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Wie verhalten sich Christen in der Abtreibungsfrage?

Beratungsscheine helfen, Abtreibungen zu ermöglichen

Ein Gespräch mit zwei baptistichen Pastoren

 

Pastor Hartmut Wahl ist Leiter von der Ev. Beratungsstelle Berlin-Pankow und "Beratung und Lebens­hilfe e.V." Pastor Dr. Uwe Swarat ist Dozent für Systematische Theologie am Theologischen Seminar in Elstal. Er gehörte 15 Jahre lang dem Leitungskreis der Lebensrecht-Initiative "Pro vita" an.

 

Yoder

Was hat manche Beratungsstellen unseres Bundes bewogen, Scheine auszustellen, die nach jetziger Gesetzeslage einen legalen Schwanger­schafts­abbruch mit ermöglichen?

 

Wahl

Wir haben uns zu Anfang sehr schwer getan und lange überlegt, ob wir das mittragen würden, weil wir die Problematik natürlich gesehen haben. Wir haben uns dann entschieden zu sagen, wir machen es, aus dem Grund, dass wir u.U. dann ganz wenige oder überhaupt keine Frauen mehr wegen Schwangerschaftskonflikte bekommen hätten.

 

Wann fing die Sache mit den Beratungsscheinen an?

Wahl

1993 wohl. Wir haben es aber allen Mitarbeitern freigestellt, ob sie auch mitma­chen. Darum gibt es auch Mitarbeiter, die diese Arbeit nicht machen. Wir haben von vornherein die Gefahr gesehen, dass Frauen kommen und sagen, wir wollen nur den Schein haben. Kriegen wir es dann noch hin, mit denen zu reden? Schaffen wir es, dass sie auch die andere Seite sehen? Es geht hier um Leben und Tod und wir wissen nicht, was letztendlich dabei herauskommt. Das ist eine SEHR schwere Arbeit für die Berater. Wir haben uns aber ganz pragmatisch gesagt: Wenn von 100 Frauen nur eine einzige Frau es sich nochmals überlegt, dann haben wir es bei einer Frau geschafft. Dann wollen wir, so schwer es auch ist, die 99 auf unsere Seele nehmen und sagen: "Bei einer Frau wenigstens haben wir es geschafft."

 

Die Erfahrung zeigt, dass etwa 20% der Frauen bei diesen Gesprächen nochmals nachdenken und von manchen wissen wir auch, dass sie ihren ersten Entschluss, mit dem sie gekommen waren, revidiert haben. Von manchen haben wir hinterher ganz überrascht mitbekommen, dass sie doch nicht abgetrieben haben. Wir haben eine Pinnwand, da hängen wir die Bilder von den Kindern an, die wir zugeschickt bekommen. Frauen nehmen den Schein mit, und wir wissen oft nicht, wie sie sich entscheiden werden. Wir kriegen es ja mit, wenn Frauen dann mit dem Kind kommen und eine soziale Hilfe haben wollen. Es stehen auch Frauen plötzlich vor der Tür und sagen: "Ein Satz oder zwei Sätze von ihnen sind uns so mitgegangen. Deshalb haben wir es uns nochmals überlegt. Dafür danken wir ihnen. Hier ist das Kind."

 

Aber eine Frau, die nur den Schein haben will, wird ihn auch bekommen.

Wahl

Ja, dazu sind wir verpflichtet. Ich kann mir eine Zwangsberatung aber kaum vorstellen. Mit diesen schwangeren Frauen erlebe ich Folgendes: Manche Frauen, die sich völlig zumachen und sagen: "Ich will nichts hören, ich will nur den Schein," nehmen den Schein, stehen auf, und erst dann fangen sie an zu reden. Ihnen sage ich: "Setzen Sie sich nochmals hin. Nehmen Sie sich Zeit." Aber sie halten diesen Schein erst einmal fest. Und dann erzählen sie, wie schwer es ihnen doch falle, wie schlimm das für sie sei usw. Hier merke ich, dass der Schein wie eine Sicherheit ist. Erst wenn der Weg zur Abtreibung frei ist, fangen sie zu reden an.

 

Könnten man rechtlich gegen euch vorgehen, wenn ihr einer Frau den Schein verweigert?

Wahl

Eigentlich nicht. Wenn wir uns weigern würden, hätten wir auch einen guten Grund dafür. Ich denke, eine solche Frau würde sich einfach sagen: "Das hole ich mir woanders."

