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Gespräch zwischen Orthodoxen und Protestanten verstärkt

2009: Der intensivste Dialog, der je mit Protestanten geführt worden ist

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Was hinter der gegenwärtigen Verwirrung steckt

 

Kommentar

 

M o s k a u – Unsere Leser sind zweifellos verwirrt – wir sind es wohl auch. Am 22. Oktober publizierte unsere Abteilung einen Bericht über den Protest der „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“ (RUECB) gegen einen neuen Gesetzentwurf, der die Freiheit zur Durchführung missionarischer Bemühungen erheblich einschränkt. Doch am 16. Oktober hatten wir einen Bericht über eine hoffnungsvolle Zusammenkunft des „Christlichen Interkonfessionellen Beratungskomitees“ (Christian Inter-Confessional Advisory Committee for the CIS-Countries and Baltics - CIAC) veröffentlicht. Der protestantische Vertreter in diesem Komitee, der Baptist Witali Wlasenko, hatte darüber berichtet: „Die Einstellung der Menschen war sehr offen. Es herrschte ein Geist christlicher Liebe und Akzeptanz vor.“ Die sehr restriktive neue Gesetzgebung war am 12. Oktober vom Justizministerium publiziert worden – drei Tage vor der Begegnung im CIAC.

 

Die Verwirrung rührt wohl von daher, daß sich das Moskauer Patriarchat der “Russischen Orthodoxen Kirche“ (ROK) gleichzeitig in entgegensetzte Richtungen bewegt. Im vergangenen März wurde der nationalistische Sektenkundler Alexander Dworkin ins Justizministerium geholt, um dessen „Kommission für die Anwendung staatlicher Expertise über die Religionswissenschaft“ anzuführen. Viele der Zusammenstöße mit Protestanten in jüngster Zeit sind auf die Aktionen seiner Anhänger in Kirche und Staat zurückzuführen. Und der neue Gesetzentwurf gegen den Proselytismus ist zweifellos ein Kind dieses Justizministeriums.

 

Roman Lunkin vom „Slawischen Zentrum für Recht und Gerechtigkeit“ in Moskau weist jedoch darauf hin, daß Erzbischof Ilarion, der Nachfolger des Metropoliten Kirill im Amt des Leiters der orthodoxen Außenbeziehungen, im vergangenen Halbjahr fünf bedeutende Zusammenkünfte mit protestantischen Kirchenführern durchgeführt hat. Daraus schließt Lunkin: „Hier handelt es sich um den intensivsten Dialog mit Protestanten in der gesamten Geschichte der ROK-Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen.“ Kürzlich attackierten orthodoxe Scharfmacher Ilarion dafür, daß er die Leitung der umkämpften, in Samara beheimateten, charismatischen Gemeinde „Neues Leben“ als „Brüder in Christo“ angesprochen hatte. Wlasenko, RUECB-Leiter für kirchliche Außenbeziehungen, berichtete über seine erste Begegnung mit Ilarion am 15. Mai: Ich halte ihn für „einen sehr weisen und frommen Mann. Er ist hoch gebildet und entsprechend über die Geschichte der Baptisten informiert. Ich habe mich über das Gespräch mit ihm sehr gefreut und hoffe auf eine wunderbare Arbeitsbeziehung in Zukunft.“

 

Bei einem Treffen im „Slawischen Zentrum“ am 22. September hatte der zentristisch orientierte Priester Wsewolod Tschaplin, der als offizieller Sprecher des Moskauer Patriarchats gilt, eingeräumt: „In Rußland übersehen wir oftmals die Interessen der religiösen Minderheiten. Unsere Kirche will zur Behebung des Problems beitragen. Ein orthodoxer Priester sollte jedem beliebigen Gläubigen helfen, den Weg zu seinem (oder ihrem) Pastor zu finden.“ Allein die Tatsache, daß Tschaplin im Zentrum erschienen war, rief den Zorn der orthodoxen Hardliner hervor.

 

Kürzlich berichtete die Webseite des diakonischen Dienstes “Agape Unlimited” über ein „Umdenken“ in der russischen Orthodoxie. Diese medizinische Mission wurde 1993 von dem US-amerikanischen Arzt Bill Bucknell in Moskau etabliert. Nun schrieb der russische Anwalt des Vereins: „In den 90er Jahren hatte die Kirche einen negativen Ruf – sie galt als Eigentum des KGB. Nun gibt es Tausende gläubiger Priester. Jetzt ist die Kirche diakonisch tätig. Der neue Patriarch hat ein offenes Ohr und verkündigt das Evangelium. Vieles in der Kirche ist in Bewegung. Nicht mit ihr zu kooperieren bedeutet für Protestanten eine verpaßte Chance. Der Protestantismus ist in diesem Lande ein geschlossenes System (gemeint ist wohl: „bei ihr ist nichts los“). Doch die Russische Orthodoxe Kirche dehnt sich aus.“ Diese Schilderung ist zweifellos eine Vereinfachung – sie ist nichtsdestotrotz lesenswert. Eine andere ihrer Veröffentlichungen führt fort: „Wenn Sie Kinder lieb haben, haben wir eine besondere Nachricht für Sie! Im Sommer 2010 bieten wir zwei Kinderlager an. Eins der Lager werden wir gemeinsam mit einem orthodoxen Priester, der nördlich von Moskau tätig ist, durchführen. Er hat ein Herz für den Herrn und auch für Kinder.“

