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Paten sind eher gefragt als Partner

Zum Stand der lutherischen Kirche in Rußland

 

Siegfried Springer will lebendige Gemeinden in Rußland sehen. Auch deshalb verzichtet er auf den ihm zustehenden Ruhestand: Der 71-jährige ist heute Bischof der ELKRAS (Ev.-Lutherischen Kirche in Rußland und anderen Staaten) für das europäische Rußland mit Sitz in Moskau. Der Herzoperierte denkt auch gar nicht ans Aufhören und will weitermachen "solange mir Gott die Kraft dazu gibt und ich das meinen Angehörigen zumuten darf".

 

Gerade im europäischen Rußland sind in den 90er Jahren 100 lutherischen Gemeinden neu entstanden. Doch um seinen Traum zu verwirklichen, ist der Bischof immanent auf die Hilfe seiner Glaubensgenossen im westlichen Ausland angewiesen. Er erzählt: "Wenn ich mich an eine deutsche oder amerikanische Kirche wende und um Hilfe bitte, ist man bereit, mir Partnerschaften anzubieten. Doch Partnerschaften verwalten macht mir Arbeit, statt mir Arbeit abzunehmen. Verständlicherweise wollen Partnergemeinden nicht nur eine Kuh sein, die gemolken wird, sie wollen auch Austausch und Begegnung erleben. Doch dazu sind die meisten unserer Gemeinden noch gar nicht in der Lage. Wir brauchen qualifizierte Mitarbeiter, die als Missionare mit einem von der Heimat ausgestatteten Gehalt zu uns kommen. Wir haben eigentlich noch keine eigenen Einnahmequellen in Rußland. In der jetzigen Aufbauphase sind wir angewiesen auf Verständnis und die Mitverantwortung unserer ausländischen Freunde."

 

Er fährt fort: "Ich kann einen gebildeten Russen für die Arbeit unserer Kirche gewinnen, aber er wird im Umgang mit westlichen Kirchen absolut inkompetent sein. Eigentlich brauchen wir Paten, nicht Partner. Wir sind partnershaftsbedürftig, aber nicht partnerschaftsfähig. Patenschaften sollten aber darauf aus sein, irgendwann auch Partner zu werden. Das ergibt sich wenn die Vollreife, die Selbständigkeit und Mündigkeit, erreicht ist. Aber wir sind noch auf dem Wege dahin. Wir brauchen erst einmal Paten, die unsere Gemeinden an die Hand nehmen."

 

Nun bestehen in Rußland Strukturen für die Wiederbelebung eines lutherischen Christentums. Doch noch mangelt es an geistlicher Substanz. Die erschreckende Personalnot der lutherischen Kirche ist u.a. darin zu erkennen, daß der Moskauer Bischof ohne Referenten auskommen muß. Für alle finanziellen, juristischen und baulichen Angelegenheiten ist er selbst irgendwann "zwischen acht Uhr früh und Mitternacht" zuständig.

 

Das - primar deutsche - Luthertum in Rußland hat den Vor- und Nachteil, auf eine große und traditionsreiche Vergangenheit zurückblicken zu können. Kompliziert wird die Lage u.a. dadurch, daß das europäische Rußland mit zahlreichen, historischen Kirchen bestückt ist, die weiterhin eines zahlkräftigen Nutzers harren. Als Beispiel führt der Bischof die 1.200 Sitzplätze fassende Kirche in Marx/Wolga an. Hätten sich nicht 2,5 Mio. Deutschstämmige in den letzten 10 Jahren für die Ausreise entschieden, wäre auch diese Kirche relativ leicht zu erhalten. Doch nun besteht die Gemeinde aus 90 Gläubigen, Zweidrittel von ihnen jenseits des 70. Geburtstages. "Aber die Glieder dieser Gemeinde bestehen auf ihrer Kirche," erzählt Bischof Springer, "denn in ihr wurden sie einst getauft oder konfirmiert. Doch in der ganzen Umgebung von Marx (bei Saratow an der Wolga) gibt es vielleicht 1% Deutsche. Früher war es fast umgekehrt." Vor 100 Jahren hatte Moskau 17.000 evangelische Gläubige - heute sind es 700. Dabei geht es dem Bischof keineswegs um die Pflege von Kulturdenkmälern, sondern nur darum, daß Gemeinden eine zumutbare Versammlungsstätte finden. Da fragt er sich immer: "Erdrücke ich eine Gemeinde, wenn ich eine Kirche zurückfordere? Mache ich die Gemeinde kaputt, wenn sie sich einen solchen Bau nicht leisten kann?" Wenn Lutheraner keine passende Nutzung für ihre einstigen Gebäude finden, gibt sie der Staat an andere Interessenten weiter - und das schmerzt.