 

Ihr macht es, weil ihr das Gespräch mit diesen Frauen wollt.

Wahl

Wir machen es, weil wir sagen: Diese Frauen sind in einer unendlich großen Belastung und oft sehr alleine gelassen. Wir wollen ihnen die Möglichkeit geben, mit uns zu reden. Und bei uns haben sie genügend Zeit. Das schätzen auch bestimmte Gynakologen, die uns fast gezielt Frauen schicken. An sich dürfen sie das nicht. Aber manche sagen: "Wenn Sie ein gutes Gespräch haben wollen, gehen Sie da hin." Und die Frauen gehen dann oft weg und sagen: "Es war gut, dass wir hier noch einmal darüber reden konnten."

 

Hartmut Steeb, Geschäftsführer der Deutschen Ev. Allianz, lehnt den Beratungsschein ab und sieht in ihm eine "Verdunkelung unseres Zeugnisses". Er warnt davor, der Abtreibung "Steigbügelhalterdienste" zu leisten. Wie sieht das der Ethiker und Systematische Theologe Uwe Swarat?

Swarat

Ich meine, es gibt gute Gründe auf beiden Seiten in dieser Diskussion. Ich selber bin misstrauisch gegen jeden, der hier seine eigene Entscheidung für die einzige moralisch oder ethisch Richtige hält. Für die Ausgabe eines solchen Beratungsscheins spricht eindeutig, dass Frauen, die noch unentschlossen sind, mit der Beratung erreicht werden können. Diese unentschlossenen Frauen bestehen verständlicherweise auf einem Beratungsschein. D.h.: Wenn man den Schein ausgibt, hat man die Chance, Kinder vor der Abtreibung zu bewahren. So kann man unentschlossene Frauen zu einer Entscheidung für das Leben ermutigen. Das spricht dafür. Gegen den Schein spricht natürlich, dass er ein wesentliches Element ist in dieser Abtreibungsmaschinerie, die mit der Tötung des Kindes endet. Wer den Schein ausstellt, wirkt mittelbar, nicht unmittelbar, an der dann stattfindenden Abtreibung mit. Das muss man sich klar machen. Es gibt aus meiner Sicht wichtige ethische Gründe für die Ausstellung eines solchen Scheins und einen genauso wichtigen ethischen Grund dagegen.

 

In diesem Haus ist es erfreulicherweise so, dass man individuell als beratende Person über die Mitarbeit entscheiden darf. Ich meine doch, dass Berater und Beratungsstellen auf jeden Fall schuldig werden in dieser Situation, ganz gleich wie sie sich entscheiden. Entscheiden sie sich gegen das Ausstellen eines solchen Scheins als Institution, dann erreicht man viel weniger unentschlossene Frauen. Wenn man sich beteiligt, wird man mitschuldig an den Abtreibungen, die mit dem Schein hinterher stattfinden.

 

Was würdest du tun als Berater?

Swarat

Wenn ich sage, dies sei eine Gewissensentscheidung, dann heisst das, dass man die Entscheidung nur für sich persönlich treffen kann. Ich kann keinem anderen ethische Ratschläge erteile wenn ich dessen Gesichtspunkte nicht kenne. Und ich kann mich auch nicht in seine Person hineinversetzen, wenn ich nicht selber diese Verantwortung trage. Deswegen will ich gar nicht darauf antworten, was ich tun würde an der Stelle von Personen, an deren Stelle ich nicht stehe.

 

Der Leitungskreis von "Pro vita" rät den mit ihm verbundenen Kreisen von einem "Einstieg in die staatliche Beratung mit Scheinerstellung" ab. Wenn manche es dennoch tun, will er deren Entscheidung "respektieren".

Wahl

Jeder, der in helfenden Berufen tätig ist, wird Situationen vorfinden, in denen er genauso schuldig wie unschuldig wird. Bei einem großen Eisenbahnunglück mit nur wenigen Helfern muss der Arzt welche sterben lassen und welche retten. Oder wenn ich einen Suizidgefährdeten berate, habe ich den Ausgang nie in der Hand. Wenn er sich das Leben nimmt, kann ich nie mit Sicherheit sagen, ich hätte alles getan. Ein Rest an Unsicherheit bleibt.

 

Gibt es ev.-freikirchliche Frauen, die einen Beratungsschein haben wollen? In welchem Maße gibt es Abtreibungen unter uns?

