Der Rechtsstaat kann damit leben, daß ein Schuldiger freigesprochen wird
Thilo Schmidt war 1997 Mitglied der Ev.-Freikirchlichen Gemeinde Berlin-Schöneberg, Hauptstr.
Hast du auch Erfolgserlebnisse?
Die schönsten Erfolge sind die Freisprüche.
Auch wenn dein Mandant in der Tat schuldig war?
Auch das mag vorkommen. Mir ist ein solches Fehlurteil aber lieber als ein andersgerichtetes Fehlurteil. Man darf nicht vergessen: Ziel eines Strafprozesses ist nicht die Wahrheitserforschung um jeden Preis, sondern die Wahrheitserforschung unter Einhaltung von prozessualen Spielregeln. Es darf jemand nur dann schuldig gesprochen werden, wenn das mit rechtsstaatlichen Mitteln möglich ist. Ein Strafverteidiger hat sich in erster Linie um seinen Mandanten zu bemühen, aber eben auch um die Einhaltung dieser Spielregeln.
Wie kommst du als Christ damit klar, daß Menschen, die dir schuldig erscheinen, freigesprochen werden? Steht die Gerechtigkeitsliebe nicht im Widerspruch zu den Versuchen von Anwälten, Mandanten etwa durch Hinweise auf Formfehler "den Kopf aus der Schlinge zu ziehen"?
Mich stört der Hinweis auf Formfehler. Form ist an sich nichts Schlechtes. Der Strafprozeß ist ein sehr formalisiertes Verfahren, aber damit sollen die prozessualen Spielregeln garantiert werden. Berufspflicht des Verteidigers ist es daher, auf Formfehler zu achten. Dabei geht es nicht um Winkelzüge, sondern um die Erreichung und Bewahrung von Rechtsstaatlichkeit. Das ist wichtig, weil der Eingriff der Strafjustiz in das menschliche Leben ganz erheblich sein kann.
Ich verteidige natürlich einen Mandanten, aber ich verteidige auch ein rechtsstaatliches System. Ich denke, ein Rechtsstaat kann sehr viel besser damit leben, daß ein Schuldiger freigesprochen wird, als daß ein Unschuldiger verurteilt wird. Es gibt im Strafprozeß so etwas wie eine prozessuale Wahrheit: Es darf ein Mensch nur verurteilt werden, wenn anhand der strengen rechtsstaatlichen Mittel die Schuld nachgewiesen werden kann.
Wenn man persönlich von der Schuld oder Unschuld eines Mandanten überzeugt ist und nur aus diesem Motiv für ihn kämpft oder nicht, läuft man Gefahr, die professionelle Distanz zu verlieren. Man muß sich seine eigene Urteilsfähigkeit bewahren. Wenn ich von der Schuld eines Mandanten überzeugt bin, fällt es mir natürlich schwer, ihn auf Freispruch zu verteidigen. Aber den Zweifelsgrundsatz - "Im Zweifel für den Angeklagten" - sollte auch innerlich für einen selber gelten.
Der klassische Konfliktfall - ein Mandant erzählt im Vertrauensverhältnis, "Ich bin es gewesen, aber hau mich hier raus," - kommt in der Praxis so gut wie gar nicht vor. Mandanten haben ihre subjektive Wahrheit, die sie auch ihrem Verteidiger präsentieren.
William Yoder
Berlin, Mai 1997
Erschienen etwa im Mai 1997 im "Aufbruch" Nr. 57, dem Gemeindebrief der EFG Berlin-Schöneberg, Hauptstr., 371 Wörter