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Stefan Stiegler, baptistischer Dozent für Altes Testament

Der Unterschied zwischen Westlern und Ostlern

 

Wo bist du aufgewachsen? Was machten deine Eltern? Wo gehört ihr zur Gemeinde? Macht nur dein Bruder in Hannover Musik?

Meine Heimat ist Limbach-Oberfrohna, eine Kleinstadt am Fuß des Erzgebirges, 12 km westlich von Chemnitz, im Herzen von Sachsen. (Man hört's, wenn ich ins Erzählen komme!) Mein Vater (Maschinenbauingenieur) war viele Jahre Chorleiter und Gemeindeleiter, meine Mutter Sekretärin. Seit 1976 bin ich mit Elisabeth geb. Heinrich verheiratet und wir haben vier Kinder. Seit unserem Umzug von Greifswald nach Hoisdorf (bei Hamburg) 1991 - das war damals ein gewaltiger Einschnitt! - gehören wir zur Gemeinde Großhansdorf.

 

Mein Bruder Hartmut (der damals in der DDR kein Abi machen durfte) hat in Dresden Kirchenmusik studiert, dann in Berlin-Weißensee als Kantor gearbeitet. Weil es aber in unserem Bund ja keine hauptamtlichen Kantoren gibt, ist er nun in Hannover "Musik-Pastor" geworden. Ich wünschte mir er hätte mehr Zeit zum Komponieren!

 

Warum hast du dich nach der Pastorenausbildung in Buckow für ein theologisches Studium an einer DDR-Uni entschieden? Ich meine, du wärest auch so ein ganz guter Pastor geworden.

So, denkst du? Also die Sache ist sehr einfach: Weil mich die Theologie - vor allem die hebräische Sprache und das Alte Testament - so fasziniert und begeistert hatten, wollte ich gern noch ein bißchen weiterstudieren. Alle Versuche, das etwa in Rüschlikon zu tun, scheiterten an den DDR-Behörden. Dann ergab sich der Kontakt nach Halle/Saale zur Sektion Theologie (wie die Theologische Fakultät damals hieß), wo nicht nur Pietismusforschung getrieben wurde, sondern auch gelebter Glaube zu finden war. Mein Doktorvater Prof.Dr.Dr. Gerhard Wallis sagte am Ende des kleinen Empfangs, nachdem ich meine Dis­sertation verteidigt hatte, daß er sich freue in mir nicht nur einen willigen Studenten, sondern auch einen echten Bruder in Christus getroffen zu haben.

 

Wo hast du deine Liebe zum Alten Testament entdeckt? Bist du auch deshalb immer wieder in Nahost unterwegs?

Die kommt aus der Bibel - aus der Hebräischen Bibel. Hebräisch lernen zu dürfen war für mich eine unglaubliche Horizonterweiterung. Der Zutritt zum Orient gewissermaßen, zu einem ganz anderen "Way of Life". Der Erdgeruch des AT begeistert mich immer wieder. Hier reden Menschen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, hier wird geklagt und gejubelt, erzählt und getanzt. Nicht das "Ding an sich", sondern das "Ding für mich" ist im AT entscheidend. Und deshalb denke ich, muß das Neue Testament auch zuallererst aus dem AT, aus dem Judentum heraus erklärt werden. Deshalb bin ich beim AT gelandet. Daß ich auch ab und zu in den Nahen Osten reisen kann, hätte ich vor 10 Jahren nicht zu träumen gewagt!

 

Hast du dir ein bestimmtes Ziel oder Themengebiet für dein wissenschaftliches Arbeiten vorgenommen?

Leider komme ich im Moment nicht genug dazu. Die fantastische Möglichkeit, in Zusammenarbeit mit der University of Wales in Elstal nach sechs Semestern einen "Bachelor of Theology" verleihen zu dürfen, ist mit einer Menge Administrativem verbunden. Wenn möglich möchte ich in nächster Zeit noch mehr von der rabbinischen und jüdischen Auslegung der Tora, der Propheten und Schriften lernen, um das AT besser zu verstehen. Und ansonsten bereite ich Vorlesungen und Seminare hier für den Unterricht oft noch ganz neu vor - und das macht viel Arbeit, aber auch viel Freude.

 

Was fehlt den Gemeinden des BEFG? Wie würdest du gerne zur Abhilfe beitragen?

Wir hier im Westen leben ja in einer Werbe- und Erlebnisgesellschaft: Es steht in der Regel mehr auf der Verpackung drauf, als drin ist. Und: Hauptsache, es hat gefetzt, da war Action! Nur wer was Tolles erlebt hat, kann mitreden!

 

Ich wünsche mir für unsere Gemeinden, 1) daß wir Gäste in unseren Gottesdiensten nicht nur fragen, ob es ihnen gefallen hat, sondern auch ob sie das Evangelium verstanden haben. Theo Lehmann hat einmal gesagt: "Nach einer Predigt muß man nur zwei Fragen stellen: Hat sich einer bekehrt? und: Hat sich einer beschwert?" Wenn auf beide mit NEIN geantwortet werden muß, kann man die Predigt vergessen.

