Vorsprung oder Krise?
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Die russische Sehnsucht nach dem christlichen Staat
M o s k a u -- Rußland sei „bereits der beste Teil Europas, und wir bieten ihm auch die hellste Zukunft an“. Das behauptete der bekannte orthodoxe Erzpriester Wsewolod Tschaplin, Vorsitzender der „Synodalen Abteilung für die gegenseitigen Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft“, Anfang April in der Fernsehsendung „Duell“ des Senders „Rossija I“. Nach seiner Überzeugung lasse sich der Westen, einschließlich der USA, nur noch als nachchristlich bezeichnen. Der Westen stelle sogar das gottloseste aller Systeme dar; an der Gottlosigkeit seien „der Kommunismus und Nazismus zusammengebrochen“. An ihm werde auch der Kapitalismus zusammenbrechen. Rußland könne das werden, was der Westen nicht mehr sei.
Bei einer internationalen Moskauer Konferenz über die „Verantwortung der Christen für das irdische Vaterland“ am 8. April fügte Tschaplin hinzu, im christlichen Volke Rußlands entstehe eine „besondere moralische Mission“, die sich in einem „Aufruf zur gesellschaftsumfassenden Bescheidenheit, Selbstbeschränkung und zum Konsumverzicht“ äußert. Den westlichen Völkern sei man bereits voraus: Schon heute sei ein Drittel der russischen Bevölkerung „praktizierende (orthodoxe) Christen“; die Mehrheit sei auf höhere, übernatürliche Werte ausgerichtet. Die christliche Erziehung des Volkes habe schon jetzt dazu geführt, daß eine bedeutende Mehrheit „Geld und das Eigeninteresse“ als Lebensinhalt ablehnt.
Nach Tschaplins Überzeugung kehre das alte Vorbild eines christlichen Rußlands wieder: „Es ist heute offensichtlich, daß Volk und Kirche eins sind.“ „Das russische Volk wird wieder zu einem christlichen Volk, zur Heiligen (Kiewer) Rus werden, völlig unabhängig davon, ob das anderen gefällt oder nicht.“ Auf dieser Moskauer Tagung hob ein anderer Redner das Vorbild der „theozentrischen“ Gesellschaft hervor.
Diesen „theozentrischen“ Ansatz läßt sich auch in gesellschaftlich offenen Kreisen des Protestantismus (Charismatiker und manche Baptisten z.B.) orten, die im Einsatz um die „traditionellen christlichen Werte“ eine gemeinsame Basis für das Zusammenwirken mit der Orthodoxie erkennen. Die Orthodoxie und diese Protestanten treten auch für eine Art der „civil religion“ ein, die das Zusammenwirken von Christen, Juden und Muslimen zur Verteidigung der bewährten moralischen Werte bejahen.
Doch in der Wertung der russischen Vergangenheit und Gegenwart klaffen die Ansichten von Protestanten und konservativen Orthodoxen auseinander. Bei seinem Vortrag in einer Moskauer Oberschule am 11. April berichtete Juri Sipko, der ehemalige Präsident der „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“, anstelle eines moralischen Vorsprungs von einer tiefsitzenden Krise der russischen Gesellschaft.
Noch gebe es keine Aufarbeitung der Geschichte der Sowjetära, stellte Sipko fest. „Noch fehlt uns ein Verständnis für das, was wir wirklich sind.“ Völlig im Gegensatz zu Tschaplin beschrieb der Baptist die russische Gesellschaft als „unreif“: Zwischen den vielen Ethnien und nationalen Gruppierungen gebe es „keine Konsolidierung, keine gemeinsamen Werte und Ziele“. Zwischen den Nationen bestünde „kein gegenseitiges Verständnis - wir sind ökonomisch und sozial stratifiziert:“
Auch die Rolle der Großkirche beschreib er als verhängnisvoll: „Die Tragik des Christentums besteht darin, daß sie das Vorherrschen der Lüge in unserer Gesellschaft hingenommen hat.“ Es herrsche der Eindruck vor, „daß wir uns Christentum und Kirche nur vormachen“. Das führe zu Mißtrauen und Zynismus bei unseren Kindern. Die Erneuerung könne erst dann eintreffen, „wenn wir uns eingestehen, daß wir krank sind“.
Zu diesen Äußerungen des Wsewolod Tschaplin schrieb Alexander Negrow, Rektor der protestantischen „Christlichen Universität St. Petersburg“: „Natürlich stimme ich der Vorstellung zu, daß es ohne einen aktuellen Glauben an Christus, eine lichte Zukunft weder für den Einzelnen noch für die Nation geben wird.“ Er lehnte jedoch die von Tschaplin angedeutete Vorstellung, daß sich Moskau nochmals zum „dritten Rom“ (nach Rom und Konstantinopel) aufschwingen könnte, ab. „Rußland wird in geistlicher Hinsicht nicht der beste Teil Europas werden – das könnte man höchstens aus propagandistischen Gründen behaupten.“
Die genannte Konferenz am 8. April wohnten auch drei christlich-demokratische Politiker aus den Niederlanden bei. Orthodoxe – sowie manche charismatischen Kräfte und der evangeliums-christliche Bischof Alexander Semtschenko – pflegen den Kontakt mit christlich-demokratischen Kräften in Westeuropa. Die Moskauer Anwältin Katja Smyslowa, eine Hauptorganisatorin dieser Konferenz, wechselte Anfang 2010 von der baptistischen zur orthodoxen Konfession über.
Andere Informationen
In wundervoller Weise überlebte der Charismatiker Igor Tumasch, ein Mitglied der großen, Minsker Gemeinde „Neues Leben“, den verheerenden Bombenanschlag auf die U-Bahn-Station „Oktjabrskaja“ am 11. April. Der Anschlag kostete neben vielen Verletzten 13 Menschen das Leben. Er erzählte: „Ich war nur fünf Meter von der Detonation entfernt und spürte die mächtige Druckwelle. Ich war mit Blut beschmiert, doch später stellte es sich heraus, daß es sich um fremdes Blut handelte.“ Auch seine Gemeinde befaßt sich übrigens mit der christlich-demokratischen Politik – Tumasch war unterwegs zur einer Gemeindestunde zum Thema „Wir retten die Nation.“ Der Jurist dieser sich in einem ehemaligen Kuhstall beheimateten Gemeinde, Sergei Lukanin, hatte sich nur 15 Minuten vor der Explosion samt Familie auf diesem Bahnsteig aufgehalten.
In meiner Meldung vom 5. April über die „Euro-Asiatische Föderation gab ich fälschlicherweise an, daß ihre große Konferenz am 28. und 29. Oktober in Kiew stattfindet. Richtig sind der 18. und 19. Oktober, obgleich diese Tage in der Wochenmitte liegen.
Dr.phil. William Yoder
Berlin, den 18. April 2011
Pressedienst der Russischen Evangelischen
Allianz
Eine Veröffentlichung der Russischen Evangelischen Allianz. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine offizielle Meinung der Allianz-Leitung zu vertreten.
Meldung Nr. 11-06, 782 Wörter oder 5.746 Schläge mit Leerzeichen.
Anmerkung von Juli 2020: Tschaplin war offensichtlich zu umstritten für Teile der orthodoxen Hierarchie. Im Dezember 2015 hat ihn die Heilige Synode von den meisten seiner Ämter abberufen. Erst 1968 geboren, verstarb er unerwartet am 26. Januar 2020.