Nicht mehr dort, wo wir dachten, daß sie steckengeblieben waren
Ein Kommentar
M o s k a u - Das Osterkonzert der Protestanten in einem Moskauer Konzertsaal am 8. April hatte fast alles drin, was das jugendliche Herz begehrt. Für die 1.300 Zuschauer gab es ohrenbetäubenden Rock, Ballett-Einlagen, Kosmetik, ein bißchen Punk, hohe Stiefel oder Abendkleider bei Damen, computergesteuerte Bühnenchoreographien wie sie im russischen Staatsfernsehen zu bewundern sind, und nicht zuletzt - Jesus-Rufe. Gruppen und Solisten hatten einen Schmiß und eine Harmonie drauf, die die christlichen Bands in Deutschland erst noch nachmachen müssen.
Und die Ehrengäste des Abends waren kein verlängerter Arm nicht zu bremsender US-Charismatiker, sondern historisch gewachsene und bewährte russische Freikirchen: die Russische Union der Evangeliumschristen-Baptisten, die Adventisten des Siebenten Tages, und zwei Pfingstkirchen. Organisator dieses vierten, jährlichen Osterkonzerts war die „Stiftung christlicher Unternehmer“. Sie wird angeführt von dem bekannten, baptistischen Mäzenen und Sponsor der Zeitung „Protestant“, Alexander Semtschenko.
Ein weiteres, verwegenes Ereignis ist für Mai 2007 vorgesehen: eine Fahrradtour der russischen Baptisten durch Deutschland mit Endziel Wladiwostok. Ursprünglich hatten die Organisatoren die Absicht, ein Orchesterensemble zur Begleitung der Tour nach Deutschland zu entsenden. Begründung: Einen heißen, christlichen Sound würden die biederen, deutschen Kids nicht ertragen. Ich denke, die deutschen Kenntnisse der protestantischen Szene Rußlands bewegen sich auf ähnlichem Niveau. Wir sind uns noch ferne, und das ist nicht nur geographisch gemeint.
Beide Seiten haben die Aussiedlergemeinden Deutschlands im Kopf und dehnen das auf die Gesamtheit aus. Für uns im Westen stellen die Aussiedler den russischen Protestantismus dar; in ihnen sehen die daheimgebliebenen Russen - Deutschland. Doch wäre es sträflich, das, was sich in den Aussiedlergemeinden tut, auf die Großstädte Rußlands zu übertragen.
Das Gesprochene an diesem Abend umfaßte Begrüßungswort und Applaus für einen orthodoxen Abgesandten des Moskauer Patriarchats. Im Pressegespräch während der Pause bekundeten leitende Vertreter der obengenannten Kirchen guten Willen nach allen Seiten hin - nur kommen tun die säkularen und orthodoxen Journalisten noch nicht.
Zweifellos haben russische Protestanten – wie andere Evangelikale auch - das Eingehen auf die Welt, in der sie sich befinden, noch nicht ausreichend beherzigt. Das Glaubensghetto – nur unter Seinesgleichen fühlt man sich wohl – löst sich nur allmählich auf. Aber Russen haben bereits kapiert, daß der Köder dem Fisch, und nicht dem Angler, schmecken muß . Auf jeden Fall ist die Welt der meisten Aussiedlergemeinden schon meilenweit vom Moskauer Konzert am 8.4. entfernt. Der russische Protestantismus ist nicht mehr dort, wo wir dachten, daß er steckengeblieben war.
Dr. William Yoder
Moskau, den 11. April 2007
Als Kommentar ist dieser Bericht nicht als eine offizielle Erklärung der „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“ zu interpretieren. Veröffentlichung möglich. Meldung Nr. 07-9, 386 Wörter