Laborbau in Kaliningrad
Es fielen hehre Worte als Professor Wladimir Gilmanow am 20. Mai 2000 vom Podium des neuen lutherischen Gotteshauses in Kaliningrad (Königsberg) referierte. "Dieses Kaliningrad könnte ein wahres Laboratorium des moralischen und politischen Denkens im Ostseeraum werden," versicherte der jugendhaft wirkende Philologe. Und zwar "durch die Einbeziehung der aus dieser Region vertriebenen Menschen und jener der Anrainer-Staaten".
Bei den heutigen Bewohnern Nordostpreußens stellt dieser Professor an der einstigen Lehrstätte Immanuel Kants einen fundamentalen Identitätszusammenbruch fest. "Dieses Land ist besonders stark von der gnadenlosen Entwurzelung und Entgeistung geprägt," sagte er. "Hier ist das Gefühl des Irregeführt-Seins besonders stark." Als Teillösung stellt er sich eine neue Identitätsfindung vor: "Die Suche nach Identität führt im Endeffekt zu der Erkenntnis, dass es sich in diesem Gebiet um die Heimat mindestens zweier oder einiger Völker handelt." Und weiter: "Moral, die Sprache des Vertrauens und der Anteilnahme, kann nicht innerhalb der Kultur eines einzigen Volkes entstehen. Erforderlich ist ein neues Gefühl europäischer Zusammengehörigkeit. Dafür liegen die Schwierigkeiten nicht auf technischem, sondern auf geistigem Gebiet. Es gilt, in Ost und West neues Vertrauen aufzubauen."
Noch auf die Liebe kam der ungewöhnliche Professor zu sprechen: "Die Liebe ist durch ihre wunderbare pragmatische Stärke im Stande, Bastionen der nationalen Egoismen zu bekämpfen." Gerade in der Angst und im Fehlen politischen Mutes innerhalb und außerhalb Russlands sieht er den Grund für den bisherigen Verzicht, die zur Sanierung des Gebietes notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.
Und was sagen wir in Deutschland dazu? Gehören Deutsche notwendigerweise zum in diesem lädierten Landstrich erforderlichen Genesungsprozess? Das würde der gütige Gelehrte kräftig bejahen. Und dürfen auch wir, die deutschen Baptisten, eine angestammte Heimat aus Angst vor dem Revanchismus des eigenen Volkes einfach abschreiben? Den Heilungsprozess haben auch die ehemaligen Ostpreußen und deren Nachkommen selber nötig. Die grausamen Folgen der Vertreibung verschweigt Prof. Gilmanow nie.
Können und dürfen sich Deutsche einmal wieder des Schicksals des baltischen Raumes annehmen? Ich würde meinen: Ein paar Leute auf jeden Fall. Eine geballte Rückkehr würde u.a. viel Porzellan zerschlagen. Der Porzellan ist durchaus noch vorhanden, denn mit einem Abrücken des russischen Staates ist nicht zu rechnen - und dürfen wir auch gar nicht wollen. Manche von uns verfügen über ein hohes Maß an gutem Willen, jedoch noch nicht über die nötige Sensibilität für den Umgang mit einem großen, darbenden Volk.
Deutsche sind in Nordostpreußen gefragt - doch anders als früher. Ohne eine Gesinnung des Friedens bleibt uns der Zugang versperrt. Kann ich mich in die Lage anderer versetzen? Werden die Niederlagen der Russen auch meine Niederlagen? Trifft auch mich der zeitweilige Niedergang eines stattlichen, benachbarten Volkes?
Fest steht, dass ein erneuter Zugang zu dieser Region nicht billig zu haben ist. Eine substantielle Verständigung wird nicht auf Anhieb gelingen, dazu sind unsere Beziehungen viel zu fragil. Es ist auch mit keinem schnellen Dank - erst recht nicht seitens der Zollbehörden! - zu rechnen. Schon wegen des ökonomischen Gefälles bleiben die Aussichten auf Missverständigung riesig. Die "romantische Ära" zwischen den Deutschen und den Einwohnern Nordostpreußens Anfang der 90er Jahre ist nach Gilmanows Einschätzung längst wieder passé.
Wer sich sinnvoll und längerfristig in Nordostpreußen betätigen will, kommt über das Erlernen der Sprache nicht hinweg. Im Sprachenerwerb sind die Russen nur wenig begabter als die Amerikaner. Aus Deutschland wird sich aber wenig anstoßen lassen; eine Präsenz dicht neben der dortigen Bürokratie ist unabdingbar.
Zweifellos ist die Völkerverständigung nicht das Thema derer, die jetzt in Kaliningrad nach einem Notpflaster wie Suppe und Decken anstehen oder Ansichtskarten verhökern. Doch nur eine gesamteuropäische Annäherung kann solchen Menschen zu einer langfristigen Perspektive verhelfen. Es ist eben die allmähliche Auflösung "nationaler Egoismen", die der Oblast Kaliningradskaja eine Perspektive verschafft. Ein ideologisiertes, autarkes und nationalistisches Russland könnte diesen Menschen womöglich wieder mit Brot und Obdach versorgen, doch gerade ein auf diese Weise wiedererstarkter Staat wäre ein Unglück ersten Ranges für das restliche Europa.
Es wäre gewiss oberflächlich, unsere Schwestern und Brüder in Nordostpreußen nur mit durchaus notwendigen materiellen Hilfssendungen zu versehen. Auch der inhaltliche, geistige und geistliche Austausch ist vonnöten. Da bedürfen wir auch selber des inneren Wandels.
In unserem Bund gibt es die "Dienste in Israel". Könnte es nicht auch die "Dienste in der Region Kaliningrad" - oder im gesamten, ehemaligen Ostpreußen - geben? Da gibt das Budget unseres Bundes wohl nichts her - doch vielleicht geben die ehemaligen Bewohner Nordostpreußens und deren Nachkommen mehr her. Seit 1993 haben die evangelischen "Salzburger" mit Gemeinde und Diakonie in Gusew (Gumbinnen) wieder Fuß gefasst. Könnte sich nicht etwa eine ev.-freikirchliche Diakoniegemeinschaft in ähnlicher, bescheidener Weise im Raum Kaliningrad niederlassen?
Wir sollten keine größere Masse auf den Weg schicken, und sind dazu auch gar nicht in der Lage. Aber warum nicht Eine(n), Zwei, oder Drei mit offenen Ohren und brennenden Herzen gen Nordosten entsenden?
William Yoder
Berlin, den 3. Juli 2000
Verfaßt für die baptistische Zeitschrift „Wort und Werk“ in Berlin, 780 Wörter