einmal alles (registriert) umfassenden All-Unionrats versteht.

 

Die Etikette „charismatisch“ wird auf angewandt auf diverse, baptistisch geprägte Großgruppierungen, die die charismatischen Gaben nicht pflegen, die jedoch mit den harten traditionellen Formen des Baptismus der Sowjetära gebrochen haben. Eine von ihnen, die vom Kiewer Anatoli Kaluzhny geleitet wird, erklärt, es sei vor allem der Wunsch nach moderner Musik und legerer Bekleidung gewesen, die zu ihrem Ausschluß aus dem Baptistenbund führte.[1]

 

Auch jüngere Gemeindegründungen, die weiterhin der RUECB angehören, haben sich dem Aussehen und der Praxis „charismatischer“ Gemeinden angenähert. Zu ihnen gehören die Moskauer Gemeinden von Leonid Kartawenko und Witali Wlasenko. Diese Gemeinden verzichten auf das Wort „baptistisch“ und bezeichnen sich u.a. als „Stadtgemeinde“ oder „Bibelkirche“.[2] In Deutschland gibt es umgekehrt sehr viele russischstämmige Baptistengemeinden, die sich nur „freie“ oder „freie evangelische“ Gemeinden nennen, weil ihnen die deutschen – und mitunter auch die daheimgebliebenen russischen - Baptisten als übermäßig liberal erscheinen.

 

Geistige Neuigkeiten

Geschichtlich gesehen war die baptistische Bewegung Rußlands – wohl teils dank seiner mennonitischen Beziehungen – stark pazifistisch eingestellt. Heute jedoch ist die pazifistische Theologie nicht mehr „Mode“. Sie wird heute verstanden als ein Ausdruck der langjährigen Marginalisierung und Verfolgung des russischen Protestantismus.[3] Am 8. Mai jedes Jahr legen Hauptvertreter der protestantischen Kirchen großen Wert darauf, Kränze am Grab des unbekannten Soldaten an der Kremlmauer hinzulegen. Damit möchten sie angesichts vorhandener Widerstände das Faktum der eigenen Zugehörigkeit zur russischen Nation und Geschichte untermauern. Die Erlaubnis hierzu deuten sie schon als ein Zeichen politischer Anerkennung. Schließlich ist der Sieg über Nazi-Deutschland das einzige größere Ereignis, das die Völker Rußlands noch einigt.

 

In einem 2011 erschienenen Aufsatz des Petersburger Theologen Mikhail Newolin zählt er die neuen, in den letzten zwei Jahrzehnten entstandenen Erscheinungen im kirchlichen Bereich auf. Zu ihnen zählen sehr zahlreiche - auch finanzielle – Beziehungen zwischen Ost und West sowie „neue Gesichter“ in den Gemeinden aus Kreisen und beruflichen Schichten,


[1] Äußerung Kaluzhnys gegenüber dem Verfasser in Warschau, 10.2008.

 

[2] Yoder, William, Den Ohren nach zum Gottesdienst, in: Meldung Nr. 11-18, Moskau, 20.09.2011, veröffentlicht auf der Seite der Russischen Evangelischen Allianz:  „rea-moskva.org“.

 

[3] Alexander Semtschenko beschreibt den historischen Pazifismus der sowjetischen Baptisten als das Ergebnis einer „nahezu fanatischen“ Ablehnung ihres gottlosen Staates. Siehe den dritten Teil seines Interviews auf der Webseite „www.portal-credo.ru“ am 16.2.2012: O pazifisme russkikh protestantow i nrawstwennoi prawde. Es hat sich erwiesen, daß der kirchliche Pazifismus der DDR ebenfalls nicht häufig in einer theologischen Überzeugung fußte.

 

 

die vor 1991 niemals die Schwelle einer Kirche dunkelten. Die Gebildeten unter ihnen sind inzwischen in Leitungspositionen vorgerückt und gefährden somit die alten, familiär bedingten Kirchenstrukturen.[1]

 

Auch die Diakonie ist zum ersten Mal im größeren Maßstabe vorhanden – es wird verschiedentlich beklagt, es habe sich aus der recht erfolgreichen Drogenrehabilitation ein neues „Lumpenproletariat“ in den Gemeinden auf Kosten des Zugangs zur Mittelklasse gebildet.[2] Newolin erwähnt ebenfalls eine neue positive Haltung zur Bildung, die zumindest in größeren Stadtgemeinden vorhanden ist.[3] Dafür haben westliche Missionen und Kirchen eine viel zu große Zahl von Kleinst-Bibelschulen und -Hochschulen gegründet – die meisten von ihnen sind inzwischen wieder eingestellt oder mit anderen Institutionen zusammengelegt worden. Es sind auch neue Kirchen und Kirchenbünde entstanden, die einen Aderlaß seitens der alten Bünde verursachen und zu neuen Spannungen führen. Ein baptististischer Schirmverein – einst „Öffentlicher Rat“ genannt – vertritt rund 10 baptistisch-artige selbständige Kirchen. Heute, sagt Newolin, haben man eine echte Freiheit der Wahl. Doch die Neigung zum Konkurrenzdenken ist vorhanden – es ist nicht zuletzt ein Widerstreit um knappe Ressourcen. Er schreibt: „Häufig entwickelte sich eine spannungsreiche Beziehung zwischen den Denominationen. Viele Leiter . . . befanden sich einst in derselben Denomination und der Austritt aus ihr ist nicht immer konfliktfrei zustatten gegangen.“[4]

