Den Ohren nach zum Gottesdienst
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Drei neue Moskauer Baptistengemeinden im Vergleich
Reportage
M o s k a u – Die Russen sind dafür bekannt, ohne Schilder und Wegweiser auskommen zu können. Das stimmt nicht zuletzt (ob gewollt oder ungewollt) auch für die Versammlungsstätten der Protestanten.
1. Eine sehr junge Moskauer Gemeinde hat das Problem in origineller Weise gelöst. Um die Versammlungsstätte der “Moskauer Stadtgemeinde” (MCC auf Englisch) im Hotel Milan im Süden der Stadt ausfindig zu machen, braucht man nur den eigenen Ohren zu folgen. Sonntags um 11 Uhr bebt es in der ersten Etage - man geht einfach die Treppe hoch und öffnet jene Tür, aus der der Beat am heftigsten erschallt. Das Öffnen gibt den Blick frei auf ein kleines Auditorium mit Bühne. Zugegen sind etwa 60 Personen, kaum eine von ihnen älter als 35. Diese Gemeinde hat nur ein einziges Jahr auf dem Rücken und Fragen wie Lautstärke scheinen der Bandleiter nach eigenem Ermessen entscheiden zu dürfen. Der Leiter haut in die Keyboardtasten – er spielt auch ein heißes Saxophon. An dem Sonntag, an dem ich dabei war, wurde das Abendmahl zu lebhaften Klängen am Anfang des Gottesdienstes gereicht.
Der Prediger des Tages trug seine Predigt ohne Schlips und in Jeans vor. Die Frage-und-Antwort-Rede war mit Amen-Rufen und gehobenen Händen gespickt. Hier erlebt man eine der sehr wenigen Baptistengemeinden Rußlands, in denen auf die Uhr geschaut wird. Die einzige Predigt beanspruchte 31 Minuten; nach 80 Minuten war das gesamte Ereignis zu Ende. (Vielleicht tragen die Hotelmieten zur Knappheit der Gottesdienste bei.)
Diese junge Gemeinde ist eine Frucht des Dienstes der Mission „Campus Crusade for Christ“. (Allerdings gehören die Abgänger eines Drogen-Reha-Programms ebenfalls dazu.) Campus ist bereits seit 1991 in Rußland unterwegs; Witali Wlasenko, der Leiter des Pastorenteams dieser Gemeinde, arbeitete mehr als ein Jahrzehnt für diese Organisation. Die Gemeinde hat einen Spruch der „Willow Creek Community Church“ aus Chicago zu Herzen genommen: „Der Köder muß dem Fisch schmecken – nicht dem Angler.“ Der Geschmack habe sich nicht nach dem der Alteingesessenen zu richten.
2. In der drei-Jahre-alten “Deine Gemeinde”, die sich im “Moskauer Theologieseminar” der “Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten” (RUECB) trifft, geht es gemächlicher zu. Die Musik ist zwar zeitgenössisch, doch die Vortragenden glauben weiterhin an die Drei- und Vierstimmigkeit. Das Anbetungsteam besteht schließlich aus Mitgliedern der ukrainischen „Zhiwaja Kaplja“ (Lebender Tropfen) Musikgruppe. Falls gerade die klassisch-ausgerichteten Musikkurse des Jewgeni Gontscharenko in der „Zweiten Baptistengemeinde“ stattfinden, treten halbprofessionelle Musiker als Gäste auf.
Hier geht es feierlicher zu: Leitender Pastor Leonid Kartawenko trägt einen Priesterkragen mit Umhang. Zumindest eine der Predigten wird in Erzählungsform vorgetragen – Kartawenko ist ein begnadeter Kommunikator. Alle Generationen sind vertreten, doch Pastor Kartawenko ist der Auffassung, seine Gemeinde bestünde vor allem aus den mittleren Jahrgängen. Die Verkündigung ist inklusiv: „Wir taufen solche, die zu ihrer bewußt vollzogenen Taufe stehen, nicht unbedingt wieder – auch wenn sie Orthodox gewesen ist.“ Dabei merkt er an, daß die nichtregistrierten Baptisten zu alten Zeiten auch solche wiedertauften, die aus anderen baptistischen Kreisen stammten.
