Das Zerstörungswerk vollenden oder kleine Brötchen backen?
Vor einigen Monaten gab es im „Neuen Deutschland“ ein Foto von zwei Jugendlichen in ostdeutscher Landestracht auf einem Treffen der Landsmannschaften. Die Unterschrift lautete: „Die Ewiggestrigen“.
Aber wer schaut eigentlich nach hinten? Könnten es nicht auch manche Linken sein, die Osteuropa – oder den ehemals deutschen Osten – einfach abgeschrieben haben und sich nun weigern, die neue europäische Wirklichkeit in Rechnung zu stellen? Ist die rein westliche Ausrichtung nicht auch eine „Frucht“ des verblichenen Kalten Krieges? Und steht uns als Christen die Aufgabe zu, das Zerstörungswerk über eine 700-jährige deutsche Kultur im baltischen und osteuropäischen Raum zu vollenden?
Aber ich will nicht missverstanden werden: Das alte (mörderische) Europa wollen wir gar nicht wieder haben. Um des Friedens und der Verständigung willen müssen wir von allen Träumen bezüglich eines erneuten Ausdehnens deutscher Staatlichkeit gen Osten Abschied nehmen. Es darf auch nie wieder zu Vertreibungen oder Zwangsumsiedlungen kommen.
Die Staatlichkeit ist zum Glück nicht das A und O. Wo kämen wir ja hin, wenn jede Volksgruppe in Mittel- und Osteuropa meinte, den eigenen historischen Anspruch durchsetzen zu müssen? Auch ohne deutsche Straßenschilder und deutsche Konditoreien – allerdings ein besonders herber Verzicht! – lässt es sich als Deutsche(r) in einer deutschen Volksgruppe in Osteuropa leben. Ich mag den Satz des Lutheraners Hans-Ulrich Karalus, eines ehemaligen Ostpreußen, der viel für die heutigen Bewohner in der alten Heimat tut: „Ich kann das Land lieben ohne es zu besitzen.“
Ich höre noch oft ein lustiges, müdes Lächeln über die Gemeinde mit dem einprägsamen Namen: Königsberg-Klapperwiese. Das soll eine längst abgehakte Geschichte sein. Aber das ist mir zu wenig: Genau um die Ecke von der verschollenen Kapelle stehen die Wohncontainer des Straßenkinderprojekts „Jablonka“, einer von Lutheranern und Pfingstlern betriebenen Initiative. Sollte es da vielleicht einen Zusammenhang geben?
Eine deutsche Präsenz – ob recht oder schlecht - kehrt ins Baltikum zurück. Das ergibt sich schon aus den wirtschaftlichen Größenordnungen. Lasst uns nach unseren bescheidenen Möglichkeiten mit dafür sorgen, dass es da mit rechten Dingen zugeht. Uns wohlgesonnene Russen wollen wir in die Arme schließen - davon gibt es auch eine ganze Menge. Mit dem Rest, mit den Nationalisten jeglicher Prägung, suchen wir inständig das Gespräch.
Zwei Dinge springen ins Auge wenn ich über das heutige Russland nachdenke: die Perspektivlosigkeit und der starke Wunsch nach Auswanderung. Das betrifft auch die Baptisten in der Kaliningrader Enklave: Allein 20 Chormitglieder in der „Friedenskirche zu Königsberg“ haben in den letzten Jahren ihren Wohnsitz nach Nordamerika verlegt; in den vergangenen 30 Jahren hat sich in Königsberg dank der Ausreisen eine völlig neue Gemeinde zusammengefunden.
Wie können wir die Milliarden, die die armen Länder der Erde bevölkern, zum Dienst vor Ort in der Heimat ermutigen? Es liegt auf der Hand, dass die ganze Menschheit nicht nach Deutschland, Nordamerika oder Australien auswandern kann. Wir bedürfen anderer Optionen. Ganz wichtig ist hierbei, dass wir durch Kreditvergabe und Ausrüstungsbeschaffung zur Bildung neuer Existenzgrundlagen beitragen. Darüber wird auch in kirchlichen Kreisen des Königsberger Gebietes gedacht und erprobt, alles steckt aber noch in den Kinderschuhen. Sicher: Wir werden nur einen Tropfen auf den heißen Stein liefern, aber auch das wollen wir nicht verschmähen.
Natürlich besitzen Menschen wie ich mit einem ausländischen Pass nur eine begrenzte Glaubwürdigkeit. Ich will jedoch für mein Teil versuchen, durch meine Tätigkeiten als Missionar, Dozent und Publizist zum Verweilen in Reichnähe der Armut ermutigen. Warum ziehen nicht ein paar deutsche EFGler mit gesicherter Rente zeitweilig nach Mittel- oder Osteuropa um? Was amerikanische Rentner-Missionäre tun, müssten deutsche Rentner auch können: sich vor Ort um die Betreuung und Begleitung einer polnischen Baptistengemeinde kümmern. Noch sind für uns die Miet- und Immobilienpreise himmlisch; da waren die Eltern und Großeltern ohnehin schon mal zuhause.
Wer noch Kapazitäten hätte, könnte sich in Polen oder Russland an die Eröffnung einer der fehlenden, deutschen Konditoreien machen! Seine neuen Angestellten würden es ihm zu danken wissen. Es bestehen unzählige Möglichkeiten, einen wichtigen, diakonischen Dienst zu tun; auch der Sprachenunterricht ist überall erwünscht (Glogow/Glogau in Schlesien z.B.)
Um 1840 erkannte Johann Gerhard Oncken im Osten Europas fast grenzenlose Möglichkeiten zur Entfaltung protestantischen Gemeindelebens. Und die preußische Vereinigung reichte, meine ich, bis Sofia. Wahrscheinlich sind die heutigen Möglichkeiten nicht viel anders. Auch wir dürfen wie Oncken mit kleinen Brötchen anfangen.
Dr. William Yoder
Berlin, den 15.2.03
Verfaßt für das jährliche Berichtsheft der "Vereininigung Berlin-Brandenburg" im "Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden", 690 Wörter
Nachtrag von August 2021: Der Heppenheimer Hans-Ulrich Karalus (1923-2009) bemühte sich redlich um das Dorf Lomonossowka (einst Permauern bzw. Mauern) östlich von Polessk/Labiau. Dafür erhielt er 1996 das Bundesverdienstkreuz. Seine Bemühungen waren jedoch im Wesentlichen vergeblich: das neuwertige Gemeindehaus/Kulturzentrum wurde 2012 von der lutherischen Propstei in Kaliningrad verkauft, die wirtschaftlichen Vorhaben eingestellt. Es fehlten, wie fast überall, geeignete und engagierte Menschen vor Ort.
Heute - im Vergleich zu 2003 - gehe ich behutsamer mit dem Namen "Königsberg" um.