Den Radar unterfliegen
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Russische Protestanten und die finanzielle Frage
Kommentar
M o s k a u – Nach einem Gespräch mit 60 Moskauer Jugendlichen vor zwei Jahren zog John Riley, ein in Arizona wohnender Mitarbeiter der „Crown Financial Ministries” das Fazit, daß auch die baptistische Jugend Rußlands vom Geist des Materialismus und Konsumerismus ergriffen sei. „Alle wünschten sich iPhones und Autos; alle sehnten sich nach dem schönen Leben, das ihnen die Neureichen vormachen.“ Bei einem Interview im Moskauer Theologieseminar am 15. Oktober 2010 berichtete er, die Reklame westlichen Ursprungs habe nachhaltige Erfolge erzielt beim Versuch, künstliche Bedürfnisse unter Russen zu erzeugen.
Phil LaBarbera, ein zweiter in Arizona beheimateter Pastor, der auf diesem Seminar referierte, vermutet, daß Russen vielleicht noch entschiedener als Amerikaner darauf aus seien, Wohlstand vorzugaukeln. „Dennoch haben jene Amerikaner und Russen, die darum bemüht sind, ihren Reichtum vorzuführen, meistens keinen. Sie stellen sich als etwas dar, das sie gar nicht sind. Aber ich kenne zuhause auch äußerst vermögende Leute, die in Jeans und T-Shirts durch die Gegend laufen. Das können sie sich leisten, weil sie in Christus ihre Identität gefunden haben, nicht in ihrem Besitz.“
Anatoli Musijenko, ein in Kiew wohnender Mitarbeiter von Crown, fügte hinzu, daß auch die meisten Pastoren außerstande seien, die Jugend über den Konsumerismus aufzuklären. Ihre eigenen Finanzen sind oft nicht weniger ungeregelt und unbedacht als jene der Laien. Auch sie hätten mit unbeglichenen Schulden zu kämpfen. Gemeindeleitende Personen hätten noch nicht damit begonnen, die finanziellen Prinzipien der Bibel zu propagieren. Zu Zeiten des Kommunismus – in der Zeit von Gütermangel and „Zwangsersparnissen“ - seien die ökonomischen Versuchungen viel geringer ausgefallen.
LaBarbera merkte an, daß der russische Baptismus beachtliche Schutzwälle gegen Alkoholmißbrauch und sexuelle Freizügigkeit aufgebaut hätte. Doch die Versuchung des Materialismus „unterfliegt den Radar“ baptistischer Sitten und Gebräuche. Pastoren hätten Angst, „sich mit Bestimmtheit über etwas zu äußern, das sie selbst noch gar nicht beherrschen“. Nichtsdestotrotz präge unser finanzielles Gebaren in einem erheblichen Maße unser christliches Zeugnis. Ein Darlehensausfall oder Konkurs mache auf die uns beobachtende Umwelt einen äußerst negativen Eindruck.
Auf den Geldverleih ist die Mission Crown nicht gut zu sprechen. Kredite – sogar für ein unternehmerisches Unterfangen – sollten nur dann aufgenommen werden wenn ausreichende Puffer vorhanden ist. LaBarbera warnte: “Kaufe niemals heute in Erwartung einer künftigen Gehaltserhöhung. Die eigene Familie darf man niemals gefährden.“ Ungetilgte Schulden seien eine Form der Sklaverei; sie beeinträchtigten das Glück christlicher Familien. Er schlug vor: „Immer wenn Sie etwas ersteigern wollen, das mehr als $100 kostet: Beten Sie gemeinsam mit der Gattin darüber, und dann warten Sie noch 30 Tage.“ Privatdarlehen seien besonders heimtückisch, denn sie schafften sofortigen Zugang zu heißersehnten Konsumgütern.
