Konservativ sind in Russland (fast) alle
M o s k a u - Nach Abschluß eines Runden Tisches zwischen der Evangelisch-Lutherischen Kirche Europäisches Rußland (ELKER) und der Evangelisch-Lutherischen Kirche des Ingermanlands in Rußland (ELKIR) stellte Pastor Gottfried Spieth (Moskau) mit Genugtuung fest: „Man hat sich in beiden ‚Lagern’ auf der Linie eines gediegenen Konservatismus geeinigt. Liberalismus und Fundamentalismus blieben abseits.“ Der theologische Referent von Bischof Siegfried Springer (ELKER) berichtete ferner über diesen Gesprächskreis, der vom 8. bis 10. August 2006 in der Moskauer Evangelisch-Lutherischen Trinitatiskirche stattfand: „Wir sind in beiden Kirchen sehr viel weiter gekommen. Wenn ELKER und ELKIR eine gemeinsam verantwortete Öffentlichkeitsarbeit betreiben, die ihrem intellektuellen Potential entspricht, können sie unqualifizierte Angriffe abwehren und mit Gottes Hilfe viele neue Freunde und Glaubensgenossen finden.“
Prominenter Teilnehmer war Bischof Aarre Kugappi (ELKIR), der diesem 5. Runden Tisch einen halbtägigen Besuch abstattete. 25 Theologen aus beiden Kirchen versuchten, unabhängig von ausländischen Supervisoren ein authentisches Meinungsbild dessen zu ermitteln, was Lutheraner in Russland wirklich glauben. Der Konsens, der hierbei erzielt wurde, stand in mancherlei Hinsicht quer zu dem, was in den Gesellschaften und Kirchen des Westens als Wertmaßstab gilt. Insbesondere Pastor Alexander Prilutzki, leitender Sekretär der Kirchenkanzlei der ELKIR, plädierte für einen eigenen Weg Russlands und seiner Christen gegenüber dem „westlichen Liberalismus“, der geistesgeschichtlich auf den Linkshegelianismus zurückzuführen und zur Triebkraft von Moderne und Postmoderne geworden sei.
Dr. Robert Kolb, Professor am Concordia Seminary der „Lutheran Church – Missouri Synod“ (LCMS) in St. Louis/USA, hielt mehrere Impulsreferate. Unter Bezug auf den deutsch-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr (1892-1971) gab er eine Einführung zum Thema „Christus und Kultur“. Er betonte, Christen seien aufgeschlossen gegenüber den vielfältigen Phänomenen von Geschichte und Gesellschaft, weil in ihnen Gottes Schöpferhand erkennbar sei. Doch da wir in einer gefallenen Welt lebten, sei kritische Distanz zum Geist dieser Welt geboten. Dabei sollten wir uns nicht von apokalyptischen Schreckensvorstellungen gefangennehmen, sondern von Luthers Gelassenheit und Glaubenszuversicht anstecken lassen.
Die Teilnehmer bildeten immer wieder neue und überraschende Gesprächskonstellationen, und zwar unabhängig davon, ob sie nun aus der ELKIR oder der ELKER kamen. Es schälte sich im Lauf der Diskussionsrunden ein konservativer Grundkonsens heraus, dem die einen aus dogmatischen Gründen, die anderen aus pragmatischen Erwägungen zustimmten. In etlichen Punkten blieben die gegensätzlichen Auffassungen im Raum stehen. Pastor Spieth versicherte: „Man verzichtete darauf, Meinungsverschiedenheiten künstlich miteinander zu harmonisieren. Das war gerade das Angenehme an diesem Gesprächsforum.“
Über die Ausführungen von Dr. Anton Tichomirow, Dozent am Seminar der ELKRAS in Nowosaratowka bei St. Petersburg, wurden sich die Versammelten nicht einig. Der in Erlangen promovierte Theologe plädierte bei der Auslegung der Heiligen Schrift für die Unterscheidung von „Zentrum und Peripherie“. Maßstab sei das, „was Christum treibet.“ Dabei warnte er vor einem „papierenen Papst“, der uns ins Korsett zwingt. Ein fundamentalistisches Schriftverständnis geißelte er als Götzendienst. Christus sei größer als die Bibel. Unser Glaube beruhe auf einem existentiellen Verhältnis zu Christus, „unabhängig von äußeren Sicherungsmaßnahmen“. Dem wurde entgegengehalten, dass dies faktisch zur Aufrichtung eines „Kanon im Kanon“ führe, dessen Umfang niemand genau definieren könne.
