Die Wehen des Erfolgs
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Sind russische Reha-Dienste zu erfolgreich?
M o s k a u – Wer die baptistischen, charismatischen oder pfingstlerischen Gemeinden Westsibiriens besucht, sieht meistens eine Reihe schweigender Männer ohne Anhang im Alter zwischen 20 und 50 Jahren. Das sind ehemalige Drogenabhängige und Häftlinge, die dabei sind, ihren Weg zu Christus zu finden. Es wird behauptet, nahezu alle westsibirischen, baptistischen Gemeinden beteiligten sich an diesem Dienst.
Die Reha-Zentren, die mit der charismatischen „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“ (ROSKhWE) liiert sind, berichten von 12.000 langfristig gelungenen „Fällen“ im Zeitraum 1995 bis 2005. Nimmt man die Baptisten und Pfingstler hinzu, müßte die Gesamtzahl in diesem Zeitraum 20.000 übersteigen. (Unter dem ROSKhWE-Schirm versammeln sich mehr als 300.000 Gläubige.) ROSKhWE vertritt 350 Reha-Zentren auf russischem Boden; ihre Zentren können gleichzeitig 7.000 Klienten versorgen.
Der baptistische, in Sankt Petersburg beheimatete Reha-Dienst “Dobri Samarjatin” (Der Gute Samariter) berichtet davon, daß allein in einem Sektor der Region Nowosibirsk 600 seiner Klienten die Abhängigkeit endgültig besiegt hätten. Im Raum Sankt Petersburgs hätten im Sommer 2008 unter den eigenen Absolventen 13 Eheschließungen stattgefunden. In der evangelischen Zeitschrift „Mirt“ behauptet der Petersburger Mikhail Newolin: „Heute weist kein Bereich protestantischer Diakone derartige Erfolgsraten wie die der Drogenrehabilitierung auf.“
Doch gleichzeitig schreibt Newolin in diesem Aufsatz vom 30. Januar 2010, daß „jede Medaille auch eine Kehrseite hat“. Der Ansturm Neubekehrter „verändert die soziale Zusammensetzung“ protestantischer Gemeinden. Strafentlassene oder ehemalige Drogenabhängige verfügten über viel Zeit. „Viele sind einsam und haben keinerlei Aussichten auf eine Arbeitsstelle. Deshalb können sie für die Gemeinde überdurchschnittlich viel Zeit aufbringen.“ Newolin fügt hastig hinzu, daß ehemalige Drogenabhängige in protestantischen Gemeinden höchst willkommen seien – sie stünden nur in der Gefahr, die Vielfalt der Herde zu zerstören. „Im Normalfall sollten Gemeinden die generelle, soziale Zusammensetzung der Gesellschaft widerspiegeln.“ Er räumt ein, daß Tendenzgemeinden, die auf ein spezifisches Publikum zielen, ihren Platz hätten. Sie dürften jedoch nicht zum Regelfall werden.
Newolin fürchtet, die Welle der Neubekehrten könnte einen Schneeball-Effekt auslösen. Die Vielfalt werde nicht alleine durch den Einzug der Neuen gefährdet, sondern ebenfalls durch den darauffolgenden Auszug der „ganz normalen Leute, die niemals mit (ehemaligen) Drogenabhängigen und Gesetzesbrechern zu tun hatten“. Eine Gemeinde werde nicht vergrößert, sondern ausgetauscht. Wo stecken die Bekehrten aus der Mittelschicht, fragt der Autor. „Bedürfen sie des Evangeliums weniger als andere?“ Damit weist er auf ein Dilemma hin, das so alt ist wie das Christentum selbst. Wenn zum Glauben an Christus eingeladen wird, sind es in der Regel nicht die begehrtesten Kandidaten, die Schicht der Erfolgreichen und Vermögenden, die zuerst reagieren.