Crown Financial Ministries nimmt keine Kredite auf und tritt in Aktion erst nachdem Spenden in ausreichendem Umfang vorhanden sind. Das macht sie in starkem Maße vom Auf-und-Ab des kapitalistischen Konjunkturzyklus unabhängig. Auf ihrer Webseite (“www.crown.org” oder “www.crown.org.ua” auf Russisch) ist nachzulesen: „Crown vertritt die Auffassung, Gott könne auch durch das Gewähren – oder Fehlen – von Geldern führen.“ Die Aufnahme von Krediten könnte den göttlichen Plan zur Verwirklichung unserer Hoffnungen erheblich verzerren.
Die Vortragenden wiesen darauf hin, daß die von Rick Warren geführte „Saddleback Church“ im Bundesstaat Kalifornien auf die Schuldenfreiheit großen Wert lege. Seine Gemeinde baute ihr erstes Gotteshaus nachdem sie eine Mitgliederzahl von 15.000 erreicht hatte. Den Gästen fiel es nicht leicht, die Notwendigkeit raschen Kirchenbaus im osteuropäischen Raum einzusehen. Dabei wiesen sie darauf hin, daß schon die Urkirche in den Katakomben Roms gedieh. John Riley warnte: „Satan kann die Begeisterung, die wir für ein neues Bauvorhaben verspüren, später in einer niemals geahnten Art und Weise mißbrauchen.“
Zuhörer protestierten mit einem Hinweis darauf, daß das politische Klima Rußlands ein völlig anderes sei: Hier seien Baptisten in der Regal als Sektierer verschrien. Es bestehen Fälle, in denen Gotteshäuser für Gemeinden mit nicht einmal 15 Mitgliedern gebaut worden sind. In Belarus, z.B. sind religiöse Begegnungen außerhalb von Räumlichkeiten, die offiziell dafür vorgesehen sind, untersagt.
Ein weltumspannendes Thema, das bei den Diskussionen am 15. Oktober angeschnitten worden ist, ist die Korruption. Phil LaBarbera meinte in einem Gespräch, ein Vater sündige nicht, wenn er durch Bestechung seiner erkrankten Tochter eine medizinische Behandlung verschaffe. „Der Mann ist genauso wenig ein Sünder wie der Sklave, der für sein Sklavensein verantwortlich sein soll. Es ist keine Sünde, wenn man durch Unterdrückung zu einer Bestechungszahlung genötigt wird. Doch eine solche Zahlung, nur um einem selber aus Bequemlichkeitsgründen eine Abkürzung zu verschaffen, ist schon viel problematischer.“
Es sei ferner ebenfalls äußerst bedenklich, wenn die Zahlung oder das Gehalt für eine Dienstleistung den tatsächlichen Wert der Leistung übersteigt. Dann erwarte der Zahlende meistens eine besondere Gegenleistung – das Verschweigen fragwürdiger Praktiken z.B. In solchen Fällen ist die Bestechung eindeutig.
LaBarbera fügte hinzu, daß unsere Mitverantwortung bei der Erforschung von Spendenquellen begrenzt sei. Wenn ihm persönlich klar sei, daß eine Spende aus einem Lottogewinn stamme, gebe er sie an den Spender zurück. Das Gleiche gelte für Scheinspenden, die nur zwecks Umgehung von Steuerzahlungen gewährt werden. „Manche Dinge sind eben immer verwerflich.“ Doch wenn ein sehr vermögender russischer Christ jemandem einen angemessenen Betrag für eine konkrete Leistung zahlt, brauche sich der Empfangende nicht gleich schuldig zu fühlen, denn die genaue Quelle des gewährten Geldes könne er nicht kennen. Gott allein kenne die Gedanken und Sinne des Herzens. „Wir dürfen uns nicht an seine Stelle setzen.“ Vieles lasse sich nur aus einer konkreten Situation heraus beurteilen. Nach seiner Bekehrung spendete Zachäus viele der Gelder, die er in einer bösen und ungerechten Weise ergattert hatte. „Wer kann mit Sicherheit behaupten, daß das Herz eines Spenders nicht verändert worden ist? Wir Menschen können so etwas nicht beschließen.“
Wir sollten verantwortungsvoll spenden; doch wir haben nur eine begrenzte Verantwortung, die Verwendung der von uns gewährten Spenden zu
erforschen. Denn der Segen, der den Spender empfängt, geschieht just in dem Augenblick, in dem die Spende den Besitzer wechselt. Riley fragte: „Wenn ich einem Obdachlosen fünf Dollar gebe – bin
ich dann moralisch verpflichtet, ihm 30 Tage lang hinterher zu laufen um sicherzustellen, daß er mit ihr keinen Wodka erwirbt?“ Doch in einem eindeutigen Fall, in dem die Person nach Alkohol
riecht, solle man ihr lieber einen Laib Brot kaufen. Riley beklagte, daß auch viele russische Gläubige den Verdacht auf Mißbrauch nutzten als Ausrede, um Bettler völlig leer ausgehen zu lassen.
