Ein Baptist mit doppeltem Beruf
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Der ukrainische Jugendleiter Pawel Ungurjan
M o s k a u / A m s t e r d a m -- “Die Baptisten Westeuropas werden schwächer – als globale Bewegung bewegt sich der Baptismus ostwärts und südwärts. Die baptistische Jugend von heute lebt vor allem in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wir, die jungen Baptisten der Ukraine, wollen eine strategische Plattform und ein Sprungbrett bilden, die diese Entwicklungen fördern.“ So äußerte sich der 29-jährige Pawel Ungurjan (Kiew), Landesjugenddirektor bei der 133.000-Mitglieder zählenden „All-Ukrainische Union der Assoziationen der Evangeliumschristen-Baptisten“ in einem Gespräch auf der „Amsterdam 400“-Konferenz der Europäischen Baptistischen Föderation am 26. Juli.
Die Anfänge sind jedoch bescheiden. Im Januar entsandte seine Jugendabteilung zwei Missionare in die zentralasiatischen Republiken der ehemaligen UdSSR. Zwei Familien sollen im September folgen. Andere arbeiten schon länger in Kazakhstan. Der Jugendleiter berichtete: „Es freut mich sehr, daß viele Ukrainer in den missionarischen Dienst nach Rußland gezogen sind – auch nach Sibirien, Fernost und dem Hohen Norden. Unsere Union hat weitere Mitarbeiter in Moldawien, Rumänien, Belarus und Armenien.” Ein leitender Baptist in Kiew, Wiktor Kulbitsch, gab 2004 an, daß 450 ukrainische Baptisten in Rußland als Missionare tätig seien. Weitere 38 waren tätig in Ländern wie Australien, Afghanistan, Israel, Portugal und Kanada. Die Ukraine, der „Bibelgürtel“ der ehemaligen Sowjetunion, verfügt heute über die größte baptistische Union auf dem europäischen Festland.
Der in Odessa aufgewachsene Ungurjan fuhr fort: “Die evangelistische Explosion der neunziger Jahre war das Ergebnis einer anfänglichen, generellen Euphorie. Doch heute führt die Jugend die Bewegung an; heute sind wir die Avantgarde. Und ältere Glieder fangen an, uns dabei zu unterstützen. Er meinte, die Bewegung bedürfe nun einer verstärkten Institutionalisierung: „Wir sollten alles schrittweise organisieren. Wir müssen in den Haushalt jeder Ortsgemeinde aufgenommen werden. Viele gelangen zu der Überzeugung, daß wir einen oder zwei Missionare aus jeder Gemeinde brauchen – und daß sie finanziert werden müssen. Unsere Union besteht aus 2.800 Gemeinden. Hätten wir zwei Missionare aus jeder Gemeinde, würden sie eine gewaltige Armee bilden. Unsere Union hat 40.000 junge Menschen. Die Arbeit innerhalb der Ukraine ist unsere rechte Hand – doch die linke Hand gilt der Arbeit in anderen Ländern.“
Der Jugendleiter verwies auf die sehr engen Beziehungen zur Jugendabteilung der russischen Union, die von Pastor Ewgeni Bakhmutski (Moskau) geleitet wird. Ein Höhepunkt für beide war eine Jugendkonferenz in Odessa mit 3.000 Teilnehmern aus 19 Staaten. Das gemeinsame Engagement für die Mission sei der Klebstoff, der die nationalen Jugendbewegungen zusammenschweiße. Gelegentlich kommt das Gerücht auf, die in Moskau ansässige „Euro-Asiatische Föderation der Unionen der Evangeliumschristen-Baptisten“, in der die Staaten der ehemaligen UdSSR abgesehen vom Baltikum und einem Teil des Kaukasus vertreten sind, harrt der Einstellung ihrer Arbeit entgegen. Doch er ist überzeugt, die Jugend russischer Zunge sei imstande, der Föderation neues Leben einzuhauchen.