“Wachsen ist harte Arbeit,” fügt der Leitende Pastor hinzu. Die Mitgliedschaft bewegt sich um die 80 und nimmt nur langsam zu. Mir fielen bei diesem Besuch dennoch die vielen neuen Gesichter auf: Solche aus der Zweiten Baptistengemeinde, die als Gründungshelfer gekommen waren, haben offensichtlich den Rückzug angetreten. Bei dieser Gemeinde läuft der Betrieb. Von den drei Gemeinden, die hier aufgezählt werden, kann nur Kartawenko nahezu vollamtlich als Pastor dienen.
3. Eine dritte Gemeinde blickt ebenfalls auf Wurzeln in der Zweiten Baptistengemeinde zurück: die von Jewgeni Bakhmutski gegründete “Russische Bibelkirche” (RBC). Z.Zt. versammelt sie sich im Hauptquartier der RUECB in der Warschawskoe Schosse. Hier werden die Blasinstrumente durch ein Cello ersetzt; die Musik bleibt modern aber zurückhaltend. Noch einmal rund 80 Mitglieder oder Freunde, doch viele weitere Teilnehmer und Gäste. Diese Gemeinde könnte den geringsten Altersdurchschnitt vorweisen – kaum Personen älter als 30 sowie eine große Anzahl Kinder. Doch ein aktives Mitglied insistiert: „Wir gehen älteren Menschen nicht aus dem Wege.“ Bakhmutski, der bis vor kurzem als Leiter der Jugendabteilung bei der RUECB fungierte, hat nicht wenige seiner Mitarbeiter aus seiner früheren Jugendarbeit rekrutiert.
Hier wird das gesprochene Wort betont; die eine Text auslegende Predigt gilt als Standardkost. Zumindest eine der beiden Predigten beansprucht 50 bis 60 Minuten; der gesamte Gottesdienst dauert mindestens zwei Stunden. Etwa im Stile der „Calvary Chapel“-Bewegung werden die Bücher der Bibel von vorne bis hinten durchpredigt. Die Bibel gilt als unfehlbar in allen Fragen - auch in ihren Äußerungen etwa zur Naturwissenschaft. Dabei ist die „Hinlänglichkeit (sufficiency) der Schrift“ ein theologischer Schlüsselbegriff.
Hier gibt es eine äußerst seltene Erscheinung: Diese Gemeinde hat mehr männliche als weibliche Mitglieder. Sie betont die männliche Führung und verfügt über vier ordinierte Pastoren. Ein Mitglied erinnert sich: „Vor Gründung der Gemeinde vor zwei Jahren verbrachte Bakhmutski ein Jahr damit, eine Kerngruppe von Männern und Frauen zuzurüsten.“ Auf Planung und Struktur wird geachtet; jedes Mitglied soll sich seiner Aufgabe und Funktion bewußt sein.
Im Gottesdienst wird Zeit für das Beten eingeräumt. Das Gebet für die Nation und deren Leiter wird durch das Gebet für Freunde und Verwandte ergänzt.
Die Gemeinden im Vergleich
Trotz aller Gemeinsamkeiten weichen Geschmack und Stil dieser drei Gemeinden voneinander ab. Bei der MCC ist die Musik am lautesten; bei der RBC am ruhigsten. „Deine Gemeinde“ gewährt Frauen am ehesten eine Chance, in die Leitungsebene aufzusteigen; die RBC betont die männliche Autorität. Leonid Kartawenko meint, seine Gemeinde verfüge über horizontale Leitungsstrukturen; die RBC bevorzugt die Führung durch ein Ältestenteam männlichen Geschlechts.