 

2) daß wir nicht in einer falschen Weise und ausschließlich marktorientiert arbeiten, sondern daß es uns gelingt, eine gute Balance hinzukriegen zwischen der Orientierung an der Bibel und an Herrn und Frau Meyer von nebenan.

 

3) daß wir in Zukunft Diakonie und Mission in guter Weise verbinden und uns auch nicht scheuen, politische Verantwortung zu übernehmen. Ich finde großartig, daß wir als Bund bei der Kampagne "Erlaßjahr 2000" mit von der Partie sind.

 

Und wie sehen die Gefahren eines management-orientierten Denkens aus?

Die Gefahr eines zu stark am Management orientierten Denkens liegt m.E. darin, daß die Gemeinde Jesu keine 'Organisation' ist, sondern ein 'Organismus'. Die entscheidenden Bilder der Bibel weisen darauf hin, daß wir es hier mit Wachstumsprozessen zu tun haben: Die Gemeinde ist der Leib Jesu, der Wein­stock, ein Haus aus lebendigen Steinen.

 

Im Management eines Konzerns kann nicht gewartet werden, bis jeder Mitarbeiter innerlich soweit ist, daß er die Entscheidung der Firmenleitung mittragen kann. In der Gemeinde Jesu aber sollte solange gebetet werden, bis Einmütigkeit (nicht Einstimmigkeit!) entsteht. Es gibt keinen Weg an der Tatsache vorbei, daß wir Wachstum und Gedeihen nicht machen können. Wir sollen pflügen und streuen - und uns damit begnügen. Daß das Evangelium jemandem "durchs Herz geht" (Apg. 2,37) kann nur ER bewirken; wir sollen dafür sorgen, daß es jedermann und jeder­frau zu Ohren kommt (Dtn 5,1; Mt 10,27; 28,19f).

 

Sicher können wir für die Arbeit einer Gemeindeleitung eine Menge aus dem Managment lernen, aber es kann niemals darum gehen, Managementregeln einfach in die Gemeindearbeit zu übernehmen. Denn die Rettung der Gemeinde Jesu liegt auch im 21. Jhd. nicht in der Hand der Unternehmensberater, sondern allein in der Hand Gottes.

 

Ist das Zusammenwachsen der Gemeinden in Ost und West besser gelungen als im Falle anderer "gesellschaftlicher Gruppierungen"? Stimmt es, daß die Ostdeutschen passiver und vorsichtiger seien als ihre westdeutschen Kollegen

Das Zusammenwachsen der Seminare Buckow und Hamburg ist jedenfalls sehr gut gelungen. Wir reden hier in Elstal gar nicht mehr von Ostlern und Westlern. (Die Ausdrücke "Ossi" und "Wessi" kann ich überhaupt nicht leiden!) Inwieweit das auf die Gemeinden zutrifft, vermag ich nicht zu sagen. Manche Gemeinden haben viele Kontakte, weil sie Partnergemeinden haben; andere sind ziemlich allein. Aber das gibt's wohl in Ost und West. Klar ist auch, daß sich die sozialistische bzw. kapitalistische Sozialisation auch eines Christenmenschen nicht so einfach abschütteln läßt. Manche Ostgeborenen werden schwer mit der sozialistischen Erziehung fertig, in der jede Eigeninitiative bestraft wurde, weil das systemgefährdend war.

 

Wer nur zum Mitmachen erzogen worden ist, dem fällt das Selbermachen schwer. Und manche Westgeborenen müssen sich wohl fragen lassen, welche Rolle das Geld wirklich im Leben eines Christen spielen darf und soll.

 

Man kann es vielleicht so erklären: Wenn ein Ostler in ein Restaurant kommt, fragt er erst einmal, ob er hier oder dort Platz nehmen darf, nach dem Motto: Alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, könnte verboten sein. Ein westlich soziali­sierter Mensch setzt sich einfach hin, nach dem Motto: Alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt.

 

Es gibt wohl heute weder den reinen Westler (abgesehen von den paar Württembergern, die noch nie aus ihrem Dorf herausgekommen sind) noch den reinen Ostler. In Ost und West gibt es Pfiffige und Schlafmützen. Wenn wir weiterhin aufeinander hören und uns Zeit nehmen, einander zu verstehen, dann wird das Miteinander auch weiter wachsen. Vor allem aber sollten wir miteinander auf IHN hören. Bei aller Orientierung am Management darf uns die Orientierung an Seinem WORT nicht verloren gehen, sonst sind wir als Gemeinden verloren.

 

Dr. William Yoder

Berlin, Dezember 1997

 

Erschienen in „Wort und Werk“ Nr. 12, Dezember 1997, 1.225 Wörter

 

Anmerkung von Oktober 2021: Später, von 2003 bis 2006, war Stefan Stiegler (geb. 1954) Rektor des baptistischen Seminars in Elstal (es gilt heute als Fachhochschule). Danach war er, bis zu seiner Emeritierung 2020, leitend tätig im „Albertinen-Diakoniewerk“ mit Sitz in Hamburg-Schnelsen.