Der Gesang auf der lutherischen Synode in Warschau Mitte April fiel durch seine tiefen Töne auf: Nicht einmal 10% der Synodalen sind Frauen. Es gibt immerhin ein paar evangelische Frauen, die Predigtaufgaben wahrnehmen, doch der Weg zur Ordination ist noch weit. Polnische Lutheraner nehmen eben eine Mittelposition ein: Sie stehen zwischen dem konservativen Katholizismus und dem liberalen Protestantismus des europäischen Westens.
Gerade diese Position macht sie für unzufriedene Katholiken verlockend. Barbara Engholc-Narzynska, Direktoren der polnischen Bibelgesellschaft, versicherte: "Freunde erzählen mir, daß sie sich einen Übertritt überlegen, denn bei uns geht es offener und demokratischer zu. In meiner Warschauer Gemeinde sind im vergangenen Jahr 25 oder 26 Personen konvertiert. Gemischte Ehen haben uns schon immer fertig gemacht, doch jetzt kommt es vor, daß Katholiken zu uns übertreten."
Evangelische Stellungnahmen u.a. zur Abtreibungsfrage weichen erheblich von denen des polnischen Episkopats ab. Deshalb spielen die Medien Stellungnahmen der protestantischen Kirchen gegen jene des Episkopats mit Vorliebe aus. "Wir meinen nicht, daß das schwerwiegende Problem der Abtreibung auf dem Wege des Strafrechts gelöst werden kann," beteuerte Bogdan Tranda, Pfarrer der reformierten Gemeinde Warschaus.
Vor zwei Jahren war die Angst vor einer Katholisierung der gesamten Gesellschaft groß. Deshalb ist seit den nationalen Wahlen im vergangenen Oktober das Aufatmen der Protestanten unüberhörbar. Dem freien katholischen Wähler ist das gelungen, was der verblichene atheistischen Staat niemals vermochte: dem polnischen Klerus die Grenzen seiner Beliebtheit aufzuzeigen. Bei den Oktoberwahlen wurden die national-katholischen Parteien, die treuesten Verfechter des Episkopats, aus den beiden Parlamentskammern abgewählt. Am Freiheitswillen der Massen scheitert das gesellschaftliche Vorhaben des Episkopats. Neue Gesetze wie das Abtreibungsverbot und das Gebot der Medien zur Verbreitung christlicher Werte stehen heute als Überbleibsel der abgewählten Regierung (Hanna) Suchocka im Raum.
Im vergangenen Juli, als das Klima für die katholische Kirche noch günstig war, wurde ein Konkordat zwischen dem Vatikan und der polnischen Regierung unterzeichnet. Der Vertrag ist aber von den beiden Häusern des Parlaments bis heute nicht ratifiziert. Dabei hat es das Episkopat eilig: Die Versuchung ist stark, seine Vorherrschaft noch vor weiteren Rückschlägen gesetzlich abzusichern.
"Die Gesellschaft ist pluralistisch geworden," resümierte Andrzej Wojtowicz, Direktor des Polnischen Ökumenischen Rates. "Damit hat die Kirchenhierarchie enorme Schwierigkeiten. Der säkulare Gedanke ist heute wesentlich stärker vorhanden." Nach Angaben der Zeitschrift "Christ in der Gesellschaft" geht heute kaum mehr als 10% der Warschauer Bevölkerung regelmäßig zur Messe.
Einige strittige Fragen haben sich immerhin geklärt: Über die Besetzung von evangelischen Kirchen durch Katholiken hat man sich bis auf sehr wenige Ausnahmen geeinigt. Der Streit um den Religionsunterricht ist ebenfalls geregelt. Doch in den Vorschulen schwelt der Streit weiter: Schon personell sind die rund 120.000 Protestanten außerstande, dem katholischen Unterricht etwas entgegenzustellen. "Es geht um mehr als nur das fehlende Personal," klärte Direktor Wojtowicz auf. "Wie kann man Kleinkindern erklären, daß sie nicht wie ihre Freunde das Marienbild verehren sollten? Das sind schwierige pädagogische Fragen. Hier in den Kindergärten könnte eine proselytische Arbeit geführt werden." Laut Wojtowicz ist keine Lösung dieses Problems in Sicht. Nicht einmal auf der Vorschulebene ist ein konfessionsübergreifender Unterricht möglich.
Nur der katholischen Kirche steht ein Konkordat zu, die restlichen Kirchen werden sich mit einem Kirchengesetz, das jede Kirche für sich mit dem Staat abschließt, begnügen müssen. Jan Szarek, Bischof der Lutheraner, erklärte: "Das Konkordat, eine internationale Abmachung, kann vom Parlament nur so angenommen werden, wie der Vatikan und der polnische Staat es vereinbart haben. Unsere Kirchengesetze dagegen können einseitig vom Staat verändert werden. Das ist eine Diskriminierung."
Die Kränkungen setzen sich fort. Zu den kirchlichen Feierlichkeiten anläßlich des 50. Jahrestages des Warschauer Aufstands wurden die Protestanten nicht geladen. "Offenkundig zählen die Opfer und das Blut der vielen nichtkatholischen Helden des Aufstandes nicht," schimpfte Bischof Szarek in seinem Rechenschaftsbericht auf der Synode.
Doch hier handelt es sich um zweitrangige Fragen. Ursachen für einen Glaubenskrieg sind sie gewiß nicht. Die panslawischen Träumereien des rechten russischen Nationalisten Wladimir Schirinowskij haben in Polen nur Unterhaltungswert. "Das sind orthodoxe Konzepte," versicherte Direktor Wojtowicz. "Allerdings sind die polnischen Katholiken sehr offen für den Gedanken einer `Evangelisierung' Europas. Doch darüber haben wir Protestanten andere Vorstellungen."
Polen ist ein zutiefst westliches Land. Über die Notwendigkeit einer uneingeschränkten Westintegration sind sich Katholiken und Protestanten im wesentlichen einig.
Dr. Bill Yoder
Evanston bei Chicago, 25. April 1994
Verfaßt für den „Evangelischen Pressedienst“ in Frankfurt/M., 700 Wörter