Wie sehen Stereotypen aus?
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Ein belarussischer Charismatiker im Gespräch mit dem KGB
Kommentar
M o s k a u -- Die Ohren spitzten sich als Sergei Lukanin in einer Pressemeldung über seine Vorladung zum belarussischen KGB am 3. Juni berichtete. Lukanin (geb. 1970), ein ausgebildeter Jurist, ist Anwalt und Sprecher der über 1.000 Mitglieder zählenden charismatischen Gemeinde „Neues Leben“ in der Hauptstadt Minsk. Im vorletzten Absatz seiner Meldung vom 6. März (siehe „www.newlife.by“) stellt Lukanin die Frage, wann der KGB aufhören werde, die Charismatiker als Feinde zu betrachten. Daraufhin soll der KGB-Vertreter eingeräumt haben: „In der gegebenen Situation könnte es durchaus sein, daß auf beiden Seiten negative Stereotypen vorherrschen.“ Der Polizist stellte in Aussicht, daß Verhandlungen über einen landesweit bekannten Vermittler, der das Vertrauen beider Seiten genießt, eine Befriedung der Lage herbeiführen könnte. Da wollte ich in einem Gespräch mit Lukanin am 19. Juni unbedingt erfahren, wie die Stereotypen seitens der Kirchen aussehen. Könnte es sogar sein, daß beide Seiten endlich auf den berühmten „Reset-Knopf“ der Regierung Obama drücken wollen?
In seiner ausführlichen Antwort wies Lukanin darauf hin, daß seine Gemeinde weiterhin wie auf einer Insel lebe. „Neues Leben“, das sich in einem umgebauten, 2002 erworbenen Kuhstall am westlichen Rande der Stadt versammelt, muß weiterhin seinen eigenen Strom und seine eigene Heizung produzieren; ferner ist ihr Bankkonto gesperrt. Schon 2005 flatterte der erste staatliche Räumungsbefehl ins Haus; seitdem befindet sich die Gemeinde mit Kommune und Staat im Clinch.
Diese 1992 von dem 22-jährigen Wjatscheslaw Gontscharenko gegründete Gemeinde hatte sich damals vom Pfingstbund des Landes abgespalten. Diese neo-pfingstlerische bzw. charismatische Denomination verfügt heute über ein Netz von knapp 10 Gemeinden im ganzen Lande und nennt sich: „Gemeinschaft des vollen Evangeliums“. Sie behauptet, keinen einzigen, festen Partner im westlichen Ausland zu haben. Sie ist auf jeden Fall inhaltlich verbunden mit der in Riga beheimateten „Neue Generation“-Denomination des politisch weit rechts stehenden Pastors Alexei Ladjaew und der in Texas beheimateten “Full Gospel Fellowship of Churches and Ministers International”.
Laut Lukanin haben sich seit dem Tiefpunkt in den Jahren 2007-8 die Beziehungen zwischen Staat und charismatischer Bewegung entspannt. Heute sitzen keine protestantischen Geistlichen in Haft; Grundstücksteuern wurden Kirchen erlassen und mit einem Verbot der öffentlichen Werbung für die Hexerei erwies der Staat Entgegenkommen. Doch an den grundsätzlichen Problemen der Gemeinde „Neues Leben“ herrsche weiterhin Stillstand: „Seit diesem Gespräch mit dem KGB hat sich nichts geändert.“
Die Argumente der kirchlichen Verteidigung
Im Gespräch konnte Lukanin keinen einzigen Stereotyp seiner Kirche gegenüber den belarussischen Staatsvertretern nennen, allerdings erwähnte er einen gängigen Stereotyp gegenüber seiner eigenen Glaubensgemeinschaft. Auch in orthodoxen Kirchenkreisen werde behauptet, „Neues Leben“ habe aktiv den Konflikt mit dem Staat gesucht, um so zu internationalem Ruhm und zu internationaler Finanzierung zu gelangen.
Doch der Anwalt besteht darauf, daß seine Kirche nur auf Provokationen des Staates reagiere – sie selbst verhalte sich defensiv und unpolitisch; sie selbst initiiere keine Aktionen. Der Staat agiere, seine Kirche reagiere. Das schließt die These aus, beide Seiten würden sich im Konfliktfall durch eine endlose Kette von Reaktionen gegenseitig „hochschaukeln“. Laut Lukanin sei der Konflikt erst entstanden, als der Staat offensiv versuchte, ihre hart gewonnene kirchliche Immobilie wieder wegzunehmen. “Wir greifen den Staat nur an, wenn er gegen unsere verbrieften Rechte verstößt.“ Er berichtete, seine Kirche habe die Abhängigkeit der Gerichte von politischen Instanzen kritisiert. „Aber das ist ein klares Faktum, ein Dauerzustand“, versicherte er. „Wir stellten nur das fest, was völlig auf der Hand liegt.“
Streitfragen werden „vergeistlicht“. Lukanin sagte z.B.: „Unsere Motivation bestand darin, das Eigentum zu schützen, das Gott uns geschenkt hatte.“ Wenn Gott befiehlt, wird jegliche Zuwiderhandlung geistlicher Ungehorsam. So entziehen sich Charismatiker – und nicht nur sie – dem rationalen Gespräch über das Für-und-Wider der eigenen Verhaltensweisen.