Doch damit vergäben Gläubige die Chance, einen großartigen Segen zu empfangen. Die Hauptfrage dabei bleibe unsere eigene Einstellung, unsere eigene Großzügigkeit, versicherte die
Crown-Mannschaft. Der Segen ist immer größer für den Spendenden; letztlich gehe es um das Heil des Gebers wenn eine Spende gewährt wird. Die Hauptfrage sei der Geber selbst.
Großzügigkeit ist der Schlüssel
Großzügigkeit ist ein Lebensstil, meinte John Riley. „Die Großzügigkeit wird Ihre Einstellung zur eigenen Armut verwandeln. Sie wirkt ansteckend. Sie nimmt uns die Fokussierung auf uns selbst.“ Das „Wohlstandsevangelium“ nannte er eine Verzerrung, denn es gehe davon aus, der göttliche Segen werde stets materieller Art sein. „Doch der Lohn wird größtenteils aus Frieden und Freude bestehen.“
Er kritisierte ebenfalls das „reaktive Spenden“ – das Spenden als Antwort auf ein konkretes Bedürfnis – als etwas von nur kurzfristiger Dauer. Nach einer Aktion mit intensivem Werben für ein konkretes Projekt – den Bau eines neuen Gebäudes z.B. – gehe das Spenden schnell auf das alte, bescheidene Niveau zurück. Doch das Hochhalten der Großzügigkeit in der Verkündigung eines Pastors habe langfristige Auswirkungen und mache sogar das Aufstellen eines verläßlichen Gemeindebudgets möglich. „Lehren wir einfach die Wahrheit“, betonte er. „Gott wird die Gemeinde wässern wenn der Pastor die Großzügigkeit predigt.“
Trotz der offensichtlichen Gefahr von Gesetzlichkeit sieht Riley im Zehnten einen Grundstein christlicher Existenz. Wer den Zehnten verwerfe, zeige, daß er nicht an die Fürsorge Gottes glaube. Dabei sei auch die innere Haltung wichtig. Er berichtete: „In der Kirche haben wir stets das Gefühl der Knappheit. Doch Gottes Weg ist anders. Sein Weg besteht aus Freude und Feiern.” In der Bibel wurden die Zehnten als Ausdruck von Freude feierlich zum Altar gebracht. Dieses Feiern fand im Gemeinderahmen statt.
Riley beklagte das rasche Anwachsen überkonfessioneller Organisationen und meinte, sie hätten zur Vernichtung der Ortsgemeinde als beschlußfähige Kommunität beigetragen. Gemeinderäte seien heute nicht mehr imstande zu entscheiden, wie Spenden zur Linderung örtlicher und internationaler Bedürfnisse einzusetzen sind. Überkonfessionelle Organisationen hätten diese Aufgabe an sich gerissen. In anderen Worten: Der Spender mutet es seinem Gemeindevorstand nicht mehr zu, über die Verwendung von Spenden zu entscheiden. Er/Sie trifft diese Entscheidung heute völlig privat innerhalb der eigenen vier Wände und leitet die Spende an die überkonfessionelle Organisation eigener Wahl weiter.
