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Lutheraner und Baptisten im Gebiet Kaliningrad 1998

Humanitärische Güter "sind vom Teufel"

 

Am 22. August 1998 feierte Gromowo/Nordostpreußen, ein entlegener Flecken südwestlich von Slawsk/Heinrichswalde, seinen ersten Gottesdienst seit mehr als fünf Jahrzehnten. Von der alten Dorfkirche steht nur noch der Turm; deshalb versammelte man sich in einem Bauernhaus. Zum historischen Ereignis war die gesamte lutherische Prominenz der russischen Exklave - drei ordinierte Pfarrer aus Deutschland und ein rußlanddeutscher Hilfsprediger - angereist.

 

Nach dem Gottesdienst mit seinem sehr elementaren Glaubensunterricht erkundigte sich der amtierende Propst, Peter Wittenburg aus Rostock, nach den geistlichen Biographien der 30 Versammelten. Zwei von ihnen waren deutscher Abstammung, eine weitere Frau hatte einst katholische Beziehungen. Alle anderen waren von kirchlichen Erfahrungen unbeleckt. Während des Gebets fiel einem einzigen Dorfbewohner ein, daß man beim Beten in Rußland immer aufsteht.

 

Angesichts dieser Traditionslücke bleibt bei den Evangelischen viel Raum für Innovation. Der Dresdner Kurt Beyer, der erste evangelische Propst in diesem Gebiet, erzählt gerne, er habe bei seinem Eintreffen 1991 die in Sachsen gängige Liturgie und Musik eingeführt. Eine andere kannte er nicht, und die Glieder seiner neuen Kirche kannten gar keine.

 

Von den 80 Familien des Dorfes hatten 27 um die Bildung einer Kirchengemeinde gebeten. Doch können es sich die Geistlichen terminlich leisten, eine weitere Predigtstätte einzurichten? Bereits jetzt haben sie 31 Gemeinden und Predigtstätten zu betreuen. Der Hilfsprediger Waldemar Michelis meinte: "Eigentlich wäre es ideal, wenn alle in die große Gemeinde nach Insterburg kämen. Aber die Busverbindungen sind sehr schlecht und sie hätten auch gar kein Geld, um die Fahrt zu bezahlen."

 

Und dabei fragten sich die Geistlichen: Geht es den Dorfbewohnern wirklich um den Glauben, oder eher um den Westanschluß und Zugang zum humanitären Güterfluß? In diesem Falle lagen ermutigende Indizien vor: Völlig ohne die Pastoren hatten sich die Gastgeber schon vorher auf ein Kirchgeld von fünf Rubel (1,5 DM) pro Monat geeinigt. "Wir überlegen es uns noch und sagen Bescheid," meinte der Propst zum Abschied.

 

Missionarische Erfolge haben die Lutheraner durchaus zu verbuchen. Obwohl in den letzten drei Jahren 1.000 ihrer Mitglieder nach Deutschland weitergezogen sind, rechnen sich nach wie vor rund 3.000 zur 1991 gegründeten lutherischen Gemeinde. Noch klappt es mit dem Nachzug deutschstämmiger und gemischter Familien aus den islamisch gewordenen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Erwachsenentaufen sind an der Tagesordnung: Im vergangenen Jahr fanden bis zu 250 Taufen und Konfirmationen statt. Dank ihres Standbeins im heutigen Deutschland schreibt die lutherische Kirchenleitung das ökumenische Anliegen ganz groß. Mit den zumeist polnisch- oder litauisch-geprägten Katholiken versteht man sich glänzend.

 

Doch für Diakonie haben die frischbekehrten Rußlanddeutschen wenig übrig: Eine Hilfe für ihre ehemaligen Peiniger stößt auf wenig Gegenliebe. Da heißt es z.B.: "Wieso gehen uns die russischen Straßenkinder etwas an? Die Russen haben uns so viel Böses angetan, jetzt müßten sie eigentlich uns helfen." Die Vorbereitungen für das frischeingeweihte Diakoniezentrum in Gussew/Gumbinnen mußten außerhalb der dortigen Gemeindeleitung laufen. Dort hofft man noch immer, daß Gemeindeglieder gemeinsam mit dem Stiftungsrat der "Salzburger" Verantwortung übernehmen. Das Fazit des Propstes: "Wir müssen von Jesus her ein ganz neues diakonisches Bewußtsein in den Gemeinden erwirken."

 

Die baptistische Szene

Ein Tag später, am 23. August, wurde in Königsberg die neue baptistische Kirche eingeweiht. Im Gegensatz zum lutherischen Neubau, der Ende Oktober eingeweiht werden soll, ist das baptistische Bauwerk das Ergebnis von Eigenarbeit. Auch deshalb konnten die Ausgaben auf 500.000 DM - zumindest ein Fünftel der lutherischen Kosten - begrenzt werden. Bei den Baptisten geht es sehr viel russischer zu: Unter den 300 Königsberger Baptisten sind nur zwei Familien deutsch-russischer Abstammung - Tendenz fallend. Alle drei ihrer Pastoren in der Exklave sind Russen. Die Baptisten erfreuen sich allerlei einheimischer Helfer und tiefer religiöser Wurzeln. Sie hadern jedoch mit der Last einer ausgrenzenden, nach innen gewandten Tradition.

