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Kirchliche Spannungen in Ex-Jugoslawien

Die in Ex-Jugoslawien vorhandenen Spannungen beschränken sich keineswegs auf das von Krieg heimgesuchtem Bosnien.  In Ostslawonien, ein an die Donau angrenzendes Gebiet Ostslawoniens, das Ende 1991 von serbischen Einheiten erobert worden ist, will das alltägliche menschliche Miteinander nicht einkehren.  In der Umgebung der zerstörten Stadt Vukovar, der faktischen Hauptstadt dieses Landstrichs, tragen manche Soldaten weiterhin Gesichtsmasken.  Obwohl vereinzelte evangelische Gemeinden bestehen, hat es weder der lutherische noch der reformierte Bischof aus der Wojwodina/Serbien bis heute gewagt, dieses serbisch-kontrollierte Gebiet, die Serben nennen es "Krajina", zu betreten.

 

Noch vor einem Jahr konnte in Dalj unweit der Front vor Osijek der orthodoxe Erzbischof Lukijan nahezu problemlos besucht werden.  Heute beschützen ihn Truppen aus der Privatarmee Arkans und kontrollieren seine Gäste.  Im Norden dieses Landstrichs hat Arkan, ein von Interpol gesuchter ehemaliger Bankräuber, ein eigenes Wirtschaftsimperium aufgebaut.  Im größeren Teil dieses Gebietes, das südlich von Vukovar liegt, hat sich die Elitetruppe des radikalen serbischen Politikers Vojislav Seselj in ähnlicher Weise etabliert.

 

Südlich von Vukovar in dem malerischen Städtchen Ilok weist die prächtige katholische Kirche neue Schrammen auf.  Im vergangenen Jahr ist sie dreimal mit Granaten und Raketen beschossen worden.  Nachdem die Kirchentore abgesprengt worden waren, ersetzte sie Pater Marko mit einem Betonklotz, der dem Aussehen nach auch einem Panzer standhalten würde.  Schon jetzt zeigt der Betonklotz Einschußlöcher auf.

 

Für diese Vorfälle hat Martin Chovan, der methodistische Superintendent von Novi Sad/Wojwodina, eine Erklärung parat: "Ich habe Verwandte in Ilok, und sie haben versichern können, daß diese Kirche z.Zt. des Krieges um Vukovar als Waffenlager der Ustasche gedient hatte." "Unsinn," erwiderte ein baptistischer Nachbar.  "Diese Begründung gibt es immer wenn Kirchen von irgendeiner Seite beschädigt werden."

 

Die Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft in Ex-Jugoslawien sind eben kaum übersichtlicher als die generelle politische Lage.  Erst nachdem im Februar 1993 die orthodoxe Kapelle in Osijek mit Spenden der katholischen Caritas und der pfingstlerischen Agape saniert worden war, flogen die Reste der großen Mutterkirche in Osijek-Süd, der "Kirche der Heiligen Gottesmutter", in die Luft.

 

Ein zweiter, jüngerer Bischof Lukijan hat in einem Interview das Leben der Serben in Kroatien dem Leben im KZ gleichgestellt: "Nur der kann die Lage verstehen, der jemals in einem nazistischen oder stalinistischen Lager gewesen ist.  Die serbischen Orthodoxen leben in der Republik Kroatien wie in einem KZ."

 

Nichtsdestotrotz kehrte der Zagreber Metropolit Jovan am 27. Januar lange genug in seine Heimatstadt zurück, um die kroatische Staatsbürgerschaft annehmen zu können.  Seit Kriegsausbruch hatte sich der rastlose Metropolit ausschließlich in Serbien und Slowenien aufgehalten.  "Merkwürdig," klagte der streitbare Zagreber Pensionär und Priester Jovan Nikolic. "Der Metropolit hatte drei Bedingungen für den Fall einer Rückkehr gestellt: Eine davon hieß, daß alle zerstörten Kirchen wiederhergestellt seien.  Doch nur wenige Monate danach ist er bereits kroatischer Staatsbürger."

 

"Ein gutes Zeichen," versicherte Dr. Milorad Pupovac, der sanftmütige Leiter des "Serbischen Demokratischen Forums" in Zagreb.  "Vielleicht wollte der Metropolit zurückkehren, um zur Schaffung besserer Bedingungen selbst mit beitragen zu können.  Wenn er dadurch motiviert ist, dann ist sein Kommen nur zu begrüßen.  Viele von uns wünschen, er hätte diesen Schritt schon viel früher unternommen.  Es heißt jedoch auf Englisch: `Better late than never.'"

 

Nikolic empört sich ferner über die weihnachtliche Ausgabe der in Hildesheim erscheinenden Zeitschrift "Crkva" (Kirche).  Darin wird in einem Gedicht die Eroberung des Krankenhauses von Vukovar durch serbische Truppen 1991 als heldenhafte Befreiung dargestellt.  Nach kroatischen Angaben sind jedoch mehr als 200 Verletzte aus diesem Krankenhaus bis heute unauffindbar.  Da ist sich Pupovac mit Nikolic einig: "In diesem Kriege sind Opfer und tragische historische Ereignisse massiv mißbraucht worden.  Solche Gedichte sind sinnlos.  Leider haben manche Leute die christlichen Prinzipien vergessen.  Die Kirchenführungen sollten dafür kritisiert werden, daß sie den propagandistischen Mißbrauch historischer Tragödien durch Priester geduldet haben."

 

Über das Wirken des serbischen Patriarchen Pavle scheiden sich die Geister.  Die orthodoxe Zeitung "Srbobran" aus Pittsburgh/USA hob lobend hervor, daß im vergangenen Sommer in Pale in Anwesenheit des Patriarchen eine historische Fahne an den bosnischen General Mladic überreicht worden sei mit den Worten: "Mit Dankbarkeit für Ihre Siege."  "Das sind atavistische Impulse," wetterte Nikolic.  "Das alles kommt vom Teufel!"

