Der juristische Nihilismus ist Rußlands größtes Problem
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Juri Sipko beklagt das Versagen einer würdigen Diktatur
M o s k a u – In einem Interview mit seinem eigenen Pressedienst am 4. Mai, beschrieb Juri Sipko, Präsident der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten (RUECB), seine Kirche als überzeugte Verfechterin der Staatsverfassung. Er beklagte das völlige Versagen einer würdigen Diktatur, die von Wladimir Putin am Anfang seiner Dienstzeit angekündigt worden ist: die Diktatur der Verfassung. Sipko stimmte auch vehement mit der Einschätzung von Dimitri Medwedew, dem heutigen Präsidenten, überein, daß der juristische Nihilismus das größte aller Probleme in der russischen Gesellschaft sei. Orthodoxe stellen die Behauptung auf, die russische Nation sei – zumindest potentiell – ihren westlichen Nachbarn moralisch überlegen. Doch im Gegensatz hierzu stellte Sipko die Vermutung auf, Rußland könnte wegen des willkürlichen Charakters seiner Justiz in seiner Entwicklung noch 1.000 Jahre zurückliegen. Er fügte jedoch hinzu, daß das marxistische Erbe seines Landes an seinen Ursprungsort – Westeuropa – zurückgeschickt werden sollte.
Nach Angaben des baptistischen Leiters begann der Abstieg mit dem „Gesetz über die Religion und die Freiheit des Gewissens“, das von der Duma im Juni 1997 verabschiedet worden ist. Es schaffte einen äußerst bedenklichen Präzedenzfall, in dem es eine Hierarchie unter den Hunderten von russischen Glaubensgemeinschaften schuf. Es gewährte den „traditionellen Religionen“ – vor allem der Orthodoxie, dem Islam, Judaismus und Buddhismus – einen bevorzugten Anspruch auf staatliche Anerkennung. Er wies in diesem Interview darauf hin, daß bereits dieses Gesetz an sich verfassungswidrig sei – es zerstöre die in der Verfassung verankerte Gleichstellung aller russischen Glaubensgemeinschaften.
Sipko beschrieb die Schaffung einer „Kommission für die Anwendung
staatlicher Expertise über die Religionswissenschaft“ im vergangenen März als die logische Folge des Nihilismus bzw. der Gesetzgebung von 1997. Dieses äußerst umstrittene Komitee, das für die
Bewertung religiöser Organisationen zuständig sei, besteht vor allem aus vehementen Parteigängern des Moskauer Patriarchats. Kommissionsleiter ist Alexander Dworkin, ein äußerst
temperamentvoller, orthodoxer Geistlicher und selbsternannter Sektenkundler.
Als Lösungsansatz im Blick auf die juristische Anarchie schlug der Baptistenpräsident vor, russische Staatsdiener abermals auf die Schulbank zu setzen, um sie mit der Verfassung vertraut zu machen, die sie zu verteidigen hätten. Zu den Schülern sollte auch Alexander Konowalow, der orthodoxe Pfarrer, der seit Mai 2008 auch als Russischer Justizminister fungiert, zählen. Sipko vertrat die Auffassung, jeder Politiker höheren Ranges solle auf die Verfassung vereidigt werden: „Jeder ist dazu aufgerufen, dem Vaterland zu dienen – und nicht seinem jeweiligen Boss.“
Der RUECB-Präsident verglich den legitimen Staat mit dem Berufsethos von Ärzten. Wenn ein Patient erkrankt, begreift der Arzt die Klagen des Patienten nicht als einen Angriff auf sein professionelles Können. Statt dessen wird sich der Arzt bemühen, möglichst umgehend das Leiden seines Patienten zu mindern. Mit dem gleichen Verständnis sollten Staatsdiener „sofort reagieren, um die Freiheit und Menschenrechte eines Bürgers wiederherzustellen. Nur unwürdige Politiker fassen das Klagen der Patienten als eine persönliche Attacke auf.“ Er fügte hinzu: Wir Russen „müssen damit anfangen, uns gegenseitig zu respektieren, zu unterstützen und zu lieben“. In Rußland gebe es doch so wenig Menschen. „Menschen mit einem freien Gewissen sind die wahren Träger russischer Souveränität.“
Mit einem Hinweis auf das Überleben im Zeitalter massiver Repressionen versicherte Juri Sipko, daß er im Machtanspruch der Orthodoxie keine entscheidende Gefährdung der baptistischen Bewegung erkenne. „Ich denke, der gegenwärtige Versuch, das Land auf eine Monoreligion zu reduzieren, das Verlangen unserer Volkes nach selbständigen Bürgern und der persönlichen Freiheit, nur verstärken wird. Unter solchen Bedingungen werden Baptisten, die die Gewissensfreiheit für alle unterstützen, einen bedeutenden Zulauf erleben. Gott sei Dank dafür!“
Dr. William Yoder
Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen der RUECB
Kiew/Moskau, den 15. Mai 2009
Eine Veröffentlichung der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen bei der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten. Zur Veröffentlichung freigegeben. Meldung Nr. 09-15, 559 Wörter oder 4.179 Anschläge mit Leerzeichen.
Anmerkung von Oktober 2020: In einem späteren Gespräch mit Alexander Dworkin versicherte er mir, daß er kein Geistlicher sei. Es ist wohl auch ungerecht, ihn als "selbsternannten" Sektenkunder zu bezeichnen. Nach seinen Angaben hatte ihm der Patriarch Alexei II den Professorentitel verliehen.