Alle auf ihrem Wege zu Gott unterstützen
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“Liberaler, säkularer Humanist” hält spannende Rede im orthodoxen Revier
M o s k a u – Am 25. Mai sorgte die Russisch-Orthodoxe Kirche für Aufsehen als sie einen ihrer langjährigen Kritiker, einen „liberalen, säkularen Humanisten“, einlud, auf der Jahreskonferenz des „Weltkonzils des Russischen Volkes“ in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale eine Rede zu halten. Obwohl sich der Politiker Leonid Gosman als einen Atheisten jüdischer Herkunft vorstellte, klang seine Rede eindeutig evangelisch. Dem Patriarchen Kirill zugewandt sagte er am Anfang der Rede: Allein die Tatsache, daß Sie einen Menschen meiner Überzeugung eingeladen haben, „ist ein überzeugendes Indiz Ihres Wunsches, die Nation unabhängig von allen Ethnizitäten und religiösen Beziehungen zu einigen“.
Mit einem Hinweis auf ethnische Auseinandersetzungen und das Verstümmeln von Wehrpflichtigen rief Gosman die Orthodoxie dazu auf, sich auf die Seite der Unterdrückten zu schlagen im Kampf gegen „die Härte und Ungerechtigkeit der Staatsmaschinerie“. Solche, die sich in einem Kampf ums Überleben befinden, sollten sich gewiß sein, „daß die gesamte Kirche, vom Ortspriester bis hinauf zum Patriarchen, für sie, und nicht gegen sie, eintritt.“ Rundheraus fragte er den Patriarchen: „Wie steht die Kirche zu den zahllosen Palästen und Yachten der Staatselite?“
Der Politiker trug den Traum einer selbstlosen Kirche vor, die nicht für sich, sondern für die Freiheit aller kämpfe. Statt sich für den Erhalt
des eigenen kanonischen Territoriums zu streiten, sollte die Kirche lieber die Gewissensfreiheit verteidigen. Die Kirche sollte „aufhören, zwischen traditionellen und nichttraditionellen
Religionen zu unterscheiden, sondern vielmehr alle auf ihrem Wege zu Gott unterstützen, unabhängig von der Kirchentür an der die Suche endet“.
Die Orthodoxie genießt nahezu unanfechtbares Ansehen im russischen Volk und Gosman vertritt die Auffassung, sie könne es sich erlauben, sich von jeglichem Anschein einer eigennützigen Kriecherei gegenüber dem Staat fernzuhalten. Wenn Kirchenvertreter „tatsächlich an Gott glaubten und nicht nur ihren Glauben verträten, würden sie auf ihre Dankesreden an die Staatsvertreter für die Rückgabe von restaurierten Kirchen verzichten und statt dessen Korruption und Luxus, Heuchelei und Lüge anprangern.“
Nur im Falle einer staatsfreien Orthodoxie könne die Entscheidung des Einzelnen für oder gegen eine Glaubensrichtung wahrlich frei und bedeutungsvoll sein. Seine Abscheu bezüglich einer Staatsreligion und einer staatlich unterstützen Ideologie brachte er zum Ausdruck. Nichtsdestotrotz trat er für die „evangelischen Prinzipien“ ein – ein recht ungewöhnlicher Terminus in russischen Ohren. Sie seien eine altbewährte „moralische Grundlage für Gläubige sowie Ungläubige“.
Pastor Witali Wlasenko, Leiter für kirchliche Außenbeziehungen bei der „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“, wohnte dieser
Versammlung bei. Von der Rede Gosmans zeigte er sich begeistert: „Sie war mit Abstand die beste aller Reden.“ Die Erwartungen dieses oppositionellen Politikers mögen utopisch sein, es sei dennoch
„ein ermutigendes Zeichen des Pluralismus wenn sich die ROK der Rede eines solchen Menschen bei einer führenden, öffentlichen Veranstaltung erlaubt“.
Der 1950 geborene Leonid Gosman könnte selbst den Verlockungen der Macht und des Reichtums erliegen. Demnächst soll der Milliardär und Unternehmer Michail Prochorow seiner pro-kapitalistischen Partei der Mittelklasse, der 2009 gegründeten „Rechten Sache“, beitreten.
Namentlich unerwähnt kamen auch die russischen Protestanten in den Schilderungen Gosmans vor. Der Politiker geißelte die staatlichen Maßnahmen gegenüber den Öko-Grünen, die sich gegen die Zerstörung des Chimker Waldes nördlich von Moskau einsetzen. Wir berichteten im vergangenen August darüber, daß es die Firma des Evangeliumschristen und ehemaligen Baptisten Alexander Semtschenko sei, die eine Schneise durch den Wald zum Bau einer Mautautobahn schlägt. Semtschenkos eigene Sicherheitsleute führen gemeinsam mit der Staatspolizei einen „Krieg geringer Intensität“ mit den linken Ökologen.
Das 1993 geschaffene „Weltkonzil des Russischen Volkes“ versteht sich als Forum für den Austausch über Stand und Zukunft der russischen Gesellschaft auf höchster Ebene. Gosmans Rede ist nachzulesen auf dessen russischsprachiger Webseite: „vrns.ru“.
Dr.phil. William Yoder
Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen der RUECB
Berlin, den 30. Mai 2011
Eine Veröffentlichung der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen bei der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten. Zur Veröffentlichung freigegeben. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine einheitliche, offizielle Position der Unionsleitung zu vertreten. Meldung Nr. 11-10, 574 Wörter oder 4.280 Schläge mit Leerzeichen.