Alle drei verstehen sich ohne Abstriche als evangelikal; es läßt sich jedoch darüber streiten, welche Gemeinschaft am ehesten die traditionelle, russisch-baptistische Theologie verkörpere. Obgleich manche Aspekte der Lehre der RBC das historische Modell wiedergeben – eine betont nicht-charismatische Haltung z.B. -, weicht deren calvinistische Theologie vom klassischen Vorbild ab. Zumindest vertritt die RBC am ehesten die traditionelle Form.
Alle drei Gruppen erstreben einen „professionellen“, wohldurchdachten Gottesdienst. Das Elektronische, Visuelle und Internet werden ernstgenommen. Kartawenko berichtet, die Mehrheit der „Zuschauer“ würde den Gottesdienst im Internet erleben (www.yourchurch.ru). Die RBC (www.rbcerkov.ru) bietet ihre Predigten als MP3-Dateien an. Die Webseite der MCC (Church24.ru) ist am wenigsten vollständig, doch sie ist auch die jüngste dieser drei Gemeinden.
In allen drei Fällen geht die Versammlung mit dem „Amen“ nicht zu Ende. Das Sich Kennenlernen wird immer betont. Der „Imbiß“ bei Deiner Gemeinde reicht auch noch für das Mittag- und Abendessen. Alle drei nehmen das Angeln sehr ernst. Man will Menschen „von der Straße weg“ für Jesus gewinnen; bestehenden Gemeinden sollen die Mitglieder nicht abgeworben werden. Viele Neue haben orthodoxe Verbindungen. In Rußland ist die Straßenevangelisation weiterhin möglich: In der Woche nach dem 4. September 2011 las die RBC die gesamte Bibel in der Moskauer Fußgängerzone „Arbat“ vor. Alle drei Gemeinschaften bieten der Jugend verlockende Ausflüge an: Zu ihnen zählen Schiffsfahrten, Sommerlager, Englischlager und Picknicks. Ein Ausflug von Deiner Kirche bot sogar Fallschirmspringen an.
Keine dieser drei Gemeinden verfügt über das Wort “Baptist” in ihrem Namen, doch alle versichern, sie würden sich des Wortes „Baptist“ nicht schämen. Diese Gemeinden wollen inklusiv agieren – sie wollen auch solche Personen gewinnen und integrieren, die sich nicht als Baptisten verstehen können. Bakhmutski fügt hinzu, seine Gemeinde wolle auch mit neueren Gemeinden, die sich selbst nie als baptistisch bezeichnet haben, Partnerschaften eingehen. Nichtsdestotrotz werden alle drei Gemeinden von gegenwärtigen oder vergangenen Abteilungsleitern in der RUECB-Zentrale angeführt. Wlasenko ist Leiter der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen; Bakhmutski ist Erster Vizepräsident der Union. Kartawenko war bis Februar 2008 Abteilungsleiter für Mission; seitdem ist er mit dem einst baptistischen und heute evangeliumschristlichen Geschäftsmann Alexander Semtschenko liiert. Doch Deine Gemeinde bleibt Mitglied der RUECB.
Nicht wenige der Praktiken, die diese Gemeinden einzuführen versuchen, wurden bereits in den 90er Jahren von der charismatischen Bewegung vorgeführt: eine zeitgenössische Form der Anbetung, eine auf die Jugend bezogene Orientierung, dezentrale Leitungsformen. Eine vierte, sehr große charismatische Gemeinde, die „Evangelische Kirche Tuschino“, verfügte in der Vergangenheit (und Zukunft?) über starke, baptistische Verbindungen. (Siehe unsere Pressemitteilung vom 16. Oktober 2009.)
Dr.phil. William Yoder
Moskau, den 20. September 2011
Pressedienst der Russischen Evangelischen Allianz
Eine Veröffentlichung der Russischen Evangelischen Allianz. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine offizielle Meinung der Allianz-Leitung zu vertreten. Meldung Nr. 11-18, 1.291 Wörter oder 9.248 Schläge mit Leerzeichen.