 

Längerfristig glaubt Siegfried Springer nicht, daß es wieder so wird, wie es einmal war. Die deutschen Sprengsel im ewigen Rußland werden nun bescheidener, kleiner und russischer sein müssen als sie es vor der Oktoberrevolution waren. Infolge der Revolution seien die Deutschen nun gebrannte Kinder; das Wohlstandsgefälle zwischen Deutschen und Russen werde sich nicht in gleicher Weise wiederholen dürfen. Schon jetzt finden manche Gottesdienste ausschließlich auf Russisch statt.

 

Biographisches

Die nicht nachlassende Betriebsamkeit des Bischofs ist u.a. darauf zurückzuführen, daß er sehr lange - bis 1992 - auf die Rückkehr in das Land seiner Kindheit warten mußte. Seine langjährige Mitarbeit in evangelischen Kreisen, die sich mit dem Los der Christen in Osteuropa befaßten, sorgte dafür, daß er schon lange vor seiner Rückkehr über die Lage des osteuropäischen Luthertums bestens informiert war. Im Jahr 1976 wurde er Leiter der Aussiedlerarbeit im Kirchenamt der EKD/Hannover. Seit 1984 ist er zusätzlich Leiter der "Kirchlichen Gemeinschaft der Ev.-Lutherischen Deutschen aus Rußland" mit Sitz in Bad Sooden-Allendorf südlich von Göttingen.

 

Es ist der christliche Glaube, der die Rückkehr des Bischofs nach Rußland herbeiführte. Im Jahr 1938 wurde sein Vater, der Lehrer Edgard Springer, im sowjetischen Kerker erschossen. Zum Glück ist der Rest der Familie nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 nicht nach Sibirien verschleppt worden. Beim Rückzug der deutschen Wehrmacht verschlug es die Familie Springer nach Westpreußen; erst als Zwangsarbeiter in Polen 1944-47 machte der Junge Erfahrungen mit dem christlichen Glauben. Er erzählt: "Mich hat der Glaube gepackt und ich habe gefragt, wie es sein konnte, daß die Menschen der Sowjetunion an diesem Inhalt vorbei leben." Von daher verspürte er 45 Jahre lang den Drang, "die Botschaft dorthin zu tragen, woher ich als Ungläubiger gekommen bin".

 

Hegt er einen Groll gegenüber den Russen wegen des Todes seines Vaters? "Nein", antwortet er. "Der Menschentyp, der das zu verantworten hat, habe ich auch in Deutschland während der Besatzungszeit und danach angetroffen. Das ist ein systembedingtes Verhalten. Dem russischen Volk gegenüber fühle ich mich missionarisch verpflichtet. Nur wenn ich mal Leute sehe mit Stalin-Transparenten und den alten Parolen, muß ich stark an mich halten und innerlich ruhig bleiben."

 

William Yoder

Berlin, den 26. November 2001

 

Zur Veröffentlichung freigegeben, 945 Wörter

 

Anmerkung von September 2021: Siegfried Springer ist im Januar 2019 in Bad Sooden-Allendorf verstorben. Er diente als Bischof in Rußland von 1992 bis 2007.