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Der Streit unter Lutheranern im Teschener Land

Vor zwei Jahren ist in Bielsko-Biala (Bielitz) das neue evangelische Verlagshaus und Druckerei eröffnet worden.  Infolgedessen wurde das Monatsblatt der polnischen Lutheraner "Zwiastun" (Bote) vom Warschauer Konsistorium in das stattliche nagelneue Domizil nach Bielsko-Biala verlegt.  Eine Warschauer Lutheranerin wurde gefragt, ob die Verlegung gen Süden Indizien einer Machtverschiebung zugunsten des Teschener Landes sei.  "Dort saß die Macht schon immer!" schimpfte sie.  Allerdings sind derartige Machtverhältnisse verständlich: rund Dreiviertel der 80.000 polnischen Lutheraner befinden sich im Teschener Gebiet südlich von Kattowitz.  Doch eine weitere Machtzunahme der Hochburg ist wahrscheinlich: Vor drei Jahren wurde Jan Szarek aus Bielsko-Biala als leitender Bischof nach Warschau entsandt.

 

Es liegen nicht nur Hunderte von Kilometern, sondern auch theologische Welten zwischen Teschen (Cieszyn) und Warschau.  Während sich viele Warschauer auf das theologisch liberale westeuropäische Erbe berufen, ortet der Süden seine Wurzeln in den pietistischen Erweckungsbewegungen des 18. Jahrhunderts.

 

Doch selbst auf dem frommen Pflaster im Süden geht es nicht immer friedlich zu.  Theologisch konservativ sind sie alle, doch seit Jahren schwelt eine Auseinandersetzung zwischen "Traditionalisten" und evangelistisch-gesinnten Pietisten.  Anhänger der "Stiftung für Leben und Mission", denen die Pflege einer verfestigten Tradition überdrüssig geworden ist, haben ihre Fühler nach den Geschwistern im freikirchlichen Raum ausgestreckt.  Inzwischen zeigt das Wirkungen: Bei manchen Lutheranern hat die Hingabe zur Kindertaufe spürbar nachgelassen.  Dieser Umgang mit freikirchlichen Glaubensgenossen hat Lutheraner traditioneller Überzeugung auf die Barrikaden gerufen.  Seit Jahrzehnten ist die jährliche Zeltevangelisation in Dziegielow nahe Teschen ein Sammelpunkt aller polnischen Pietisten und Evangelikalen.  Doch für dieses Jahr ist der Stiftung die Schirmherrschaft genommen worden.

 

Vladislav Volny, Bischof der benachbarten "Schlesischen Evangelischen Kirche in der Tschechischen Republik" meint, der interkonfessionelle Charakter der Stiftung gereiche ihr zum Nachteil.  Zum eigenen Verein, der sich "Mission" nennt, versichert er: "Zum Glück beschränkt sich unsere Aktion auf Lutheraner.  Dadurch bleiben uns einige Verdächtigungen erspart."  Uns kann deshalb nicht vorgeworfen werden, lutherisches Gedankengut zu vernachlässigen.

 

Doch an sich geht es unter den schlesischen Lutheranern noch sehr viel weniger friedlich als jenseits der nahen Grenze in Polen zu.  Hinter der Abwahl des Bischofs Vilem Stonawski 1991 steckte ausgerechnet die pietistische Initiative "Mission."  Stonawski, der sich selbst unumwunden als "Traditionalist" bezeichnet, hatte nicht zuletzt auch mit dem Vorwurf zu tun, er sei Kollaborateur des verblichenen marxistischen Staates gewesen.  Als Stellvertreter des ab 1972 amtierenden Bischofs Vladislav Kiedron hatte Stonawski ohnehin nie einen leichten Stand.  Nicht als Ersterwählter der Kirche, sondern als Wunschkandidat des Staates, war der inzwischen verstorbene Kiedron in den Bischofsstuhl gehievt worden.  Doch ganz anders als im Falle des zurückgetretenen Bischofs Jan Michalko in der Slowakei kämpfte Stonawski nach der Wende äußerst verbissen um seinen Sessel.  Der abgewählte Bischof hatte das Pech, vor der "seidenen Revolution" zum Bischof gewählt, doch erst nach der Wende eingeführt zu werden.

 

Vor drei Jahren wurde Volny auf einer außerordentlichen Synode zum neuen Bischof gewählt, doch Stonawski und Teile von drei schlesischen Kirchengemeinden weigern sich bis heute, jene Wahl anzuerkennen.  In einem Falle bezahlen die Dissidenten für ihren Pastor unmittelbar aus der eigenen Tasche.  Stonawski versichert: "Ich bin zu allerlei Gesprächen bereit, doch zuerst muß ich wieder als Bischof anerkannt werden."