Wahl

Es wird EFG-Frauen nicht anders gehen als anderen Frauen, sie haben auch solche Konflikte. Ich habe sehr wohl Frauen kennengelernt, die gesagt haben: "Ich hätte mir nie vorgestellt, dass ich an diesen Punkt komme, und trotzdem bin ich da. Und es geht mir ganz schlimm dabei." Was ich erlebe eher, ist, dass solche Frauen ein wacheres Gewissen haben. Sie machen es sich sehr schwer und können nicht so knallhart sein. Sie leiden unendlich in dieser Situation. Diese Haltung ist aber nicht typisch freikirchlich: Das habe ich mit einer jungen Muslimin genauso erlebt.

 

Swarat

Ein grundsätzliches Nein zu irgendeinem Verhalten verhindert nie, dass man in bestimmten Situationen doch der Versuchung nachgibt. Die Tatsache, dass unsere Gemeinden überwiegend Abtreibung ablehnen, bedeutet nicht, dass es so etwas bei uns nicht gibt. Jeder Mensch kann fallen, und die frömmsten Christen vielleicht am dramatischsten. Da dürfen wir uns keine Illusionen hingeben. Es ist nur eine Frage, ob da die betreffenden Frauen das ausreichende Mitgefühl und Beistand bekommen, denn außer dem abgetriebenen Kind ist die Frau immer das zweite Opfer. Und wenn es mal geschehen ist, gehört die Sache in die Beichte, wo auch Vergebung empfangen werden kann. Das ist in dieser Situation ganz wichtig.

 

Sind auch die Männer bei diesen Beratungsgesprächen eingeschaltet?

Wahl

Es ist das erstaunlich, dass inzwischen etwa die Hälfte der Frauen mit einem Partner kommen. Manchmal empfinden wir das als sehr gut, manchmal als eine Katastrophe. Wir können diese Männer aber nicht aus dieser Beratung heraushalten wenn sie für die Seite einstehen, die das Leben verneint. Eine Frau sitzt hier und weint und macht allein durch ihr Weinen deutlich, dass sie enorm betroffen ist und eigentlich gerne das Kind behalten würde. Aber ihr Mann redet die ganze Zeit, lässt sie nicht zu Wort kommen und sagt auch manchmal: "Ich bin hierher gekommen, damit meine Frau es sich nicht anders überlegt." Oder er meint: "Das ist nicht mein Kind, es soll kein Kind werden." Aus, vorbei.

 

Genau diese Situation erleben wir oft später in der Paarberatung: Das damalige Verhalten hat nicht nur den Tod eines Kindes mit sich gebracht, sondern auch den Tod einer Beziehung. Es kann aber auch toll sein wenn Männer sich so betreffen lassen und begreifen: Ich bin auch mit schwanger, auch ich erwarte ein Kind.

 

Kann man die Frau nicht wissen lassen, dass sie gerne auch ohne den Mann kommen dürfte?

Wahl

Ja, aber was will man machen wenn er sagt, er werde mitkommen? Manche Frauen sagen es auch: "Ich will gar nicht mit meinem Mann kommen. Denn ich habe versucht, mit ihm darüber zu reden, und es ging nicht."

 

Swarat

Ist gibt noch einen Aspekt bei der Frage des Scheins. Diese Scheinvergabe stellt eine problematische Verbindung von Staat und Kirche dar: Die Begleitgesetze zum Paragraphen 218 bürden den Schutz des ungeborenen Lebens vollständig der Beratung auf. Die Kirchen und christliche Vereine müssen fast alleine für den Schutz des ungeborenen Lebens gerade stehen. Es gibt teure Kampagnen zum Thema Aids und Kondome, aber man hat nie eine staatliche Kampagne erlebt, die für das ungeborene Leben eingetreten wäre. Dass die Kirchen mitwirken an der Beratung und damit an dem ganzen Abtreibungsprozess sichert dem Staat ein moralisches Alibi. Es sind Hundertausende von Abtreibungen pro Jahr, und der Staat bleibt tatenlos weil die Kirchen ja beteiligt sind, und dann kann es nicht ganz so schlimm sein. Der Staat missbraucht die Christen, in dem er deren Beratungsengagement als Rechtfertigung für seine eigene Tatenlosigkeit einsetzt.

 

Darum reagieren viele Politiker so enttäuscht wenn die katholische Kirche Ausstiegspläne aus dieser Beratung erwägt. Die Politik und der Staat sind jetzt sehr ärgerlich, weil dieses moralische Alibi und die Garantie für das gegenwärtige Abtreibungsgesetz zu bröckeln scheint.

