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Fast die Hälfte aller russischen Baptisten sind ausgewandert

Den Player wegwerfen und zuhören

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Der Jugendleiter des russischen Baptistenbundes berichtet

 

Eine Reportage

 

M o s k a u – Die  russische Baptisten haben über die Hälfte ihrer Substanz verloren, aber es ist noch viel geblieben. Das ist die Ansicht von Ewgeny Bakhmutsky (Moskau), seit vier Jahren Abteilungsleiter für Jugendarbeit bei der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten (RUECB). Er erzählt: „Es gibt Gemeinden, die haben sich durch Auswanderung um 80% verkleinert, andere haben sich ganz aufgelöst.“ Er vermutet, hätte die Massenauswan­derung in die USA und nach Deutschland ab 1990 nicht stattgefunden, gäbe es heute in Rußland mindestens 300.000 Baptisten, „und wir Baptisten wären mit Abstand die einflußreichste evangelische Konfession Rußlands“. Obwohl weniger als 50% aller Baptisten gen Westen gezogen sind, rechnet der Jugendleiter mit einem Qualitätsverlust oberhalb von 50%, denn „es sind die aktivsten und fähigsten Gemeindeglieder, die ausgereist sind.“ Heute hat die RUECB rund 80.000 erwachsene Mitglieder.

 

Nichtsdestotrotz ist der nationale Jugendleiter überzeugt, daß die geschwächten aber längst nicht geschlagenen Baptisten Rußlands der Welt weiterhin etwas zu bieten hätten. Er versichert z.B., im Gemeindeleben seien alle Generationen dringend aufeinander angewiesen – keiner Generation werde gestattet, einen Bogen um die Gemeinde zu machen. „Deshalb auch schaffen wir keine Jugendbewegung neben der Kirche. Der Dienst unserer Jugendlichen geht mitten durch die Kirche hindurch. Leider stoße ich immer wieder auf Jugendarbeiten in europäischen Baptistenunionen, die ein separates Leben für sich führen. Wir meinen, das ist kein biblischer Weg.“

 

Angesichts der langjährigen Erfahrungen und des Beziehungsgeflechts, die sich daraus ergaben, hält Pastor Bakhmutsky die russischen Baptisten für eine Avantgarde, die auch den charismatischen Gemeinden zu Hilfe kommen könnte. „Die Charismatiker sind nicht nur pro-westlich, sie sind von der westlichen Kultur geradezu durchtränkt. Manchmal wenn sie kapieren, daß sie doch eigentlich eine russische Kirche sein wollen, kommen sie zu mir ins Büro und wir beraten darüber.“ Er fährt fort: „Ich habe den Eindruck, die Charismatiker verstehen es, eine gute Show abzuziehen. Aber sie können schlecht mit ihren Leuten arbeiten.“ Charismatische Gemeinden erleben eine hohe Fluktuation. Er habe schon mehrmals erlebt, daß die traditio­nellen Freikirchen Rußlands den Enttäuschten Halt und Geborgenheit bieten können. „Gerade vor kurzem kamen 200 junge Leute aus charismatischen Gemeinden zu mir, um sich beraten zu lassen. Sie wollten ihre Gemeinden verlassen.“

 

Ewgeny Bakhmutsky fliegt in regelmäßigen Abständen in die USA. Er hat den Eindruck, die Moskauer Union müsse den Kindern der ausgewanderten Baptisten unter die Arme greifen. „Ihre Jugendlichen sind von ihren Wurzeln getrennt. Sie halten nicht mehr zu den Vätern, denn sie reden Englisch. Aber auch von den amerikanischen Jugendlichen bleiben sie abgesondert, denn sie gehen in eine russischsprachige Gemeinde. Deshalb bleibt ihr Potential unrealisiert.“ Eltern wollen ihren Kindern eine russische Subkultur eintrichtern, die es in Rußland nicht mehr gibt. „Aber wir verstehen die Kinder besser und laden sie zum Dienen zu uns in die alte Heimat ein.“ Hier können sie besser bei sich ankommen, besser ihre eigene Identität finden. Doch Bakhmutsky sieht keinen Grund, eine Auswanderungswelle zu beklagen, die unumkehrbar ist. Er kann sich vorstellen, daß Gott die Ausreise von so vielen benutzen wird, um den Gemeinden neue Chancen und Möglichkeiten zu eröffnen. „Wir sind offen und möchten sehr gerne mit unseren baptistischen Brüdern und Schwestern im Westen zusammenarbeiten.“

 

Dem Jugendleiter fällt überhaupt die Oberflächlichkeit des amerikanischen Glaubenslebens auf. „Wir wissen was es bedeutet, wirklich an Christus zu glauben, denn unsere geistlichen Väter und Großväter haben dafür mit ihrem Blut bezahlt. Doch die amerikanischen Kirchen wurden niemals verfolgt. So konnten wir den ernsthaften und authentischen Glauben bewahren.“ Ein Ergebnis des Glaubens ohne Herausforderungen seien nach seiner Auffassung die uferlosen Auswüchse eines „extremen Liberalismus“, der u.a. in der Ordination von praktizierenden Homosexuellen seinen Niederschlag findet.