Mikhail Newolin erkennt dieselbe „Gefahr“ in den Seminaren und Bibelschulen. Wegen Bewerbermangels seien theologische Ausbildungsstätten außerstande, bei der Zulassung zum Studium oder Unterricht wählerisch vorzugehen. Im allgemeinen „reißen sich unsere jungen Leute nicht darum, Pastoren, Missionare oder Theologen zu werden“. Das hängt u.a. mit dem Mangel an bezahlten Stellenangeboten zusammen. Nichtsdestotrotz seien Strafentlassene und ehemalige Drogenabhängige durchaus bereit, einem Theologiestudium nachzugehen.. Viele hätten noch keine konkreten Vorstellungen für ihr weiteres Leben und seien flexibel. Sie stellten wenigere Forderungen, seien geographisch mobil und nicht durch familiäre Rücksichtnahmen behindert. (Sie neigen auch seltener zur Emigration.) Newolin fügt hinzu: „Wer studiert, wird gleichzeitig mit Brot und Obdach versorgt.“
Etwa im Stile der „Teen Challenge“-Bewegung des David Wilkerson bemüht sich die charismatische, in Krasnodar beheimate Mission „Iskhod“ (Ausgang oder Auszug) um die Gründung von Gemeinden, die vor allem aus den eigenen, ehemaligen Drogensüchtigen bestehen. Diese jungen Gemeinden weisen sehr hierarchische Strukturen und ein untypisches Verhalten auf, das auf eine Verwurzelung in der Drogenkultur hindeutet. Sie belegen die These des Professors Wladimir Lasarew von der Moskauer „Russischen Akademie der Naturwissenschaften“: „Drogenabhängigkeit ist mehr als nur eine krankhafte Leidenschaft. Sie ist auch ein Lebensstil, eine Subkultur mit ihren eigenen Symbolen, ihrer eigenen Sprache, ihren eigenen Werten und Verhaltensnormen.“
Die allgemeinen Ziffern
Russische Wissenschaftler beschreiben den Drogenmißbrauch als eine der drei Hauptgefahren, denen die heutige Zivilisation gegenüber stehe. Die anderen beiden seien der Atomtod und der Ökogau. Studien berichteten von zwischen zwei und vier Millionen Drogensüchtigen unter der russischen Bevölkerung von 142 Millionen. Damit kommt man auf höchstens 2,8% der Bevölkerung. Eine Studie von 2008 berichtet von „nur“ 2,5 Millionen Süchtigen mit einer jährlichen Todesfallrate von 30.000. Rund 18% von ihnen suchen ein Reha-Zentrum auf – 500 dieser Zentren werden von Protestanten betrieben.
Evangelische Rehaprogramme verfügen weder über medizinische Expertise noch Medikamente. Die Klienten erhalten statt dessen starkdosierte Mengen an Bibel, Gebet, Beichte und Gemeinenschuft – meistens bereits vom ersten Tag an. Der größte protestantische Dienst, die charismatische Mission „Nowaja Zhisn“ (Neues Leben), verfügt über ein Zentrum mit fast 400 Klienten im Gebiet Kingisepp unweit der Grenze zu Estland. Das übliche Zentrum verfügt jedoch über 15 bis 20 Klienten und befindet sich in einem Wohnhaus in einem abgelegenen Dorf. Das Mitempfinden und die persönliche Beziehung zu den Klienten wird groß geschrieben; alle 40 Zentren der „Guten Samariter“ werden von ehemaligen Drogenabhängigen geleitet. Die Therapie wird meistens auf einen Zeitraum zwischen sechs Monaten und einem Jahr angelegt; die längsten Programme können zwei oder drei Jahre beanspruchen. Der Gute Samariter räumt ein, daß die Hälfte der Aufgenommenen vorzeitig aus dem Therapieprogramm ausscheidet. Doch 60% der Klienten, die das Programm absolviert haben, gelingt es, den Drogenmißbrauch langfristig zu überwinden. So kommt man auf eine Erfolgsrate von 30% bezogen auf alle Therapieanfänger. Christliche Quellen behaupten, staatliche Einrichtungen in Ost und West, die auf den medikamentösen Entzug setzen, würden langfristige Erfolgsraten von rund 2% aufweisen.