 

Roman Lunkin berichtet von einem gewaltigen Widerstreit zwischen Tradition und Modernität in der Orthodoxie. „In Anbetracht der Auseinandersetzungen in diesem Lande 2009 liegt es auf der Hand, daß die Widersprüche zwischen der tatsächlichen, sozialen Rolle Andersgläubiger und der Ignoranz der Anhänger Dworkins unlösbar geworden sind.“ An anderer Stelle führt er fort: „In Krisenzeiten tut sich die nationalistische Rhetorik besonders hervor. Es ist natürlich, daß sich dann Hauptwidersacher der ‚Sekten’ mit Nationalisten zusammentun werden.“

 

Lunkin ist jedoch nicht ohne Hoffnung: “Das Verhältnis der ROK zu den religiösen Minderheiten befindet sich in einem Prozeß der Selbstfindung. Seine Komplexität ergibt sich aus der Tatsache, daß die Orthodoxie als Symbol und Kern der russischen Geschichte und Kultur fungiert. Die Kirche hat nie mit anderen Konfessionen einen Dialog auf gleicher Augenhöhe geführt; sie hat nie im demokratischen Kontext ein Verhältnis zu anderen Gruppierungen entwickelt. Doch nun verfügt sie über die einzigartige Chance, Initiator interkirchlichen Dialogs und Garant interreligiösen Friedens zu werden.“

 

Der Alarmruf „Wolf!“

Mit unserem Schreiben vom 22. Oktober stieß unsere Abteilung den Alarmruf „Wolf!“ aus. Das darf man aber nur mit Bedacht tun, denn es ist ja bekannt, wie es dem Hirtenjungen nach dem dritten und letzten Alarm ergangen ist. Doch die Leitung der RUECB ist überzeugt, der Gesetzentwurf vom 12. Oktober bedeute eine reelle Gefahr. Wir haben um Hilfe gebeten, und deshalb ist es auch nur recht und billig, der Frage nachzugehen, in welcher Weise Freunde in anderen Ländern uns am besten beistehen könnten:

 

1. Wir sind auf den Rat und die Erfahrung von Experten in Fragen der Orthodoxie angewiesen.

Wo und wie haben protestantische Kirchenvertreter eine Verständigung mit orthodoxen Kreisen erreicht? Die deutsche EKD verfügt über breite Erfahrung im Umgang mit der ROK. Besonders hilfreich wären wohl auch die Erfahrungen anderer Protestanten, die ebenfalls in einer orthodoxen Mehrheitskultur leben.

 

Können wir den Orthodoxen glaubhaft vermitteln, daß wir ihren Vorwurf bezüglich Proselytismus ernst nehmen ohne dabei das eigene Mandat zur Evangelisierung preiszugeben? Den Katholiken Rußlands ist vorgeworfen worden, „potentielle Orthodoxe zu bekehren“. Sollten wir Protestanten den ethnischen Russen eine eindeutige Option eröffnen, ihren Weg mit Christus innerhalb der Orthodoxie zu finden? Falls ja, könnten wir im Laufe der Zeit ein ähnliches Entgegenkommen seitens der Orthodoxie erwarten? Könnte gemeinsam mit orthodoxen Kreisen evangelisiert werden? Derartige Versuche anläßlich der evangelistischen Feldzüge an der Wolga 1992 war offensichtlich verfrüht – für beide Seiten.

 

2. Rechtsexperten könnten uns helfen, Diskrepanzen zwischen der Russischen Verfassung und deren Auslegung seitens staatlicher Gesetzeshüter klarzustellen. Natürlich werden westliche Anwälte auch nur dann einsteigen können, wenn ihnen eine passende Übersetzung des Gesetzentwurfs vom 12. Oktober vorliegt. (Der Anfang ist gemacht, siehe: http://www.stetson.edu/~psteeves/relnews/0910a.html#07.) Rechtsexperten könnten uns auch behilflich sein wenn sie verstehen, wie russische Staatsvertreter von der Erfordernis, die eigene Gesetzgebung einzuhalten, am ehesten zu überzeugen seien – daß dies auch in ihrem eigenen Interesse läge.

 

Dr. phil. William Yoder

Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen der RUECB

Moskau, den 28. Oktober 2009


Eine Veröffentlichung der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen bei der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine einheitliche, offizielle Position der RUECB-Leitung zu vertreten. Meldung Nr. 09-33, 1.061 Wörter oder 7.752 Anschläge mit Leerzeichen.