 

Seine konsequente Ablehnung hat dafür gesorgt, daß am Bischofssitz in Cesky Tesin mehrere Geister Regie führen.  Das Konsistorium am linken, südlichen Rande vom Kirchplatz gehört der offiziellen Kirche des Bischofs Volny an, doch das Pfarrhaus in der Mitte und die Kirche auf der rechten Seite stehen der Fraktion Stonawski zur Verfügung.  Das Pfarrhaus, nur einige Meter vom Konsistorium entfernt, wird weiterhin vom abgesetzten Bischof bewohnt.  Das Konsistorium steht der offiziellen Kirche nur deshalb zur Verfügung, weil die Schlösser in einer Nacht-und-Nebel-Aktion unter polizeilicher Aufsicht ausgewechselt worden sind.  Bischof Volny versichert: "Rechtlich steht eine Übernahme der [benachbarten] Kirche nichts im Wege, doch zusätzliches böses Blut wollen wir uns ersparen."  In dieser Kirche nebenan - die eigentliche Bischofskirche - läßt sich der amtierende Bischof nie blicken.

 

In der sozialistischen Tschechoslowakei spielte der Staat als Vormund für kirchliche Belange eine besonders unrühmliche Rolle, doch nun muß die Polizei weiterhin - wenngleich ungewollt - als Ordnungsmacht in Erscheinung treten.  Schon mehrmals mußte sie zur Schlichtung bei Konfrontationen zwischen den sich befehdenden Parteien - siehe Kirchenbesetzungen - ausrücken.

 

Auch in finanziellen Angelegenheiten besteht ein starker Bezug zur Vergangenheit: Noch stehen die Pastoren im Solde des Staates.  Bischof Volny meint, "Uns ist nicht ersichtlich, in welcher Weise wir schon in der nahen Zukunft für die Gehälter der Pfarrer aufkommen sollen."  Der neuen Kirchenleitung scheinen die Kosten der Freiheit nahezu untragbar.

 

Die Interventionen des Auslands haben bis dato wenig gefruchtet.  Tibor Görög, Genfer Europasekretär des Lutherischen Weltbundes, nennt Stonawskis Haltung "kompromißlos".  "Unser Standpunkt war, daß die Synode [die Bischofsfrage] entscheiden muß.  Wir von außen sollten nicht hineinreden." Stonawski erwidert: "Die Traditionalisten stehen zu mir, und das ist die wahre kirchliche Mehrheit.  Es ist eine Illusion zu glauben, daß die Synode die wirkliche Mehrheit vertritt."

 

Darauf meint Görög: "Wie kann man das sonst überhaupt feststellen?  Wir [als Weltbund] können keine Meinungsumfrage durchführen.  Wir haben auch sehr viele unterstützende Briefe aus den Gemeinden bekommen.  Alle lutherischen Kirchen der Welt erkennen die Neuwahl an.  Bischof Stonawski ist sehr isoliert: Von 21 Pastoren wird er nur von zwei Pastoren und einer Pastorin unterstützt."

 

Inzwischen sammelt der wackere Stonawski zum zweiten Mal Unterschriften.  Nach Görögs Angaben sei die erste Unterschriftenaktion besonders tückenreich ausgefallen: "Stonawskis Gruppe sagte damals [mit der Gründung des neuen tschechischen Staates Anfang 1993], daß alle Kirchen neu registriert werden müssen.  Viele Gemeindeglieder dachten, es handle sich um die Volny-Kirche, und sie haben unterschrieben. Sie wußten gar nicht, daß es um eine ganz andere Kirche geht."  Doch weil Stonawski beim ersten Versuch den Namen der bestehenden Kirche verwendet hatte, hatte der Staat wegen Namensgleichheit die Registrierung einer zweiten Kirche abgelehnt.

 

Wenn nun im zweiten Anlauf 10.000 - auch völlig unbeteiligte - tschechische Staatsbürger ihre Unterschrift dafür hergeben, könnte demnächst eine zweite schlesische lutherische Kirche entstehen.  Ihr Fortbestand nach dem Tode des gegenwärtig noch rentenlosen Pensionärs Stonawski wäre jedoch zweifelhaft: Einschneidende theologische Differenzen sind nicht im Spiele. Über 10.000 Mitglieder käme diese neue Kirche kaum hinaus.  Gegründet nach dem I. Weltkrieg als eine polnische Minderheitskirche innerhalb des neuen tschechoslowakischen Staates, verfügt die schlesische Kirche noch über rund 47.000 Mitglieder.

 

Dr. William Yoder

Evanston/USA, den 2. Mai 1994

 

Verfaßt für das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“ in Hamburg, 1.016 Wörter