Der Aufenthalt in einem protestantischen Reha-Zentrum ist in der Regel kostenlos. ROSKhWE-Bischof Sergei Rjakhowski gibt an, daß 90% aller Aufenthaltskosten von den Missionen und Gemeinden selbst getragen werden. Ein gewisser, geringer Prozentsatz wird durch die körperliche Arbeit der Klienten vor Ort gedeckt. Staatliche Hilfe kommt vor, sie läßt sich jedoch als minimal bezeichnen. Rjakhowski meint, kirchliche Programme würden eher gegen als mit den Ortsbehörden durchgeführt.
Die Bemühungen dieser Anti-Drogen-Initiativen sind nicht auf Reha-Zentren beschränkt. Da Anti-Drogen-Aktivisten dem Geschäft schaden, erlitt ein Iskhod-Mitarbeiter im Süden Moskaus kürzlich Zahnenverlust und einen gebrochenen Kiefer als er in einem Verkaufsrevier für illegale Drogen Visitenkarten verteilte. ROSKhWE protestierte gegen das Treiben einer Apotheke an der U-Bahn-Station Petrowsko-Rasumowskaja im Norden der Stadt, die immer wieder neue, todbringende Gifte für die russische Jugend zusammenrührte. Die Behörden reagierten und machten den gutgehenden Laden dicht.
Die Reaktionen auf die protestantische Drogenbekämpfung verlaufen querbeet. Ein säkularer Wissenschaftlicher nannte die Arbeit des Zentrums von Neues Leben im Gebiet Kingisepp „auf einer Stufe mit den allerbesten russischen Zentren zur Behandlung von Drogensüchtigen“. Neues Leben-Direktor, Sergei Matewosjan, wurde im Oktober 2005 in den Kreml gerufen, wo er in einer Feierstunde einen Orden aus der Hand des damaligen Präsidenten Wladimir Putin entgegennahm. Doch zwei Jahre später gab der Priester Maxim Pletnew, der in Sankt Petersburg ein orthodoxes Reha-Zentrum betreibt, zu Protokoll, daß protestantische Reha-Zentren nur eine Sucht durch eine zweite ersetzten. „Vielleicht retten sie Leute von Drogen,“ räumte er ein. „Doch danach weisen sie eine Abhängigkeit von der Sekte auf, die einer chemischen Abhängigkeit gleichkommt.“
In den beiden Jahrzehnten seit dem Fall des Kommunismus hat sich das um politischen Einfluß strebende Moskauer Patriarchat an die Spitzen der russischen Gesellschaft gewandt – die Schicht der Erfolgreichen und Vermögenden. Diese Prioritätenstellung schaffte den Protestanten Raum, sich um die Menschen am anderen Ende der Gesellschaft – erst recht im nichteuropäischen Rußland – zu kümmern. (Doch Professor Lasarew nennt die Annahme, daß Drogensüchtige notwendigerweise aus den unteren Gesellschaftsschichten und aus zerbrochenen Familien stammen, eine Stereotype.)
Besteht tatsächlich, wie Pletnew andeutet, eine Indoktrinationsgefahr seitens der Protestanten? Wird verzweifelten Menschen unfreiwillig eine ganz bestimmte Weltanschauung aufgedrückt? Findet eine Art Gehirnwäsche statt? An welcher Stelle gerät der Klient in Gefahr, den freien Willen zu verlieren? Kann nur das gesamte Paket angenommen werden, oder kann ein Klient ein protestantisches Programm erfolgreich abschließen bei gleichzeitiger Wahrung seiner orthodoxen, muslimischen oder atheistischen Identität? Trägt das Reha-Zentrum manchmal eine Mitschuld wenn Drogensüchtige vorzeitig aussteigen? Dr. Alexander Negrow, Rektor der “Christlichen Universität Sankt Petersburg”, berichtet von einer womöglich bedenklichen Praxis, Phasen starker Versuchung mit non-stop, endlosem Bibellesen zu überwinden. Der theologische Inhalt protestantischer Therapieprogramme ist bisher kaum untersucht worden. Wären Sponsoren vorhanden, würde Negrow damit anfangen.
Dr.phil. William Yoder
Moskau, den 29. Dezember 2010
Pressedienst der Russischen Evangelischen
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