Pawel Ungurjan vertritt die Auffassung, osteuropäische Ereignisse wie die Jugendkonferenz in Odessa im August 2008, die nur wenige Wochen nach der globalen Jugendkonferenz des Baptistischen Weltbundes in Leipzig stattfand, auf keinen Fall als konkurrierende Parallelveranstaltung eingeordnet werden dürfen. „Es ist ganz hervorragend, daß wir diese beiden Gruppen von Aktivisten haben,“ betonte er in Amsterdam. „Sie spiegeln die Vielfalt der Baptisten wieder. Viele junge Menschen haben weder das Geld noch das Visum, um solche Ereignisse im Westen aufsuchen zu können. Die Konferenz in Odessa wurde von der Jugend vorbereitet und hat sie über Grenzen hinweg in einer ganz besonderen Art und Weise vereinigt. Solche Ereignisse sind wahrlich ein Geschenk des Himmels.“
Er glaubt nicht, daß bedeutende, theologische Differenzen weiterhin zwischen der baptistischen Jugend in Ost und West bestehen. Er räumte jedoch ein, daß „kulturelle und psychologische Unterschiede“ existieren. „Es gibt Mentalitätsunterschiede. Wir aus der russischsprachigen Welt wuchsen in einer Gegend auf, in der Christen über lange Zeit Druck ausgesetzt werden. Wir vertreten weiterhin konservative Positionen bezüglich Äußerlichkeiten wie Kleidung und Anbetungsformen. Unser Verständnis gewisser demokratischer Werte ist unterschiedlich. Wir sollten jedoch immer das betonen, was uns vereint.“
Doch was müßte sich noch unter den ukrainischen Baptisten ändern? „Wir müssen unser Verständnis von der heutigen Zeit ändern,“ antwortete Ungurjan. „Wir verfügen gegenwärtig über einmalige Chancen und müssen uns täglich bemühen, sie zu begreifen und auszunutzen. Wir müssen ebenfalls unsere Sicht auf die Ukraine verändern. Wir sind zu einer Brücke zwischen Ost und West geworden; wir müssen die neue, globale Rolle der Ukraine ernstnehmen. Heute sind wir imstande, Missionare auf das gesamte Gebiet östlich und südlich von uns vorzubereiten.“
Die Arbeit des Jugendleiters unter der Woche
Der Anwalt Pawel Ungurjan fügte hinzu, daß er nur am Wochenende als Jugendleiter gelte. Nach ersten Erfahrungen im Stadtrat von Odessa wurde er im September 2007 ins ukrainische Parlament, die “Werkhowna Rada”, gewählt. Er sowie drei weitere Baptisten und ein Pfingstler gehören dort der Regierungspartei, dem „Block Julia Timoschenko“ an. Ein-hundert-fünf-und-fünfzig der 450 Parlamentsmitglieder gehören dieser Partei an. Sein Parteikollege ist Dr. Alexander (oder Oleksandr) Turtschinow, Doyen der baptistischen Politiker in der Ukraine. Turtschinow ist seit 1993 mit Ministerpräsidentin Timoschenko verbunden und dient gegenwärtig als ihr Erster Stellvertretender Ministerpräsident. Der 1964-geborene Ökonom wurde durch seine vorübergehende Funktion als erstes ziviles Oberhaupt des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU (einst KGB) bekannt. Seine Amtszeit währte nur von Februar bis September 2005. Ungurjan fügt hinzu, daß viele Baptisten als Dorfbürgermeister oder Mitglieder von Stadt- und Regionalräten aktiv seien.