 

Wenngleich zumeist von bescheidener Qualität, ist eine beachtliche Zahl von Zeitschriften, Pressediensten, Webseiten und Rundfunkprogrammen entstanden. Wer auf Russisch im Internet „googelt“, stößt rasch auf die russischen Protestanten. Zumindest auf diese Weise ist man in den Massenmedien präsent. Zahlreiche neue Organisationen sind entstanden – doch „typisch slawisch“ nach Newolin bleibt der Gründungsvater zumeist am Ruder solange das biologisch noch zu bewerkstelligen sei.[5]

 

Neu ist ebenfalls der Prozeß einer Professionalisierung der Reihen der kirchlichen Mitarbeiter. Den vollamtlichen Theologen, kirchlichen Lehrer oder Journalisten hat es vor 1991 praktisch nicht gegeben. Im Jahre 2011 bemängelte ein leitender Petersburger Pastor, daß viele jüngere baptistische Pastoren noch nie eine säkulare Arbeitsstelle innegehabt hätten. Dieses führe zu einer neuen Isolierung der Pastoren vom „gemeinen“, arbeitenden Volk. Nach mündlichen, vertraulichen Angaben aus der Ukraine beziehen unter der theologisch gebildeten Pastorenschaft rund 80% von ihnen mindestens einen Teil ihres Gehaltes aus westlichen Quellen.



[1] Newolin, Mikhail, Forum 20. Dwazat let religiosnoi swobody i aktiwnoi missii v postsowjetskom obschestwe. Kiew 2011, S. 10-11. Das Buch ist auch als PDF-Datei vorhanden.

 

[2] Im Russischen benutzt Schlonkin nur das Wort „Lumpen“. Schlonkin, Wiktor, Smotrja na to, schto proiskhodit v ewangeliskikh tserkwakh, in: Pressedienst der “Slavic Voice of America”, Dallas/Texas, 30.12.2011, “slavicvoice.org”. Newolin äußert die gleiche Sorge. Sie wird in deutscher Sprache beschrieben in: Yoder, William, Die Wehen des Erfolgs. Sind russische Reha-Dienste zu erfolgreich? Siehe: Meldung Nr. 10-29, Moskau, 29.12.2010, veröffentlicht auf der Seite der Russischen Evangelischen Allianz:  „rea-moskva.org“.

 

[3] Newolin, Mikhail, Forum 20, siehe oben, S. 12

 

[4] Ebd., S. 13.

 

[5] Ebd., S. 15.

 

 

 

 

 

Diese Skizze des Verfassers versucht, die theologische Zusammensetzung der heutigen RUECB zu beschreiben. In ihr bestehen vier Hauptströmungen; die gelben Kasten listen Gruppierungen und Personen auf, die der jeweiligen Stromung zugerechnet werden können. Die Charismatiker – der Kirchenverband ROSKhWe – stehen außerhalb des Baptistenbundes, sind jedoch mit der „Fraktion Semtschenko“ verbunden. Die rote Linie soll zeigen, daß die Fraktion Semtschenko nur in gewisser Weise noch zum Baptistenbund gehört. Der Großunternehmer und Oligarch Alexander Semtschenko gehört seit 2008 selbst nicht mehr zur RUECB, doch ein Teil seiner Mitarbeiter und mindestens eine seiner Kirchengemeinden gehören weiterhin dazu. Die größte dieser Fraktion bilden die „Traditionalisten“, die kleinste ist die Gruppierung Semtschenko. Die traditionalistische, der Sowjetunion entstammende Bewegung bleibt vorerst die stärkste, aber sie wurde durch die Emigration entschieden geschwächt. Die überwältigende Mehrheit der Ausgewanderten – erst recht jene nach Deutschland – ließe sich als traditionell bezeichnen.[1] Die Baptisten im Raum Nowosibirsk oder in Moskaus altwürdiger „Zentrale Baptistengemeinde“ denken zwar größtenteils traditionell, doch für das Gemeindeleben in den Großstädten sind sie schon nicht mehr typisch.