Zweckgebundene Spenden seien ein weiterer Ausdruck der Tendenz weg von einem gemeindezentrischen Entscheidungsprozeß. Zweckgebundenes Spenden untergrabe das Vermögen der Ortsgemeinde, über die passende Verwendung von Spendengeldern zu entscheiden. Riley will Spenden an überkonfessionelle Organisationen nicht ausschließen, sie sollten jedoch zusätzlich zum Zehnten geschehen. Der Zehnten gehört der Ortsgemeinde und dessen Gewährung soll von ihr gebührend gefeiert werden. Der Spezialist aus Arizona meinte, Missionare sollten bei Gemeindevorständen um finanzielle Unterstützung bitten – nicht bei Individuen.
Gemeindeälteste und –vorstände seien auch für das geistliche Wohlergehen von Pastoren und geistlichen Leitern von entscheidender Bedeutung. „Leiter müssen stets von einem Vorstand oder von verstauenswürdigen Einzelpersonen beraten werden. Wer ganz alleine über die Verwendung größerer Geldbeträge entscheiden darf, schafft ein freies Feld für die Angriffe des Satans. In den USA sind sehr viele Pastoren der Korruption überführt worden weil sie die Grundregeln der Rechenschaftspflicht mißachtet haben.“
Wie wohlhabend sind die Protestanten Rußlands?
Ab welcher Einnahmehöhe sollten die Protestanten Rußlands in moralischer Hinsicht gebende Kirchen werden? Ab wann ist davon auszugehen, daß diese Kirchen mehr für ausländische Vorhaben ausgeben sollten, als sie von ihnen einnehmen? Unter den 192 Staaten auf der Menschlichen Entwicklungsskala (Human Development Index) steht Rußland an 71. Stelle. Belarus nimmt die 68. Position ein. Brasilien, die bereits für missionarische Vorhaben in Rußland gespendet hat, steht an 75. Stelle; die Ukraine hat Platz 85 inne.
Diese Frage läßt sich nicht präzis beantworten. Die entscheidende Frage betrifft jedoch nicht den Wohlstandsgrad einer Kirche, sondern deren Großzügigkeit bzw. Großmut. In welchem Maße ist eine Kirche bereit, sich zugunsten von Menschen zu opfern? Crown besteht darauf, daß weiterhin ein riesiges, unerschloßenes Spendenpotential in den Kirchen lauert. Ihren eigenen Forschungen zufolge steigern sich die Spenden durchschnittlich um 72% nach einer ihrer Unterrichtsreihen in einer Gemeinde: „Es zahlt sich einfach aus, die Wahrheit zu verkünden.“ Riley behauptete, daß sich zwei von drei Gemeindegliedern in den USA am Spendenaufkommen ihrer Gemeinde nicht beteiligen.
Die überkonfessionellen Organisationen, aus denen die im Bundesstaat Georgia beheimatete Crown Financial Ministries hervorging, wurden 1976 und 1985 gegründet. Die gesamte Organisation erhielt ihren gegenwärtigen Namen im Jahre 2000. Crown hat gegenwärtig 80 hauptamtliche Mitarbeiter und ist in rund 85 Ländern tätig. Ihre ukrainische Filiale wird von Anatoli Musijenko geleitet; der Moskauer Anatoli Stepanow und der Wolgograder Wiktor Bozhenko sind ebenfalls mit von der Partie. Jelena Propkowitsch vertritt die Arbeit in Belarus.
Dr.phil. William Yoder
Moskau, den 22. Oktober 2010
Pressedienst der Russischen Evangelischen Allia
Eine Veröffentlichung der Russischen Evangelischen Allianz. Sie will informieren und
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