Die Behauptung eigener Passivität kommt auch in der Verbündetenfrage vor. Auf den Einwurf, die Inanspruchnahme der Schützenhilfe der in Minsk ansässigen westlichen Botschaften untermauere den Verdacht, eine ferngesteuerte Größe westlichen Ursprungs zu sein, erwiderte der Jurist, man wähle die eigenen Freunde nicht aus. „Wir sind für alle Menschen guten Willens offen,“ versicherte er. Immer wieder hätten die Botschafter westlicher Staaten „Neues Leben“ ihre Aufwartung gemacht, „weil Gott ihre Herzen bewegte“. In einem Falle sei sogar eine Delegation der staatsnahen Jugendbewegung BSRM (Belarussische Republikanische Jugendunion) in diesem einzigartigen Kirchengebäude empfangen worden. Sergei Lukanin ist ein sympathischer Mensch – die Jugendlichen hat er schnell für sich gewonnen. Zum Wohle der Gemeinde nahm Lukanin die angebotene Spende von $20 US entgegen.
Wo es nach Agieren aussieht
Unterschriftensammlungen, der Hungerstreik der Gemeinde im Oktober 2006 und die öffentlichkeitswirksamen Auftritte des Kirchenjuristen bei internationalen Foren (OSZE in Rumänien, EU in Brüssel, Gipfeltreffen der Christdemokraten in Finnland z.B.) weisen auf aktives Handeln hin. Schließlich führt „Neues Leben“ die politische Opposition der Protestanten im Lande an. Sie tritt auch nicht nur in eigener Sache an die Öffentlichkeit. Im Gespräch am 19. Juni versicherte Lukanin: „Handelt der Staat den Gesetzen Gottes zuwider, übt er Gewalt gegen das Volk aus, handelt er ungerecht – dann ist die Kirche von Gott aufgerufen, die Sünde und den Sünder zu entlarven und anzuprangern.“
Im vergangenen Oktober unterschrieben Personen des öffentlichen Lebens eine Stellungnahme zur Unterstützung der Rechte der Gemeinde „Neues Leben“ in ihrem Rechtsstreit mit dem Staat. Lukanin behauptet, seine Gemeinde sei weder Mitglied noch Teilnehmerin bei der „Belarussischen Christlichen Demokratie“ – doch drei der sieben Unterzeichner dieses Schreibens sind aus dem Leitungskreis dieser Partei. Mit einem von ihnen, dem nach dem 19. Dezember inhaftierten Parteipräsidenten Witali Rymaschewski, ist Lukanin eng verbunden: „Ich unterstütze ihn und er ist ein Freund meiner Familie.“
Es könnte auf politische Unerfahrenheit zurückzuführen sein, daß manche Äußerungen dieser Christdemokraten nach Theokratie schmecken. In einem Interview der ukrainischen Charismatiker prognostizierte der protestantische Dissident Andrei Kim: „Belarus wird ein Land sein, in dem nicht der Mensch das höchste Gut sein wird – sondern Gott. Nicht die Willkür, sondern das Gesetz - das Gesetz Gottes - wird regieren.“
Im völligen Gegensatz etwa zu den registrierten Baptisten, die es vorziehen, ihre Differenzen mit dem Staat hinter den Kulissen auszutragen, geht „Neues Leben“ konfrontativ vor. Am 19. Juni berichtete Lukanin sogar von einem Machttransfer: Die angedrohte Beschlagnahme des Geländes durch die Miliz habe nie stattgefunden – auch wenn sich die Gemeinde dieser Maßnahme nicht mit Gewalt widersetzen würde. Der Beschluß der Gemeinde, keine staatlichen Amtsträger in staatlicher Mission in das Gebäude zu lassen, habe sie seit Jahren aufrechterhalten können. „Wir stellen fest: Gott nahm ihnen die Macht und gab sie uns. Wir haben Macht, weil wir wissen, daß wir das Recht auf unserer Seite haben. Die Wahrheit ist mit uns.“ Wer könnte dagegen bestehen?
Nicht wenige orthodoxe Beobachter stufen die Bedeutung der Gemeinde „Neues Leben“ bescheidener ein. Ein Minsker Gelehrter meinte, die sieben Unterzeichner des Briefes zugunsten der Gemeinde hätten sich mit ihrer Unterschrift die Chance verspielt, jemals wieder von Orthodoxen gewählt zu werden. Zu den Unterzeichnern zählt der seit dem 19. Dezember inhaftierte Oppositionspolitiker Andrei Sannikow. Doch schon die Vorstellung derartiger Folgen ist womöglich eine Überzeichnung der öffentlichen Bedeutung der Protestanten - schließlich stellen sie nicht mehr als ein Prozent der belarussischen Bevölkerung.
Ich denke, wenn der erhoffte, öffentlich noch unbenannte Vermittler den Reset-Knopf nicht erreicht, wird sich der Prozeß des sich gegenseitig Hochschaukelns fortsetzen. Wenn es nicht gelingt, den Computer auszuschalten und wieder hochzufahren, wird der gegenseitige Lernprozeß noch lange auf sich warten lassen.
Eine Anekdote am Rande
In Belarus befinden sich viele religiöse Bauten und Glaubensversammlungen in einem juristischen Niemandsland – offiziell illegal und dennoch geduldet. Doch in Minsk wird mindestens ein ungenehmigtes, protestantisches Gotteshaus auf den frei zu erwerbenden Stadtplänen eingezeichnet. In Rußland werden nicht einmal die genehmigten, protestantischen Bauten – Moskaus altehrwürdige „Zentrale Baptistengemeinde“ z.B. – auf den Stadtplänen angegeben. Doch vielleicht gibt es da hin und wieder eine Ausnahme.
Dr.phil. William Yoder
Moskau, den 28. Juni 2011
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