Pastor Lebedew (ELKIR) forderte, die lutherische Gottesdienstliturgie am katholischen bzw. orthodoxen Vorbild auszurichten, und gab zahlreiche detaillierte Handlungsanweisungen, an die man sich als ordinierter Amtsträger verbindlich zu halten habe. Dem widersprachen Pastor Alexei Schepelew (ELKIR) und Dr. Tichomirow mit dem Hinweis, als Lutheraner seien wir eine Kirche der „armen Liturgie“. Das verkündigte Gotteswort habe im Mittelpunkt des gottesdienstlichen Geschehens zu stehen, der Rest sei Hilfsmittel.
In einem anschließenden Referat berichtete Gottfried Spieth von der Willow-Creek-Bewegung (Chicago) und deren Versuchen, das Evangelium säkularisierten Menschen nahezubringen. In modernen Verkündigungsformen wollte er keine Alternative, sondern eine Ergänzung zum traditionellen Gottesdienst sehen. Dafür gebrauchte er das Bild des alttestamentlichen Tempels: „Im Allerheiligsten wird die Liturgie gefeiert, aber draußen in den Vorhöfen sind spielerische und tänzerische Elemente, die den ganzen Reichtum der Sinneswahrnehmung umfassen, möglich und nötig. Auch das geschieht zur Ehre Gottes.“
Heftige Diskussionen erregte das Referat von Fridtjof Amling, Pfarrer der Evangelischen Gemeindegruppe an der Moskauer Deutschen Botschaft. Er erläuterte die EKD-Denkschrift „Mit Spannungen leben“. Hierin wird praktizierte Homosexualität zwar als Sünde bezeichnet. Zugleich wird geworben für eine kritische Begleitung dieser Bevölkerungsgruppe, was im Rahmen der Seelsorge sogar Segnungshandlungen einschließen könne. Dieser „Spagat“ ging der Mehrheit des Runden Tisches entschieden zu weit. Amling wurde entgegengehalten, dass der Wertemaßstab, der innerhalb der Gemeinde gilt, sich deutlich unterscheidet von den vielfältigen Verhaltensweisen, wie sie außerhalb der Gemeinde üblich sind (1. Korinther 5, 9-11). Kirche sei als Institution keineswegs „für alle“ da, sondern stelle einen „Tendenzbetrieb“ mit einem speziellen Wertekanon dar.
Ein Ergebnis dieses Treffens ist der verstärkte Wunsch, einen kleinen theologischen Konsultativrat beider Kirchen zu bilden, der sich unter der Leitung der Bischöfe regelmäßig oder nach Bedarf trifft. Ein Ziel wäre es, einvernehmliche Lösungen in strittigen Bereichen (z.B. in Fragen der Ordination) zu finden und so ein geschlosseneres Auftreten nach außen hin zu ermöglichen.
Dr. William Yoder und Gottfried Spieth
Berlin und Moskau, den 17. August 2006
Eine Presseerklärung der Evangelisch-Lutherischen Kirche Europäisches Rußland (ELKER). Die ELKER wird geleitet von Bischof Siegfried Springer, Moskau. Sie ist die größte Teilkirche der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, der Ukraine, Kasachstan und Mittelasien (ELKRAS). Die ELKRAS wird geleitet von Erzbischof Dr. Edmund Ratz, St. Petersburg.
Zur Veröffentlichung freigegeben. Meldung Nr. 8 (und Kommentar), 780 Wörter