 

Ferner nehmen die Baptisten Rußlands das Missionieren noch sehr ernst. Nordamerikaner hingegen fühlen sich meist von Christen umgeben: „Sie halten nur noch das Missionieren auf anderen Kontinenten, oder höchstens vielleicht in Mexiko, für aktuell. Ihnen ist es oft neu, daß die persönliche Mission gerade in ihrer eigenen Umgebung vonnöten ist.“

 

Ewgeny Bakhmutsky ist vom Können seiner Jugend überzeugt und hofft, daß sie beim Jugendkongreß des Baptistischen Weltbundes in Leipzig vom 30.7. bis 3.8.2008 entscheidend mitspielen werden. Am 7. Dezember findet in Kiew mit westlichen Verantwortlichen ein Gespräch zum Thema Leipzig statt. Trotz der Tatsache, daß die Moskauer Jahreskonferenz der russischen Baptisten zeitgleich stattfindet, möchte Bakhmutzsky 200 Jugendliche aus den GUS-Staaten für die Fahrt nach Leipzig gewinnen. „Wir haben eine wirklich tolle Musik in Rußland,“ versichert er. „Sie ist auch nicht nur irgendeine Musik, sie ist in der Welt wirklich einzigartig!“

 

Die Aufholjagd

Der junge Baptist aus dem sibirischen Kemerowo würde jedoch nicht behaupten, daß bei sich in seinem Lande alles zum Besten stünde. Der Paradigmenwechsel ist gewaltig. Gemeinden befinden sich nicht nur in einem völlig neuen politisch-kulturellen Zeitalter; sie bestehen zum Teil aus einem anderen Publikum. Der Jugendleiter gibt zu Protokoll, daß in den Gemeinden mehr als 50% der Jugendlichen keinem christlichen Zuhause entstammen. Da ist Bakhmutsky keine Ausnahme. Wegen staatlichen Drucks verzichteten seine Eltern auf den Kirchgang; er fand aus eigenem Antrieb mit 14 Jahren (1990) zur Gemeinde. Wahrscheinlich befinden sich die meisten Kinder frommer, baptistischer Eltern im westlichen Ausland.

 

Auch in russischen Gemeinden ist zu beobachten, daß es nicht jedem Jugendlichen gelingt, den Griff zum Player bis zum Ende eines nicht enden wollenden Gottesdienstes hinauszuzö­gern. Doch mit neuen Gottesdienstformen will Bakhmutsky es nicht zu weit treiben. Er meint: Drei Predigten, 10 Lieder und vier Gedichte seien nicht das Problem. „Auf den Inhalt kommt es an.“ Wenn die Beiträge die geistlichen Nöte und Fragen der heutigen Jugendlichen wirklich berühren, „werfen sie Player und Kopfhörer weg und hören zu“.

 

Da sich politische Wandlungen sehr viel schneller abspielen als das Vermögen unserer Hirne zum Umdenken, befinden sich auch die russischen Gemeinden stets in einer Aufholjagd. Der Bruch zwischen den Generationen ist Kolossal; einer in der Verfolgungszeit entstandenen Subkultur ist den Herausforderungen der Gegenwart nicht gewachsen. „Die ältere Generation muß verstehen, daß sie ihre Kultur nicht an die jüngere Generation weitergeben darf. Aber die Werte, die Lebensweisheit und das geistliche Wissen, das muß sie unbedingt an die Jugend weiterreichen. Uns wurde einst beigebracht, wie man unter den Bedingungen der Verfolgung lebt. Deshalb wußten wir nicht, wir man mit freiheitlichen Bedingungen klar kommt. Das lernen wir erst jetzt.“ Das in der Verfolgung bewährte Randdasein der Christen müsse der Vergangen­heit angehören. Wir müssen unseren Weg zurück in die Gesellschaft hinein neu finden.

 

Strukturen

Nach mehreren Fehlstarts wurde der RUECB erst 2001 eine funktionierende Jugendabteilung beschert. Seit März 2003 fungiert Bakhmutsky als Abteilungsleiter. Die Abteilung hat heute fünf angestellte Mitarbeiter in der Moskauer Kirchenzentrale. Sieben Filialen, jeweils mit einem angestellten Mitarbeiter, sind über das weite Land verteilt: Chabarowsk (Fernost), Krasnojarsk, Pensa, Mosdok (Kaukasien), Perm, St. Petersburg und Moskau.

 

Auf Ausbildung legt die Abteilung viel Wert: Auch in Belarus, der Ukraine und Kasachstan führt sie Schulungen in Sachen Jugendarbeit durch. Es bestehen Arbeitsbeziehungen zu den baltischen Staaten sowie nach Portugal und Rumänien. Den schwächsten und kleinsten Bünden, etwa Tadschikistan und Turkmenistan, wird finanziell geholfen.

 

Ewgeny Bakhmutsky ist gelernter Ökonom und Manager. Sein theologisches Studium absolvierte er am baptistischen Seminar in Akademgorodok bei Nowosibirsk. Er und seine Ehefrau Tanja haben zwei kleine Kinder.

 

Dr. William Yoder

Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen der RUECB

Moskau, den 21. November 2007

 

Eine Veröffentlichung der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten. Zur Veröffentlichung freigegeben. Meldung Nr. 07-47, 1.160 Wörter.