 

Ich sehe, wir steigen schon bei der Kirchenpolitik ein. Der Ev. Ratsvorsitzende Bischof Manfred Kock hat sich öffentlich darüber gefreut, dass die evangelischen Landeskirchen in der Frage des Beratungsscheines sehr viel pragmatischer vorgehen und sich von der vermeintlich dogmatischen Haltung Roms abgrenzen. Er sagte z.B., die Vorgänge in der katholischen Kirche machten "die guten Gründe sichtbar, warum wir evangelisch sind". Teilt ihr seine Genugtuung?

Swarat

Die Lage in der katholischen Kirche ist sehr spannungsvoll. Ich empfinde es aber als ein Ruhmesblatt für die katholische Kirche, dass sie so ernsthaft diskutiert. Ich bin traurig über die allermeisten ev. Kirchen, denen diese Frage gar kein Problem zu sein scheint. Ich glaube, dass die katholische Kirche die Sache ernster nimmt und deshalb hier ein besseres christliches Zeugnis abgibt als die ev. Kirchen. Die Katholiken werden immer deutlicher als diejenigen wahrgenommen, die das Unrecht der Abtreibung thematisieren, und das ist ein großer Vorzug.

Ich glaube auch ganz fest, dass man eine Beteiligung am staatlichen Beratungssystem nur dann christlich verantworten kann, wenn die Beraterinnen und Berater selber ihr Nein zu jeder nicht medizinisch indizierten Abtreibung unüberhörbar deutlich machen. Nur wenn man energisch gegen diese massenhaften Abtreibungen schreit, hat man auch ein ethisches Recht, sich am Beratungsprozess zu beteiligen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, als würden Kirchen und Christen sich mit der gegenwärtigen Lage abfinden.

 

Es soll auch die Pille für den Tag danach geben. Was sagen wir dazu?

Swarat

Bei den verschiedenen Methoden oder Pillen ist eine grundsätzliche Klärung immer wichtig: Handelt es sich wirklich um ein Verhütungsmittel, oder wird damit ein bereits entstandenes menschliches Leben beendet? Der Punkt an dem die Wende stattfindet, ist die Verschmelzung von Ei und Samenzelle. Alles, was vorher wirkt, kann man als Verhütung betrachten, was nachher wirkt, ist Abtreibungsmittel. Ich selbst würde die Pille RU 486 nie als Medikament bezeichnen, weil es keine Heilwirkung hat. Es ist ein reines Tötungsmittel und als solches eine Perversion der Medizin.

 

Unsere Not heißt Abtreibung. Aber reden wir genug über Fragen der Verhütung? Oder gibt es einfach zu viele christliche Männer, die faul sind?

Wahl

Das fängt schon viel früher an! Reden wir überhaupt miteinander über das Leben? Verhütung, Schwangerschaft, Kindererziehung - da müssen Paare doch in der Lage sein, miteinander zu reden. Helfen wir Paaren, gesprächsfähig zu werden und durch Gespräche die Lösung von Konflikten zu finden? Wir müssen Menschen in die Lage versetzen, über ihre Nöte und Konflikte zu reden damit eine Krise die beiden nicht schon gleich auseinander bringt.

 

Swarat

Ich glaube, dass die Unterweisung über die Möglichkeiten der Verhütung bei allen Menschen in Deutschland - mit Ausnahme der Muslimen vielleicht - ausreichend groß ist. Dass es trotzdem unerwünschte Schwangerschaften gibt, zeigt ein psychologisches Problem an. Das kann man mit besseren Informationen nicht beheben.

 

Was wir in unseren Gemeinden brauchen, ist eine stärkere Förderung der Ehevorbereitung. Wir müssen in unseren Gemeinden systematisch Kurse für junge Leute, Verlobte und Verliebte anbieten. Ehe lebt sich nicht von alleine, sie muss gestaltet werden, und die meisten jungen Leute lernen das erst nach schmerzvollen Frusterfahrungen.

 

Dr. William Yoder

Berlin, den 16. November 1999

 

Verfaßt für die baptistische Zeitschrift „Wort und Werk“ in Berlin, 2.200 Wörter

 

Nachtrag von November 2021: Hartmut Wahl (geb. 1948) ist heute Pastor i.R. in Velten/NRW. Uwe Swarat (geb. 1955) ist weiterhin Professor für Systematische Theologie am Theologischen Seminar in Elstal bei Berlin.