 

Fazit

Kirchen, ob gewollt oder ungewollt, setzen sich einem unerbittlichen Druck aus wenn sie sich bemühen, sich der Gesellschaft hin zu öffnen. Wer sich von der Gesellschaft abschottet bzw. mit der herkömmlichen Marginalisierung gut leben kann, wandelt sich weniger rasch. Solche Gemeinden – siehe u.a. die nichtregistrierten Baptistengemeinden – sind nicht dem gleichen Druck ausgesetzt. Doch der Wandlungsprozeß läßt sich unter lebendigen Lebewesen nie gänzlich aufhalten – siehe z.B. die stets konservative Orthodoxie oder die amischen Kirchengemeinden in den USA.



[1] Gennadi Sergienko schrieb: „Wenn es einen positiven Aspekt bei der Massenemigration der 90er Jahre gegeben hat, so bestand er in der Befreiung unserer Gemeinden von einem bedeutenden Teil der Gläubigen, denen die Aufrechterhaltung der vergangenen Tradition über alles stand.“ Sergienko, Baptisty i obschestwo, in: Mirt, St. Petersburg, 4.9.2011 unter: „gazeta.mirt.ru“.

 

Exilgemeinden sind meistens bemüht, die alte Tradition in der neuen, freieren Umgebung aufrechtzuerhalten. So üben sie auch mit ihrem neuerworbenen Geld einen bremsenden, gegen den Wandel gerichteten Einfluß auf die Gemeinden in der alten Heimat aus. Im Wandlungstempo sind die Gemeinden des Herkunftslandes den Emigranten voraus.

Beobachter scheinen sich einig zu sein, daß im dichtbesiedelten, auf Assimilierung pochenden Westeuropa das russisch-deutsche Anderssein der Aussiedler nur wenige Generationen überdauern wird. Auch deshalb ist eine Fortsetzung der Emigration der Aussiedler in Richtung Kanada im vollen Gange.[1]

 

 

Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Entwicklung weg von den Denkweisen der Sowjetära mit sehr verschiedenen Geschwindigkeiten vor sich geht. Abgesehen von den baltischen Staaten und Georgien sind die westlichen Staaten und deren Kirchen besonders stark mitbestimmend in der Ukraine und Moldawien tätig. Dabei fahren die Regierungen von Rußland und Belarus einen selbständigeren politischen Kurs. Am wenigsten haben sich die Staaten Mittelasiens vom sowjetischen Modell wegentwickelt – das alte allesbestimmende Diktat des marxistischen Sozialismus wurde im wesentlich durch einen totalitären islamischen Anspruch ersetzt. So sind die Freikirchen etwa in Kirgistan in kirchenpolitischer Hinsicht kaum genötigt, sich auf eine neue Ära umzustellen. Der atheistische Druck ist nur durch einen muslimischen ersetzt worden.

 

Der Wandel im Westen

Natürlich können sich auch die Kirchen des Westens dem generellen Wandlungsdruck gesellschaftlichen Lebens nicht entziehen. Die historischen Denominationen und deren Missionsgesellschaften stellen nicht mehr das da, was sie einmal waren. Ihre finanziellen und personellen Ressourcen haben seit etwa 1970 drastisch abgenommen. Noch zu Zeiten der Sowjetunion spielte der „Baptistische Weltbund“ eine bedeutende Rolle im internationalen, kirchlichen Austausch mit dem Westen; heute spielen die überkonfessionellen, Parachurch-Organisationen auf der ganzen Linie eine bedeutendere Rolle. Das findet auch in der Partnerwahl der Kirchen in den GUS-Staaten ihren Niederschlag. Die überkonfessionellen Missionen sind heute vor Ort in Rußland eindeutig präsenter und augenfälliger. Vor allem seit 2000 war der deutsche „Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden“ bestrebt, sich nur minimalinvasiv in den GUS-Staaten zu engagieren. Dazu war das von ihm gewählte humanitäre und diakonische Engagement besonders geeignet.

 

Dr.phil William Yoder

Orscha/Belarus

10. März 2012

 

Yoder ist freier Journalist sowie Medienreferent bei der Russischen Evangelischen Allianz sowie der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen in der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten. Beide haben ihren Sitz in Moskau.

3.594 Wörter



[1] Bei einem Besuch in Winnipeg Anfang 2012 wurde dem Verfasser versichert, es hätten sich bereits 10.000 Aussiedler aus Deutschland am südlichen Rande der Provinz Manitoba angesiedelt. Nahezu alle Mennoniten Manitobas sind die Nachfolger von Emigranten aus Rußland und der Ukraine. Doch diese neueste Einreisewelle kapselt sich vorerst von den älteren Wellen (um 1874, 1929, 1948) ab.