 

Trotz aller staatlichen Ansprüche war dieser geschundene Erdenfleck eben nie wirklich atheistisch. Schon 1948 begannen russische Baptisten mit Hausgottesdiensten, 1965 erfolgte deren offizielle Zulassung. Viktor Schumejew, Baptistenpastor in Bagrationowsk/Preußisch Eylau, behauptet, man hätte sich schon sehr viel früher registrieren lassen können, aber "die Brüder sagten, noch sei nicht die Zeit dafür, wir brauchen das nicht". Nach seinen Angaben hatte es zwischen den registrierten Baptisten und den Behörden in Nordostpreußen "keine großen Schwierigkeiten gegeben". Schon 1953 war ihnen eine Königsberger Kirche in der ehemaligen Kranzallee angeboten worden, wegen des Sanierungsaufwandes dankten sie jedoch ab.

 

Interessanterweise ist der missionarische Erfolg dieser Baptisten bisher recht mäßig ausgefallen. Die Zahl der etwa sieben Gemeinden und Predigtstätten - sie haben im Gebiet 500 erwachsene Mitglieder - hat sich seit der Grenzöffnung 1991 nur geringfügig erhöht. Und zur Einweihung des baptistischen Gotteshauses in Königsberg sind aus der weltweiten Ökumene praktisch nur Baptisten gekommen. Nicht einmal ein Vertreter der nichtregistrierten Baptisten in der Stadt ist der Einladung gefolgt.

 

Obwohl sich die Lutheraner angesichts der Menge ihrer humanitären Lieferungen vor niemandem zu schämen brauchen, haben Baptisten beim Herausbilden diakonischen Bewußtseins wahrscheinlich die Nase vorn. Ein mittelloser, staatlicher Kindergarten, der sich gegenüber der neuen baptistischen Kirche befindet, konnte bereits auf Beschluß dieser russischen Gemeinde kostenlos mit in den Genuß der dortigen Bauarbeiten kommen.

 

Die Gemeinsamkeiten

Lutheraner und Baptisten leiden gleichermaßen unter dem Alleinvertretungsanspruch der Orthodoxie. Die rund 40 orthodoxen Kirchengemeinden sind jedoch viel zu dünn gesät, um ihrem Anspruch als Kirche aller Russen auch nur annähernd gerecht zu werden. Verschmitzt geben Baptisten an, die Russisch-Orthodoxe Kirche sei erst knapp vor den sogenannten Sekten in Nordostpreußen eingetroffen. Ihr erster Gottesdienst in der Nachkriegszeit fand im Dezember 1986 in der Königsberger Juditter Kirche statt. Die Präsenz von zumindest 5.000 Rußlanddeutsche in diesem Gebiet gibt den Lutheraner seitens der Behörden und Orthodoxie ihre Daseinsberechtigung. Propst Wittenburg betont jedoch vehement, seine Gemeinden seien für jedermann offen, alles andere "wäre Apartheid". In bestimmten lutherischen Gemeinden wird auch nur Russisch gepredigt.

 

Offensichtlich infolge der langjährigen Existenz in einer als feindlich erlebten Umgebung geht es weder unter Baptisten noch Lutheranern zimperlich zu. Gerade jetzt überwinden Königsberger Baptisten eine Gemeindespaltung; das Ausscheiden von Propst Wittenburg im kommenden November nach drei Dienstjahren ist teils auf die Querelen zwischen Pastorenschaft und einheimischen Gemeindegliedern zurückzuführen. Es heißt z.B., nirgendwo werde das neunte Gebot (Du sollst nicht falsch Zeugnis reden) mehr mißachtet als unter den Rußlanddeutschen. Nach Angaben des Propstes verzichtet die neuapostolische Kirche bereits seit mehreren Jahren auf das Verteilen humanitärischer Güter "weil sie vom Teufel sind". Er fügt hinzu: "Ich habe sehr viel Streit in der Gemeinde um diese Dinge erlebt."

 

Dr. William Yoder

Berlin, den 4. September 1998

 

Verfaßt für den Nachrichtendienst „Idea“, 1.014 Wörter

 

Anmerkung von November 2021: Der 1941 geborene Pastor i.R. Peter Wittenburg lebt in Rostock. Er war Propst in Kaliningrad von 1992 bis 1998. Der Dresdner Pfarrer Kurt Beyer (1932-2015) diente von 1996 bis 1996 als Propst in Kaliningrad. Vladimir Michelis, der 2002 ordiniert worden ist, lebt heute als Rentner in Tschernjachowsk (Insterburg). Man findet weitere Informationen über ihn unter der Rubrik „RU-Lutheraner“ vom 17. Januar 2003. Die Gemeinde Gromowo besteht nicht mehr.

             Ich habe heute das Gefühl, dieser Beitrag sei plakativ und verallgemeinernd – siehe Rußlanddeutsche. Inzwischen ist die Orthodoxie im Gebiet Kaliningrad keineswegs „dünn gesät“.