Findet Ungurjan es bedenklich, daß alle Baptisten im Parlament dem Block Timoschenko angehören? „Es wäre besser, wenn sich die Baptisten auf verschiedene politische Parteien verteilten,“ antwortete er. „Doch leider ist nur eine Partei bereit, Baptisten in ihre Reihen aufzunehmen. Die anderen Parteien verfügen über keine Baptisten – sie wollen auch keine.“ Der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko fühlt sich dem orthodoxen Kiewer Patriarchat verpflichtet; die pro-russische, von Wiktor Janukowitsch angeführte „Partei der Regionen“ steht zum Moskauer Patriarchat. Ungurjan unterließ den Hinweis, daß viele Baptisten anfangs im Jahre 2004 Wiktor Juschtschenko unterstützten. Der Kiewer Bürgermeister, Geschäftsmann und Charismatiker Leonid Tschernowetski ist mit der Partei von Wiktor Juschtschenko liiert. Tschernowetski ist Mitglied der von dem Nigerianer Sunday Adelaja gegründeten „Botschaft (Embassy) Gottes“. Noch 2008 behauptete die „Embassy“, allein in Kiew über 25.000 Mitglieder zu haben. Doch Adelajas Verwicklung in einem betrügerischen „Ponzi“-Schnellballsystem u.a. hat zu Einbüßen im laufenden Jahr geführt.
Trotz der äußerst zurückhaltenden Einstellung seiner Union, äußert sich Pawel Ungurjan verständnisvoll hinsichtlich des nigerianischen Pastors. „Es ist gut, daß es in der Ukraine einen Sunday Adelaja gibt. Bis zu seinem Eintreffen war das Gesicht des ukrainischen Protestantismus stets nur europäisch und weiß gewesen. Er dient uns als Lehre und Belehrung. Aber er hat dazu geneigt, das Ausmaß seiner Erfolge zu übertreiben, und das hinterläßt einen unseriösen Eindruck. Seine Behauptung, die Orange-Revolution eigentlich inszeniert zu haben, kam nicht gut an. Es wäre für ihn viel besser, wenn er mit uns Baptisten und der evangelikalen Bewegung überhaupt kooperieren würde. Dann würden die Leute sagen: „Jawohl“.
Wie reagieren die Ukrainer überhaupt auf einen baptistischen Politiker? „Viele Menschen sind entsetzt, andere freuen sich darüber. Aber auch innerhalb unserer eigenen Gemeinden herrscht keine einheitliche Meinung. Manche Baptisten sind weiterhin der Auffassung, politisches Engagement sei unnötig. Doch ich bin der Meinung, man müsse sich beteiligen an dem Versuch, eine neue Qualität von Regierung zu schaffen. Christen sind dazu aufgerufen, zur Veränderung der Gesellschaft beizutragen.“ Dieser Politiker ist ein eindeutiger Optimist. Auf die Frage, ob die politischen Bemühungen der ukrainischen Baptisten eine größere Distanz zwischen ihnen und den Baptisten Rußlands schaffen würden, erwiderte er: „Ich denke, das Gleiche wird auch noch in Rußland passieren.“
Im Augenblick ist Pawel Ungurjan für Klärungsfragen unabkömmlich: Am 15. August 2009 hat er geheiratet!
Dr. William Yoder
Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen der RUECB
Moskau, den 18. August 2009
Eine Veröffentlichung der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen bei der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten. Sie will informieren und erhebt nicht den Anspruch, eine einheitliche, offizielle Position der RUECB-Leitung zu vertreten. Meldung Nr. 09-25, 1.206 Wörter oder 8.837 Anschläge mit Leerzeichen.
Anmerkung von September 2020: In lateinischen Buchstaben wird heute meistens "Pavlo Ungurian" geschrieben. ("Pavlo" bzw. "Pawlo" ist die ukrainische Form von "Pavel" bzw. "Pawel".) Er bleibt Mitglied des ukrainischen Parlaments und arbeitet aktiv in der Gebetsfrühstücks-Bewegung des Landes mit. Die Endung des Namens "Ungurjan" ist übrigens arminisch. Der Politiker kam 1979 in Moldawien zur Welt.