 

Hingegen behauptete der orthodoxe Belgrader Publizist Zivica Tucic: "Nein, der Patriarch hat nie an irgendwelchen militärischen Paraden oder Feiern teilgenommen.  Es gab wirklich keine Fahnenübergabe, garantiert nicht."

 

Bei derselben sommerlichen Fahrt war Pavle auch nach Banja Luka gelangt.  In Sarajevo meinte der Franziskanerpater Ljubo Lucic hierzu, "Der Patriarch hätte nie nach Banja Luka fahren dürfen.  Es ist eine große Schande sich nach Banja Luka zu begeben, nachdem sämtliche Moscheen zerstört worden sind."

 

Da erwiderte Tucic: "In Banja Luka hat der Patriarch öffentlich die Zerstörung der Moscheen aufs Schärfste verurteilt.  Jede Zerstörung ist zu verurteilen; in der Herzegovina wurden berühmte orthodoxe Klöster zerstört.  Ich befürchte, die Religionsgemeinschaften haben eben nicht viel dagegen unternehmen können."

 

Der katholische Erzbischof von Belgrad, Franjo Perko, fügte hinzu: "Natürlich ist der Patriarch gegen Zerstörungen.  Aber auch die serbische Kirche führt diesen Plan eines Großserbiens mit aus.  Dieser Plan ist die Grundlage von allem, das geschehen ist."

 

Zur generellen Lage führte Perko fort: "Regierung und orthodoxe Kirche behaupten, das alles in Ordnung sei.  Es gibt ja offiziell keine Verfolgung hier.  Es ist alles viel unterschwelliger: Die Atmosphäre richtet sich eben gegen Katholiken und Kroaten.  Dreiviertel der Katholiken Belgrads hat diese meine Diözese bereits verlassen."

 

Zum päpstlichen Wunsch nach einem Besuch in Belgrad meinte das Oberhaupt aller in Serbien lebenden Katholiken: "Die Absage der Orthodoxen an einem Besuch durch den Papst war für mich keine Überraschung.  Ich wünsche mir diesen Besuch, fürchte ihn aber auch, denn die Mentalität der Leute ist sehr antikatholisch und antipäpstlich ausgerichtet."

 

Zwischen Kroatien und Serbien sind sich nicht einmal die Lutheraner einig.  Nach Angaben von Andrej Beredi, dem Bischof der slowakisch-sprechenden lutherischen Kirche der Wojwodina, kam die kroatische Delegation im Januar zu einer Konferenz nach Beuggen/Württemberg mit der festen Absicht, sich dem Gespräch mit den Glaubensgeschwistern aus Serbien zu verweigern.  "Dank dem Verhandlungsgeschick von Karl-Christian Epting [Gustav-Adolf-Werk] kam das Gespräch doch zustande," erzählte der Bischof in Novi Sad.  "Die Konferenz konnte mit Abendmahl und einer gemeinsamen Resolution abgeschlossen werden."

 

In Beuggen ist Endre Langh - manche nennen ihn "Bischof" der kroatischen Reformierten - nicht einmal erschienen.  Seine Bemühungen, in Kroatien eine selbständige reformierte Kirche zu etablieren, stoßen auf den Widerstand der ethnisch-ungarischen reformierten Mutterkirche in der Wojwodina.

 

Nicht zuletzt gehen auch über Sanktionen die Ansichten auseinander: In Novi Sad holte Bischof Beredi die Kirchenbücher hervor um zu belegen, daß er im vergangenen Jahr bei 34 Beerdigungen amtiert hätte.  Der alte Durchschnitt lag bei 18 Beerdigungen jährlich.  "Diese sind die Opfer westlicher Sanktionen," betonte der Bischof.  "Der Westen ist für diese Todesfälle schuldig, nicht Milosevic.  Jesus hätte anders gehandelt."

 

Hingegen versicherte Senior Vlado Deutsch, Oberhaupt der kroatischen Lutheraner, in Zagreb: "Da Bischof Beredi Angst hat, versuchte er auch in Beuggen eine Resolution gegen westliche Sanktionen durchzusetzen.  Er ist abermals gescheitert."

 

William Yoder

Berlin, den 12. März 1994

 

Verfaßt für das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“ in Hamburg, 1.005 Wörter

 

Notiz von Januar 2021: Patriarch Pavle (1914-2009) war serbischer Patriarch von 1990 bis zu seinem Tode. Der slowenische Katholik Franjo (oder Franc) Perko (1929-2008) war von 1986 bis 2001 Erzbischof von Belgrad. Milorad Pupovac, der Zagreber Professor und Politiker serbischer Herkunft, ist 1955 geboren. Karl-Christoph Epting (geb. 1940) war Präsident des Leipziger „Gustav-Adolf-Werks” von 1992 bis 2003. Der Belgrader Publizist Zivica Tucic lebte von 1952 bis 2015. Vlado Deutsch und Andrej Beredi sind ebenfalls verstorben. Lukian (Vladulov), geb. 1933, wurde im Mai 1991 der orthodoxe Bischof in Dalj und der weiteren Umgebung. Er verstarb 2017 im Amt.

 

Laut Wikipedia waren zwischen August und November 1991 allein in Dalj über 100 Kroaten ermordet worden. Der serbische Freischärler Arkan (Zeljko Raznatovic), geb. 1952, wurde Anfang 2000 in Belgrad ermordet. Der 1954 geborene Vojislav Seselj verbrachte die Jahre 2003-16 in Den Haag in Haft.